Zusammenfassung
Die spektakulären Bilder von Menschen in reflektierenden Sicherheitswesten, die sich selbst Gelbwesten nannten (ich werde sie mit GW abkürzen) und Samstag für Samstag auf den Champs-Élysées der Polizei trotzten, die ihrerseits bisweilen von Schlägern überrannt wurde, welche sich am Stadtmobiliar austobten und einmal sogar plündernd in das Mahnmal des Arc-de-Triomphe einbrachen, haben die Dauernachrichtenkanäle überflutet und sind um die ganze Welt gegangen. Auch die Bilder von Präsident Macron, wie er sich in stundenlangen (zwei bis acht Stunden) Frage-Antwort-Marathonsitzungen einem breiten Publikum stellt, wurden stark mediatisiert. Im Publikum waren Bürgermeister, gewählte Volksvertreter, junge Auszubildende, Kinder, Frauen, Bewohner bestimmter Regionen oder bestimmter Stadtviertel, Vereine und Verbände, Akteure des ökologischen Wandels und Intellektuelle.
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Notes
- 1.
Ich war Mitglied des Observatoire des débats, einer gemischten Forschergruppe aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die die Große Nationale Debatte (GND) untersucht hat, insbesondere die verschiedenen Vorkehrungen, die darauf abzielten, die individuellen oder kollektiven Auffassungen der Franzosen zu erfassen. Gemeinsam mit etwa dreißig anderen Forschern konnte ich außerdem alle Sequenzen des Bürgerkonvents für das Klima beobachten. In beiden Fällen kommen die beteiligten Forscher aus unterschiedlichen Fächern, Soziologie, Politikwissenschaften, Geografie, Ökonomie, Philosophie. Die verwendeten Methoden reichen von quantitativ ausgewerteten Fragebögen, die an die Teilnehmer verteilt wurden, über qualitativ ausgewertete Gespräche aus unterschiedlichsten Perspektiven mit Organisatoren und Teilnehmern, bis hin zur Beobachtung verschiedener Debatten. Bisher sind nur sehr wenige empirisch gehaltvolle und wissenschaftlich anspruchsvolle Arbeiten über diese beiden sehr reichhaltigen Ereignisse veröffentlicht worden. Zur GND siehe Buge und Morio (2019), zum Bürgerkonvent für das Klima siehe das Dossier in Sève (2020).
- 2.
Dem Präsidenten und der französischen Regierung wurde vorgehalten, sich um das Ende der Welt zu sorgen, während ein Teil der Bevölkerung finanziell mit dem Monatsende zu kämpfen hat. Auf diese ursprüngliche Artikulierung spielt der genannte Slogan an (Anm. d. Übers.).
- 3.
In Frankreich im Rahmen der Umsetzung des EU-Forschungsprogramms Horizon 2020, siehe https://www.horizon2020.gouv.fr/cid74429/science-avec-pour-societe.html (d. Übers.).
- 4.
Das Gehalt des Präsidenten der Republik beträgt monatlich 15.140 €, genauso viel wie das des Premierministers. Das Gehalt der Präsidentin dieser unabhängigen Verwaltungsbehörde belegt den neunten Rang unter den 26 Verwaltungsposten mit Spitzengehältern. Das Gehalt der Präsidentin der CNDP umfasst 5 % der jährlichen Ausgaben der Behörde. Damit befindet sich die Einrichtung auf dem fünften Rang im Vergleich zu den anderen Behörden. Diese hohen Gehälter wurden bereits 2017 in einem Bericht des Rechnungshofes kritisiert: https://www.ccomptes.fr/fr/publications/les-politiques-et-pratiques-de-remuneration-des-autorites-administratives-et-publiques.
- 5.
Eine Darstellung der GND und das Repertoire der eingegangenen Antworten auf die im Rahmen der Debatte gestellten Fragen finden sich unter: https://granddebat.fr/.
- 6.
Dieser Steuerungsgruppe wurden mehr als 104 Departementalsreferenten beigeordnet. Zahlreiche Analysten wurden außerdem zur Auswertung des Materials hinzugezogen.
- 7.
- 8.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt werden diese Bürgerhefte in den 101 Departementalarchiven gesammelt und geordnet. Eine Digitalisierung und umfassende Analyse würden mehrere Millionen Euro verschlingen. Erste Zusammenfassungen über die Bürgerhefte wurden zum Beispiel von Bürgermeisterverbänden vorgelegt.
- 9.
Siehe https://granddebat.fr/ Es folgen weitere Prinzipien, die hier nicht vorgestellt werden, da sie den Rahmen des Beitrags sprengen würden.
- 10.
Siehe zu den „Europäischen Bürgerkonferenzen“ https://www.touteleurope.eu/index.php?id=588. Dieser Vorschlag des französischen Präsidenten führte in den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union lediglich zu 1700 Veranstaltungen (davon 1082 in Frankreich).
- 11.
Bernard Reber (i.E./2021): „ Les vertiges de la démocratie. Le (trop) Grand débat national“ beschreibt und analysiert die Kreativität, mit der diese lokalen Initiativtreffen sich entfalteten und die Art und Weise, wie sich die Bürger gegenseitig ansprachen.
- 12.
Das eingegangene Material und die Zusammenfassungen finden sich hier: https://granddebat.fr/pages/syntheses-du-grand-debat.
- 13.
Der Bericht kann hier heruntergeladen werden: https://www.lecese.fr/sites/default/files/pdf/Avis/2019/2019_06_fractures_transitions.pdf (d. Übers.).
- 14.
Die Stellungnahme des Autorenkollektivs in Le Monde, die aus ihrer Sicht die Bedingungen für einen Erfolg der Initiative des Präsidenten definiert, findet sich hier: Le Monde (13.04.2019): Les conditions de réussite de l’initiative présidentielle, https://www.lemonde.fr/idees/article/2019/04/13/cyril-dion-le-grand-debat-ce-n-etait-pas-vraiment-de-l-intelligence-collective_5449646_3232.html. In einer Reaktion auf diesen Text äußert eine der Unterzeichnerinnen kategorisch und einseitig in Le Monde: Wir legen los, egal wie die Antwort der Regierung ausfällt. Wir haben die ersten finanziellen Mittel, wir haben die Methode, wir sind bereit (13.04.2019), https://www.lemonde.fr/politique/article/2019/04/13/un-collectif-appelle-a-la-creation-d-une-assemblee-citoyenne-de-gilets-citoyens_5449760_823448.html.
- 15.
Er hat sich bei mehreren Gelegenheiten damit gebrüstet, zusammen mit der Schauspielerin Marion Cotillard vom Präsidenten der Republik eingeladen worden zu sein. Cotillard unterstützt ebenfalls die „Jahrhundertaffäre“.
- 16.
Dabei handelt es sich um den Versuch einer Interessengruppe, mit den Mitteln der internationalen Justiz gegen Frankreich und die französische Regierung wegen Nichteinhaltung der von Frankreich unterzeichneten internationalen Abkommen zum Klimaschutz vorzugehen (d. Übers.). Siehe https://laffairedusiecle.net/qui-sommes-nous/.
- 17.
Während einer Vollversammlung fragte einer der beteiligten Bürger, ob es nicht möglich sei, die Mitglieder des Steuerungsgremiums durch Los zu bestimmen. Dieser Vorschlag wurde nie aufgegriffen.
- 18.
Mindestens fünf Projektmanager (chargés de missions) wurden engagiert und spielten wichtige Rollen bei der Umsetzung des Auftrags.
- 19.
Die Mitglieder des Konvents stimmten nur über die Maßnahmenbündel, nicht über einzelne Maßnahmen, ab. Dies wurde zum Problem, wenn einzelne Mitglieder nicht mit allen Maßnahmen in einem Maßnahmenbündel, oder mit den Vorschlägen für ihre konkrete Umsetzung, einverstanden waren. Einige Mitglieder verlangten deshalb ein „Recht auf Distanz“, das ihnen aber nicht gewährt wurde.
- 20.
Es gab eine Gruppe, die mit transversalen Problemen beauftragt war (l’Escouade) und aus Personen bestand, die aus den verschiedenen thematischen Arbeitsgruppen entweder per Los bestimmt oder ausgewählt worden waren. Sie arbeitete einige Zeit an Finanzierungsfragen und der Verfassungsreform, bevor sie wieder aufgelöst wurde. Eine von vielen Teilnehmern geteilte Beschwerde war, dass diese Themen vom gesamten Konvent bearbeitet werden sollten, auch wenn die Aufgabe der Gruppe eigentlich nur darin bestand, die Probleme zu entflechten und zu ordnen.
- 21.
Man muss nicht extra betonen, dass die teilnehmende Beobachtung und Analyse zeigen werden, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen diese Zielsetzungen (nicht) realisiert worden sind. Verschiedene Veröffentlichungen von Forschern, die diese Veranstaltung in aller Breite beobachtet haben, stehen bevor.
- 22.
Mehrmals fanden im Bürgerkonvent Abstimmungen nach unterschiedlichen Verfahren statt. Wegen des beschränkten Platzes kann ich hier nicht näher darauf eingehen. Sie sind aber auch weniger interessant als der eigentliche Prozess und das, was als Deliberation stattfand. Man könnte fragen, warum so viel Zeit aufgewendet wurde, wenn es doch nur darum ging, abzustimmen.
- 23.
Die Unterzeichner des oben erwähnten Appells schätzten das nötige Budget auf 1 Million Euro, siehe den Artikel in Le Monde (13.04.2019): https://www.lemonde.fr/politique/article/2019/04/13/un-collectif-appelle-a-la-creation-d-une-assemblee-citoyenne-de-gilets-citoyens_5449760_823448.html.
- 24.
In Reber (2020b) findet sich eine vertiefte Analyse der Beiträge des Rechtsausschusses und der „ungefilterten“ Übernahme der Vorschläge durch die Regierung, und auch, wie das Recht durch die Demokratie auf die Probe gestellt wird, in Anlehnung an Jürgen Habermas’ (1992, 1997) Buch: Droit et démocratie (dabei handelt es sich um die französische Übersetzung von Habermas (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, Anm. d. Übers.).
- 25.
Seine Zusammensetzung hat sich mindestens dreimal während des Konvents gewandelt. Delphine Hédary, Conseil d’Etat, als Koordinatorin, Marine Fleury, Hochschuldozentin, und drei Beamte des CESE, Serge Péron, Jean-Baptiste de Francqueville, Samuel Charlot; dann, je nach Phase, Loise Leloup-Velay (CESE), Didier Guédon, Cour des Comptes, schließlich mit Mitgliedern der Unterstützergruppe: Julien Vieau, Ministerium für den ökologischen und solidarischen Umbau, Sébastien Treyer, Iddri und Bérengère Mesqui, France Stratégie.
- 26.
Zum Vergleich, die Aufwendungen für externe Experten und die Entschädigung für die Unterstützergruppe betrugen 1,8 % des Budgets.
- 27.
Siehe die Stellungnahme des Präsidenten, unter https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2020/06/29/le-president-emmanuel-macron-repond-aux-150-citoyens-de-la-convention-citoyenne-pour-le-climat.
Literatur
Buge, Eric / Morio, Camille (2019): Le Grand débat national, apports et limites pour la participation citoyenne, in: Revue de droit public, N° 5/2019, S. 1205–1238.
Dryzek, John S. et alii (2019): The crisis of democracy and the science of deliberation. Citizens can avoid polarization and make sound decisions, Science, Vol. 363, N° 6432, S. 1144–1146.
Habermas, Jürgen (1997): Droit et démocratie. Entre faits et normes, (1992), Paris: Gallimard.
Parkinson, John / Mansbridge, Jane (Hrsg.) (2012): Deliberative Systems. Deliberative Democracy at the Large Scale, Cambridge, MA: Cambridge University Press.
Reber, Bernard (2005): Technologies et débat démocratique en Europe. De la participation à l’évaluation pluraliste: Revue Française de Science Politique, Vol. 55, N° 5–6, S. 811–833.
Reber, Bernard (2011a): La démocratie génétiquement modifiée. Sociologies éthiques de l’évaluation des technologies controversées, collection Bioéthique critique, Québec: Presses de l’Université de Laval.
Reber, Bernard (2011b): Argumenter et délibérer entre éthique et politique, in: Reber, Bernard (Hrsg.), Vertus et limites de la démocratie délibérative, Archives de Philosophie, Band 74, S. 289–303.
Reber, Bernard (2016): Precautionary Principle, Pluralism, Deliberation. Science and Ethics, Londres: ISTE-international, New York: Wiley. Auch auf Französisch erschienen: La délibération des meilleurs des mondes. Entre précaution et pluralisme, 2017.
Reber, Bernard (2020a): Critique, participation, et démocratie: Et si on demandait l’avis des citoyens?, Eco-ethica, Vol. 8, S. 141–154.
Reber, Bernard (2020b): Précaution et innovations démocratiques. In: René Sève (Hrsg.), Le principe de précaution, Archives de philosophie du droit (Bd. 62), Paris: Dalloz, S. 399–426.
Reber, Bernard (2021): Responsible communication. Deliberation between conversation and consideration, London: ISTE, New York: Wiley.
Sève, René (Hrsg.). (2020): Le principe de précaution, Archives de philosophie du droit (Bd. 62). Paris: Dalloz.
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Reber, B. (2021). Ende des Lockdowns für die demokratische Debatte. Grand Débat national und Convention Citoyenne pour le climat. In: Frankreich Jahrbuch 2020. Frankreich Jahrbuch. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32908-2_9
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