Zusammenfassung
Die Konfliktträchtigkeit einer neuen offensiven Handhabung des Hammelsprungs in der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages zeigte sich in der Reaktion des Sitzungspräsidiums auf eine Rüge der AfD-Fraktion hinsichtlich der Beschlussfähigkeit des Bundestages und der damit zusammenhängend beantragten Durchführung eines Hammelsprungs nach § 45 Abs. 2 GOBT in seiner Nachtsitzung vom 27. auf den 28. Juni 2019. Ausgelöst durch die kontrafaktische Feststellung der Beschlussfähigkeit des Plenums (anstelle der notwendigen über 350 Abgeordneten waren erkennbar weniger als 100 Mandatsträger anwesend) durch das Sitzungspräsidium und die Bestätigung dieser Entscheidung durch den von der AfD-Fraktion angerufenen Ältestenrat des Bundestages (Deutscher Bundestag 2019), beantragte die AfD-Fraktion erfolglos eine einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht, um die Gegenzeichnung, Ausfertigung und Verkündung im Bundegesetzblatt der trotz der behaupteten Beschlussunfähigkeit verabschiedeten Gesetze durch den Bundespräsidenten zu verhindern.
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Notes
- 1.
BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17.9.2019 – 2 BvQ 59/19 – Rn. 1-22, http://www.bverfg.de/e/qs20190917_2bvq005919.html; allerdings ohne Ausführungen des Gerichts zum Hammelsprung.
- 2.
Zu den engen Voraussetzungen einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung von GOBT Entscheidungen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. m. § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfG vgl. zuletzt BVerfG 2BvE 4/14 vom 3.5.2016.
- 3.
Hicks 2019, S. 5: „the exit [sic!] doors are opened, and the counting process begins […] Members vote by walking through one of two lobbies […]. At the exit [sic!] doors, the Members voting are counted by the tellers.“
- 4.
Strasser/Sobolewski 2018, S. 76, und Weber 2019, S. 696.
- 5.
Schreiner 1989, § 18 Rn. 51, S. 606.
- 6.
Hammelsprung 2012, S. 220 sowie Hammelsprung 1977, S. 9 und S. 95.
- 7.
Im Falle der Feststellung der Beschlussfähigkeit nach § 45 Abs. 2 GOBT sowie beim Antrag auf Zurückweisung eines Einspruchs des Bundesrates nach § 91 GOBT handelt es sich bei der Durchführung des Hammelsprungs nicht um ein eigenes Abstimmungsverfahren, sondern um Anwendungsfälle der auch sonst bestehender Verfahren nach §§ 51 und 52 GOBT. Als hier nicht weiter zu beachtender Sonderfall gilt die Abstimmung mit Namensstimmzetteln und der gewünschten Ortsangabe im Verfahren bei der Auswahl des Sitzes einer Bundesbehörde nach § 50 GOBT.
- 8.
Wobei im Falle der Feststellung der Beschlussfähigkeit nach § 45 Abs. 2, S. 1 GOBT der Hammelsprung eine Nachzählung erübrigt.
- 9.
Die hier und folgend verwendete männliche Form entspricht dem Wortlaut der Geschäftsordnungen.
- 10.
Verhandlungen des Reichstags/Stenographische Berichte, 2. Legislaturperiode, I. Session 1874, Bd. 2, S. 681 f.
- 11.
Verhandlungen des Reichstags/Stenographische Berichte, 2. Legislaturperiode, I. Session 1874, Bd. 2, S. 684.
- 12.
Vgl. Reichstagsabgeordneter Hans Victor von Unruh, ebd. S. 681 f. und Reichstagsabgeordneter Friedrich Graf von Frankenberg, ebd., S. 683; sowie die Darstellung bei Zähle, 2007, S. 284 f.
- 13.
In der politikwissenschaftlichen Diskussion wurden „die Tage des Hammelsprungs (als) gezählt“ beurteilt, weil ein elektronisches Votum im Bundestag als unmittelbar bevorstehend angesehen wurde (Jäckel 1970, S. 190). Zur Diskussion im Deutschen Bundestag vgl. dazu oben Kapitel 2.3. Ohne Erfolg aufgegriffen wurde der Gedanke einer elektronischen Abstimmung später nochmals durch den FDP-Abgeordneten Joachim Spatz, BayLT, PlPr 12/87 vom 22.4.1993, S. 5851 (vgl. unten Anhang 3.2).
- 14.
Im House of Commons hingegen dauert die gesamte „division“ inklusive der Ergebnisverkündung nur etwa 15 Minuten; House of Commons 2020.
- 15.
Michael F. Feldkamp, Onlineausgabe des Datenhandbuches zur Geschichte des Deutschen Bundestages (seit 1990), Kapitel 7.15, S. 3: https://www.bundestag.de/resource/blob/196290/396d3e19dc88b2d0b470b99ffc0b5e35/Kapitel_07_12_Hammelsprung-data.pdf (abgerufen am 30.12.2020). Vgl. auch oben Kapitel 2.2.4.
- 16.
Reichstagsabgeordneter Adolf Gröber, im Reichstag am 24.5.1897, zit. nach Jungheim 1916, § 56, S. 207; zur verneinten Frage einer Mitwirkungspflicht beim Hammelsprung vgl. Zähle 2007, S. 283.
- 17.
Vgl. Hatschek 1915, S. 71; vgl. auch die sehr atmosphärische Darstellung bei Lambach 1926, S. 107.
- 18.
Vgl. GOBT § 45 Abs. 2; vgl. hierzu auch das von der AfD-Bundestagsfraktion angestrengte Verfahren vor dem BVerfG wegen der Beanstandung einer nicht überprüften Beschlussfähigkeit durch das Sitzungspräsidium des Bundestages.
- 19.
Auch die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags kennt in § 41 Abs. 6 eine 30-minütige Überlegungspause, ohne allerdings darüber hinaus auch das Instrument des Hammelsprungs anzuwenden.
- 20.
Die beengten, teils als unzumutbar empfundenen Platz- und Arbeitsverhältnisse stellten ein Kontinuum des deutschen Parlamentarismus dar. So extrem wie für die Nationalversammlung in der Paulskirche 1848/49, wo nicht einmal dem Präsidenten ein eigenes Sprechzimmer zur Verfügung stand, blieb es nicht; aber selbst im 1894 am Berliner Königsplatz eingeweihten Reichstagsgebäude wurden erst 1912 einhundert kleine Büroräume eingerichtet, die sich die knapp 400 Abgeordneten teilen; vgl. Deutscher Bundestag 2020.
- 21.
BayLT, Drs. 16/37 (erstmals mit der Ergänzung „nach Ablauf von drei Minuten“; für den Wortlaut vgl. unten Anhang 3.4); 14/5 (vgl. unten Anhang 3.4); 13/8216 (vgl. unten Anhang 3.3); 12/7341 (vgl. unten Anhang 3.1).
- 22.
So beschwerdeführend der Abg. Harald Güller (SPD), BayLT, PlPr 16/5 vom 13.11.2008, S. 125; vgl. auch unten Anhang 3.7.
- 23.
Abg. Thomas Kreuzer (CSU); BayLT, PlPr 16/5 vom 13.11.2008, S. 124. vgl. auch unten Anhang 3.7.
- 24.
Abg. Tanja Schweiger (FW), „Hinsichtlich der weiteren Anträge schließe ich mich Herrn Güller an“. BayLT, PlPr 16/5 vom 13.11.2008, S. 128; vgl. auch unten Anhang 3.7.
- 25.
BayLT, PlPr 16/5 vom 13.11.2008, S. 134; vgl. auch unten Anhang 3.7.
- 26.
Morlok 2006, Art. 43 Rn. 9, mit weiteren Nachweisen; Plöhn 2013, Registerstichwort „Ausschüsse“.
- 27.
Z. B. 1977 BVerfGE 44, 308 (319); 1989 BVerfGE 80, 188 (221 f.); dabei wird in bemerkenswert einhelliger Zustimmung der Einordnung des Bundesverfassungsgerichts zur Bedeutung der Ausschussarbeit beigepflichtet; vgl. Versteyl 2012, Art. 43 Rn. 24; Winkelmann 2016, S. 763, § 23 Rn. 18.
- 28.
Wortlaut Abs. 4: „Die Abgeordneten sind Vertreter aller Berliner. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“.
- 29.
So der Abgeordnete Hans-Günther Schramm (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN).
- 30.
Oberreuter 2013, S. 112, hält den Bundestag für eine Mischform der Parlamentstypen „Redeparlament“ (britisches Unterhaus) und Arbeitsparlament (US -Kongress).
- 31.
Kremer 1982, S. 27; Dichgans 1964, S. 5 f.; Rose/Hofmann-Göttig 1982, S. 69 f. Die aktuelle einhellige herrschende Meinung in der Grundgesetz-Kommentierung sieht keine bindende Verpflichtung zu einer Plenarpräsenz; vgl. z. B. Magiera 2018, Art. 38 Rn. 72; Müller 2018, Art. 38 Rn. 93, Trute 2012, Art. 38 Rn.79a; Klein 2010, Art. 38, Rn. 222; Roth 2002, Art. 38 Rn. 119.
- 32.
Zur Funktion der Öffentlichkeit der Plenarsitzungen vgl. Schäfer 1982, S. 209 mit weiteren Nachweisen.
- 33.
Dass die Befürchtung nicht ohne konkreten Hintergrund besteht, zeigen die zum Teil massiven Rechtebeschränkungen für die Parlamente im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Die Geschäftsordnung des Bayerischen Landtages wurde z. B. durch einen neuen § 193a wie folgt geändert: „Das Ergebnis der Abstimmung wird […] als richtig unterstellt. Ein Hammelsprung findet insoweit keine Anwendung.“ Vgl. BayLT, Drs. 18/7155.
- 34.
BT-PlPr 8/225 vom 25.6.1980, S. 18287 B. Bemerkt sei, dass in der 8. Wahlperiode Präsident Stücklens CDU/CSU-Fraktion in der Opposition war.
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Berg, HJ., Feldkamp, M.F. (2021). Abstimmungsverfahren oder Auszählungsinstrument? – Vorschläge zur Reform des Hammelsprungs. In: Hammelsprung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33135-1_3
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