Zusammenfassung
Abweichungen von Polizeibeamtinnen und -beamten können unterschiedlichste Erscheinungsformen annehmen. Sie können von der Ausübung exzessiver Gewalt über das Posten rechtsextremistischer Bilder bis hin zur Trunkenheit im Dienst reichen. In der angloamerikanischen Literatur zur Polizeiwissenschaft wurde mit dem Begriff der sogenannten Noble-Cause-Corruption jedoch eine neue Sichtweise auf polizeiliche Devianz eröffnet und es wurden die Abweichungen thematisiert, mit denen Polizeibeamtinnen und -beamte ein vermeintlich gutes Ziel erreichen wollen. Den meisten Beiträgen liegt dabei die Annahme zugrunde, dass diese Normbrüche aus dilemmatischen und teilweise sehr dramatischen Situationen, wie zum Beispiel Geiselnahmen, entstehen, sodass sich Polizeibeamtinnen und -beamte durch ihre Wertvorstellungen und ihrem Streben nach Gerechtigkeit zum Handeln in den Graubereichen der Legalität und jenseits davon verleiten lassen. In dem folgenden Beitrag werden diese Annahmen, die dem Begriff der Noble-Cause-Corruption zugrunde liegen, hinterfragt und es wird eine organisationssoziologische Sicht auf die Abweichungen zum vermeintlich guten Zweck eingenommen. Dafür werden Situationen herangezogen, die im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung im Wach- und Wechseldienst der Schutzpolizei sowie im Kriminaldauerdienst der Kriminalpolizei erhoben wurden. Abschließend folgt eine Diskussion über den Einfluss dieser Erkenntnisse auf die Thematisierung polizeilicher Devianz und polizeilicher Ethik.
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Notes
- 1.
Innerhalb der englischsprachigen Literatur finden sich ebenfalls die weniger häufig verwendeten Begriffe der Process-, der Performance- bzw. Outcome-Seeking-Corruption sowie des Task-Oriented-Rule-Breaking-Behaviors, die teilweise als Synonyme zum Begriff der Noble-Cause-Corruption gefasst werden. Für eine genauere Unterscheidung dieser Begrifflichkeiten siehe Zum-Bruch (2019). Aufgrund der heterogenen Definitionsvorschläge wird im Folgenden lediglich auf den Begriff der Noble-Cause-Corruption eingegangen.
- 2.
Um begriffliche Klarheit zu schaffen, werden die Abweichungen, mit denen Polizeibeamtinnen und -beamte der Organisation nicht schaden, sondern zu ihrem Funktionieren beitragen wollen, im Folgenden unter den Begriffen der pro-organisationalen Devianz oder der pro-organisationalen Abweichungen gefasst. Der Begriff der Noble-Cause-Corruption findet dementsprechend nur Erwähnung, wenn dadurch ein Bezug zu den Autorinnen und Autoren der angloamerikanischen Polizeiforschung, die explizit auf diesen Begriff und die ihm zugrundeliegenden Annahmen zurückgreifen, hergestellt werden soll.
- 3.
Darüber, was ein solches „good end“ sei, besteht aber Unklarheit. So wird beispielsweise behauptet, dass es sich um ein „good end“ handeln würde, wenn es dazu dient, „to make the world a better place to live“ (Caldero/Crank 2011: 30) oder „to do something about crime and criminals“ (Caldero/Crank 2011: 135). Auch, wenn das „well-being“ der Gesellschaft verbessert (Van Halderen/Kolfthoff 2017: 274) und „organizationally and socially approved ends“ erreicht werden (Punch 2000: 305), würde es sich um ein „good end“ handeln, genauso, wie wenn durch dieses die Erreichung von höheren moralischen Gütern (Harrison 1999: 7), „morally worthy ends”, „morally obligatory outcome” (Miller 2016: 36, 47) und der „‘right’ results” (Delattre 2011: 325) gesichert wird.
- 4.
Obwohl Meyer und Rowan diese lediglich als „myths“ bezeichnen, hat sich in der deutschen organisationssoziologischen Literatur die Übersetzung als Rationalitätsmythen etabliert.
- 5.
Eine genaue Definition, was die Polizeibeamtinnen und -beamten zur Handlung bewegt (ein Motiv, eine Motivation, ein Wille, ein Glaube, etc.), bieten die Autorinnen und Autoren dabei nicht. Im Folgenden werden diese unterschiedlichen Begriffe deshalb unter dem Begriff des Motivs gefasst, mit dem die inneren Beweggründe bezeichnet werden, durch die scheinbar eine Entscheidung für eine Handlung getroffen wird.
- 6.
Kleinig kritisierte diesbezüglich, dass die Autorinnen und Autoren zur Noble-Cause-Corruption überwiegend nicht zwischen der Art des „good ends“, das mit der Handlung verfolgt wird, unterscheiden und differenzierte daraufhin zwischen spezifischeren „good ends“ („intermediate ends“), wie beispielsweise die Vollstreckung einer Festnahme, und allgemeineren „good ends“ („final ends“), wie beispielsweise einen Beitrag zum Wohlergehen der Gesellschaft zu leisten (vgl. Kleinig 2002: 293).
- 7.
Solche verschlüsselten Messengerdienste finden schon in einigen Sondereinheiten (wie beispielsweise dem Mobilen Einsatzkommando, dem Spezialeinsatzkommando, der Fahndungsgruppe, dem Staatsschutz, aber auch seit 2018 bei der Bundespolizei und seit 2019 in der Polizei NRW) Verwendung.
- 8.
Dennoch erläuterte Kleinig: “It is often argued that those who occupy professional or public roles are particularly vulnerable to such ‘impossible choices’, in which, no matter what they do, some egregious wrong will be done. In particular, it is argued that by virtue of their role responsibilities they sometimes ‘must’ violate the canons of ordinary moral decency. They must, as Sartre put it, 'dirty their hands’” (Kleinig 1996: 53).
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Zum-Bruch, E.I. (2021). „Wir befolgen Vorschriften und Gesetze, aber nur wenn sie uns nicht behindern.“. In: Trappe, T. (eds) Verwaltung - Ethik - Menschenrechte. Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32625-8_7
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