4.1 Das Phänomen Multilokalität

Multilokalität gewinnt sowohl qualitativ als auch quantitativ an Bedeutung in der Gesellschaft und Wissenschaft (Petzold 2009: 158; Dick/Schmidt-Kallert 2011: 25 f.; Leubert 2013: 149; Dittrich-Wesbuer 2015: 16). In der Multilokalitätsforschung wurden bislang sehr unterschiedliche theoretische und methodische Ansätze zur Erforschung des Phänomens gewählt (ARL 2016: 8), weshalb vergleichbare Analysen kaum möglich sind (Dittrich-Wesbuer/Plöger 2013: 198). Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass das Phänomen eine steigende Anzahl an Kommunen betrifft (Sturm/Meyer 2009: 28) und deshalb vertiefende Untersuchungen zum Phänomen Multilokalität nötig sind. Vorangegangene Forschungen betrachten zumeist das Subjekt, also die multilokal lebende Person selbst, und klammern andere Perspektiven – mit wenigen Ausnahmen – aus (vgl. Lange 2018; Greinke/Hilti 2019). Doch auch die Perspektive der kommunalen Funktionsträger*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen sowie die Auswirkungen der fluiden Lebensweise auf die erschlossenen Orte sind im Rahmen räumlicher Entwicklungen von Bedeutung und werden daher im Projekt TempALand betrachtet.

Multilokalität bzw. multilokale Lebensweisen sind nur schwer zu erfassen, wodurch quantitative Ansätze (z. B. die Auswertung der Melde- und Pendler*innendaten; vgl. Beitrag Albrecht/Dittrich-Wesbuer in diesem Band (Kap. 3)) allein nur bedingt belastbare Aussagen zur Quantifizierung multilokaler Lebensweisen auf Kommunen liefern können. Dies liegt zum einen in der ungenauen Abgrenzung des Phänomens und an den unterschiedlichen, sich vielfach überlappenden Motiven, die hinter multilokalen Lebensweisen stecken; zum anderen aber auch daran, dass multilokale Lebensformen in gängigen (amtlichen) Statistiken kaum sichtbar bzw. erfasst werden (vgl. Beitrag Albrecht/Dittrich-Wesbuer in diesem Band Kap. 3); s.a. Dittrich-Wesbuer et al. 2015: 121; Weichhart/Rumpolt 2015: 17 f.). (Amtliche) Statistiken reichen vielfach nicht aus, um sogenannte verdeckte Multilokalität oder Kryptomultilokalität aufzudecken, da Multilokale nicht immer einen offiziellen zweiten Wohnsitz anmelden (Weichhart/Rumpolt 2015: 18) und sich somit die „Melderealität“ oft von der „Lebensrealität“ unterscheidet (Hilti 2013: 60; Weiske 2013: 354). Überdies ist die „Schein-Multilokalität“ nur schwer zu erfassen, weil sich dabei Menschen an mehreren Orten gemeldet haben, die entsprechenden Unterkünfte jedoch gar nicht aufsuchen (Weichhart/Rumpolt 2015: 17 f.). Selbst wenn eine solche Quantifizierung eindeutig möglich wäre, bleibt aus den oben genannten Gründen weiterhin zunächst unklar, welche konkreten Auswirkungen Multilokalität auf Kommunen überhaupt haben kann. Daher ist es sinnvoll, neben unterschiedlichen quantitativen Methoden zur Erfassung und Untersuchung des hochkomplexen Themenfeldes Multilokalität (vgl. Beitrag Albrecht/Dittrich-Wesbuer in diesem Band (Kap. 3)) auch qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden einzusetzen. Einer Triangulation folgend wird es dadurch möglich, den Forschungsgegenstand aus mehreren Perspektiven und mit verschiedenen Methoden systematisch zu betrachten (Flick 2011: 11).

Um sich dem Phänomen Multilokalität im Landkreis Diepholz „zahlenmäßig“ anzunähern, wurde zunächst eine schriftliche Haushaltsbefragung durchgeführt, um erste (qualitative) Einblicke in multilokale Lebensweisen (Motive, Ansprüche, Formen etc.) zu gewinnen (vgl. Abschn. 4.2.1). Darauf aufbauend wurden problemzentrierte leitfadengestützte Experten*inneninterviews mit Multilokalen sowie lokalen und regionalen Akteur*innen durchgeführt (vgl. Abschn. 4.2.2), um die in der Haushaltsbefragung gewonnen Ergebnisse zu reflektieren und zu vertiefen. Dem wurde eine Akteursbeteiligung in Form von Workshops und Gruppendiskussionen mit Vertreter*innen aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Verbänden, Vereinen und der Zivilgesellschaft als weitere qualitative Methoden angeschlossen (vgl. Abschn. 4.2.3). Dadurch ergab sich die Möglichkeit, die einzelnen Teilergebnisse differenziert zu betrachten und diese zudem mit verschiedenen Akteursgruppen zu diskutieren. Im vorliegenden Kapitel werden Ergebnisse der eingesetzten Methoden zu den Themenbereichen Wohnen und bürgerschaftliches Engagement exemplarisch vorgestellt.

4.2 Die Methoden der Triangulation im Überblick

4.2.1 Schriftliche Haushaltsbefragung

Als erster Analyseschritt wurde im Projekt TempALand eine standardisierte schriftliche Befragung aller Haushalte im Untersuchungsgebiet der fünf Kommunen des Diepholzer LandesFootnote 1 durchgeführt. Ziel der Haushaltsbefragung war es,

  1. (1)

    Formen multilokaler Lebensweisen im Diepholzer Land zu identifizieren,

  2. (2)

    sich den besonderen Ansprüchen der Multilokalen anzunähern und

  3. (3)

    erste Hinweise auf mögliche Auswirkungen auf die betroffenen Orte im Diepholzer Land zu gewinnen.

Die standardisierte Befragung mittels eines Fragebogens ist eine häufig verwendete Methode der empirischen Sozialforschung und bietet die Möglichkeit eine große Informationsdichte möglichst umfassend abzubilden (vgl. Atteslander 2000). Anhand einer standardisierten Befragung können Erkenntnisse aggregiert, verglichen und generalisiert werden (Möhring/Schlütz 2019: 5).

Bisherige Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass multilokale Lebensweisen weiter verbreitet sind, als zunächst angenommen. Im Landkreis Diepholz lagen zu Beginn der Forschungsarbeit keine Daten zur Gesamtheit mehrörtiger Arrangements vor, wenngleich das Interesse der Akteur*innen aus Planung und Politik an der Thematik groß ist (vgl. Beitrag Albrecht/Dittrich-Wesbuer in diesem Band (Kap.3)). Um sich dem Umfang multilokaler Lebensweisen im Landkreis Diepholz zu nähern, wurde ein standardisierter Fragebogen in Form einer Postkarte entwickelt (siehe Abb. 4.1) und in Kooperation mit den kommunalen Meldeämtern an alle 23.495 Haushalte im Diepholzer Land verschickt.

Die Haushaltsbefragung behandelt folgende sechs Fragethemen:

Abb. 4.1
figure 1

(Quelle: TempALand 2020)

Postkarte zur Befragung der Haushalte im Diepholzer Land

  1. (1)

    Art der weiteren Übernachtungsmöglichkeit, die neben der Hauptwohnung für mehr als 20 Nächte pro Jahr (außer Urlaub) genutzt wird,

  2. (2)

    Motiv bzw. Grund für die mehrörtige Lebensweise,

  3. (3)

    Entfernung zwischen Haupt- und Nebenort,

  4. (4)

    Häufigkeit der Ortswechsel,

  5. (5)

    Verortung des „Zuhauses“,

  6. (6)

    Freiwillige Angabe von Kontaktdaten für ein späteres Interview.

Überdies werden die soziodemografischen Daten (Geburtsjahr und Geschlecht) abgefragt und Informationen zur Wohnortkommune im Landkreis Diepholz erfragt. Die Teilnehmenden können zudem angeben, wie viele Personen in ihrem Haushalt im Landkreis Diepholz und an dem anderen Ort leben. Vor der Versendung des Fragebogens wurde dieser in einem Pretest überprüft, wobei Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts die Postkarte zur Probe ausfüllten, um etwaige Unklarheiten und missverständliche Fragestellungen ausfindig zu machen. Anschließend wurden die Ergebnisse aus der Probebefragung diskutiert und der Fragebogen entsprechend angepasst (Kirchhoff et al. 2003: 24).

Um den Rücklauf zu erhöhen, wurde der Postkarte ein Begleitschreiben mit Erläuterungen und Kontaktdaten für Rückfragen beigefügt, welches von den Bürgermeistern der fünf Kooperationskommunen unterschrieben wurde. Die Befragung wurde zusätzlich online über den projekteigenen Internetauftritt und der Online-Befragungssoftware „UmfrageOnline“ zur Verfügung gestellt, um weitere multilokal Lebende für eine Teilnahme an der schriftlichen Befragung zu gewinnen.

Im Befragungszeitraum von vier Wochen sind insgesamt 556 Postkarten eingegangen, von denen 362 Postkarten von multilokal lebenden Personen ausgefüllt wurden. Im Verhältnis zur Gesamtanzahl der Haushalte im Diepholzer Land (23.495) ist die Rücklaufquote sehr gering; hier muss jedoch betont werden, dass sich die Postkarte explizit an multilokal lebende Personen bzw. Haushalte richtete und nicht den Anspruch verfolgte, dass alle Haushalte antworten oder repräsentativ zu sein. Hier zeigt sich erneut die besondere Schwierigkeit, multilokal lebende Personen zu erreichen bzw. die Anzahl Multilokaler zu bestimmen.

Im Gegensatz zu anderen statistischen Auswertungs- und Analyseansätzen (z. B. Auswertung von Meldestatistiken (vgl. Beitrag Albrecht/Dittrich-Wesbuer in diesem Band (Kap. 3))) bietet die schriftliche Haushaltsbefragung den Vorteil, dass auch nicht offiziell gemeldete multilokal lebende Personen erfasst bzw. erreicht werden können. Dazu zählen etwa Mitglieder eines Haushaltes, die dort regelmäßig übernachten (bspw. Kinder getrennt lebender Eltern oder Partner*innen). Diese Personengruppen bleiben ansonsten vielfach unentdeckt und lassen die Dunkelziffer der multilokal lebenden Personen deutlich ansteigen. Darüber hinaus konnte die schriftliche Haushaltsbefragung dazu genutzt werden, Personen für vertiefende Interviews über das gleichzeitige Leben an mehreren Orten zu gewinnen (siehe Abb. 4.1, Frage sechs).

Der Nachteil der schriftlichen Haushaltsbefragung liegt allerdings darin, dass ausschließlich gemeldete Haushalte postalisch erreicht werden. Zudem erhält jeder Haushalt nur eine Postkarte, sodass in einem Haushalt mit mehreren multilokal lebenden Mitgliedern nicht alle Multilokalen erfasst werden, sofern diese nicht eigenständig auf die Online-Befragung ausweichen. Somit lässt sich vermuten, dass der tatsächliche Anteil multilokal Lebender deutlich höher ist (vgl. Weichhart 2009: 10; ARL 2016: 6), auch im Landkreis Diepholz. Darüber hinaus werden über Online-Befragungen tendenziell eher junge, männliche Personen erreicht, die vielfach über einen höheren Bildungsabschluss verfügen (Wagner/Hering 2014: 664).

Die Haushaltsbefragung wurde anschließend mithilfe der Statistiksoftware „SPSS“ ausgewertet. Dazu wurden die Antworten der Befragten in die Software eingepflegt und mithilfe deskriptiver, bivariater statistischer Verfahren ausgewertet und aufbereitet (siehe Kap. 4.3). Unter anderem wurden Kreuztabellen als Form der Tabellenanalyse erstellt und analysiert, um den Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Merkmalen darzustellen (Weins 2010: 75).

4.2.2 Problemzentrierte leitfadengestützte Experten*inneninterviews

Im Projekt TempALand wurden zur Erfassung und Untersuchung mehrörtiger Lebensweisen problemzentrierte leitfadengestützte Expert*inneninterviews mit verschiedenen Akteur*innen geführt (nach Liebold/Trinczek 2009; Meuser/Nagel 2002; Mayer 2013). Die Interviewpersonen wurden zum einen durch die Haushaltsbefragung gefunden. Zum anderen haben die beteiligten kommunalen Praxispartner*innen multilokal lebende Personen in ihrem beruflichen und privaten Umfeld für ein Interview kontaktiert und motiviert, sodass Multilokale hier im Schneeballverfahren akquiriert werden konnten. Darüber hinaus wurden Interviews mit Funktionsträger*innen aus Politik und Verwaltung geführt. Mithilfe der insgesamt 63 Experten*inneninterviews wurden tief greifende Ergebnisse in Ergänzung zur schriftlichen Haushaltsbefragung gewonnen.

Experten*inneninterviews stellen in der empirischen Sozialforschung ein häufig genutztes Verfahren dar (Liebold/Trinczek 2009: 32). Als Expert*innen werden dabei Personen eingestuft, die „Kenner[*innen] oder Fachleute“ mit besonderen Wissensbeständen sind (ebd.: 33). „Experten[*innen]interviews“ ermöglichen […] eine privilegierte Problemsicht“ (Liebold/Trinczek 2009: 53), weil die Expert*innen einen Einblick in Strukturzusammenhänge und Handlungssysteme geben. Durch die Flexibilität und Prozesshaftigkeit der Interviews können qualitative Erkenntnisse gewonnen werden. (ebd.) Mithilfe der Experten*inneninterviews konnte im Projekt TempALand eine Vielzahl an belastbaren Informationen zu den Anforderungen und Wünschen multilokal lebender Personen an ihr Lebensumfeld sowie zu der Integration und Teilhabe der Personen in die lokalen Gesellschaften erarbeitet werden. Besonders herausfordernd war in diesem Kontext der Vertrauensaufbau zu den Interviewpersonen, da es sich in den Gesprächen auch um private und familiäre Inhalte handelte. Vermutlich gab es Personen, die aufgrund der eher schwer zu erfassenden Forschungsinhalte kein Interesse an einem Gespräch hatten. Auffällig war dennoch, dass die Personen, die sich Zeit für ein Interview genommen haben, gern und sehr ausführlich über ihre Lebensweise gesprochen haben.

Die leitfadengestützten Experten*inneninterviews bestehen aus erzählgenerierenden Fragen, gleichzeitig strukturiert der Leitfaden die inhaltliche Ausrichtung des Interviews. In ihm sind keine geschlossenen Fragen mit Antwortkategorien enthalten. Zudem sollte der Detaillierungsgrad der Fragen niedrig sein, um eine möglichst natürliche Gesprächsführung zu ermöglichen. Der Leitfaden bildet folglich eine Gedächtnisstütze mit Hilfe derer Daten in einem kommunikativen Akt gewonnen werden (Liebold/Trinczek 2009: 35 ff.).

Der verwendete Leitfaden basiert auf den leitenden Forschungsfragen und den im Projekt gesetzten inhaltlichen Schwerpunkten. In den Experten*inneninterviews mit den multilokal lebenden Personen wurden

  1. (1)

    die Organisation des Alltagslebens,

  2. (2)

    das Wohnumfeld an den jeweiligen Orten,

  3. (3)

    das bürgerschaftliche Engagement sowie

  4. (4)

    die Nutzung technischer und sozialer Infrastrukturen thematisiert.

Die Experten*inneninterviews mit den Funktionsträger*nnen fokussierten

  1. (1)

    die Wohnraum- und Infrastrukturnachfragesituationen,

  2. (2)

    die Ortsgemeinschaften in den Kommunen

  3. (3)

    die Chancen und Herausforderungen, die durch multilokale Lebensweisen entstehen sowie

  4. (4)

    die Wahrnehmung des Phänomens in den Kommunen.

Die Auswertung der 63 Experten*inneninterviews erfolgte anhand der qualitativen Inhaltsanalyse (nach Mayring 2016), welche als Verfahren zur systematischen Textanalyse eingesetzt wird (Mayring 2000: 1), indem sowohl inhaltliche als auch formale Aspekte untersucht werden (ebd.: 2). Dafür wurden die Experten*inneninterviews in TempALand nach Einwilligung der Interviewpartner*innen mithilfe eines Tonbandgerätes aufgezeichnet und auf einem Erhebungsbogen zudem schriftlich protokolliert. Anschließend wurden die Interviews transkribiert (Liebold/Trinczek 2009: 40 f.). Die Datenauswertung und -aufbereitung erfolgte mithilfe eines Softwareproduktes, welches die Kodierung und Verschlagwortung digital ermöglicht (Liebold/Trinczek 2009: 43). Durch die computergestützte qualitative Inhaltsanalyse konnten die Daten für die Interpretation bestmöglich aufbereitet werden (Mayring 1994: 174). Da in der qualitativen Inhaltsanalyse schrittweise nach einem festgelegten Ablaufmodell vorgegangen wurde, sind die Analysen intersubjektiv nachvollziehbar. Mithilfe eines theoretisch fundierten Kategoriensystems konnten die Aspekte der Interviews operationalisiert werden. Die Kategorien (z. B. Rhythmus der Ortswechsel, Dauer des multilokalen Lebens, Motiv, etc.) wurden im Schritt der Kodierung möglichst eindeutig dem Material zugeordnet. Diese Zuordnung war durch vorher festgelegte inhaltliche Analyseeinheiten, die den forschungsleitenden Fragestellungen folgen, möglich (Mayring 1994: 162).

4.2.3 Akteursbeteiligung in Form von Workshops und Gruppendiskussionen

Ergänzend zu den zuvor beschriebenen methodischen Ansätzen zur Annäherung an das Phänomen Multilokalität, wurden verschiedene Beteiligungsformate mit unterschiedlichen Akteur*innen eingesetzt, um die vorhandenen Ergebnisse zu überprüfen und weitere Ideen und Erkenntnisse zu generieren. Dazu zählen zum Beispiel Gruppengespräche, Diskussionsrunden, Workshops und Planspiele (vgl. Beitrag Greinke/Lehmann/Othengrafen/Seitz in diesem Band (Kap. 7)). Hierfür wurden im Projekt TempALand fünf thematische Fallstudien (bürgerschaftliches Engagement, Wohnen/Wohnraumversorgung, Unternehmen im Diepholzer Land, Kommunalfinanzen und Konsumausgaben sowie soziale und technische Infrastrukturen) ausgewählt, bei denen in besonderer Weise von Auswirkungen durch multilokale Lebensweisen auszugehen ist (vgl. Beitrag Greinke/Albrecht/Othengrafen/Gutsche/Lehmann in diesem Band (Kap. 5)). Außerdem wurden gezielt lokale Akteur*innen (u. a. Wohnungsbaugesellschaften, Vertreter*innen der Immobilienwirtschaft, Vertreter*innen von Vereinen und Sozialverbänden sowie aus Politik und Verwaltung) eingeladen, um die empirischen Ergebnisse zu diskutieren und zu verdichten sowie darauf aufbauend gemeinsam entsprechende Lösungsansätze zu entwickeln. Thematisch haben sich diese Beteiligungsformate stets mit einer oder mehrerer der ausgewählten Handlungsfelder bzw. Fallstudien beschäftigt (vgl. Abb. 4.2). Die Ergebnisse aus der Haushaltsbefragung und den Experten*inneninterviews wurden danach aufbereitet sowie Hypothesen und Fragestellungen für die jeweiligen Fallstudien in Auftaktgesprächen mit den ausgewählten Akteur*innen diskutiert. In je einem fallstudienbezogenen Workshop mit weiteren Akteur*innen wurden die bisherigen Ergebnisse vertieft und reflektiert. Zusammengeführt wurden sie dann in einem gemeinsamen Workshop aller Fallstudien mit den Akteur*innen. Aus der Akteursbeteiligung wurde eine Ideensammlung zu möglichen Themen und Strategien für Lösungsansätze im Umgang mit Multilokalität generiert sowie Wechselwirkungen zwischen den Fallstudien-Themen diskutiert.

Abb. 4.2
figure 2

(Quelle: TempALand 2020)

Akteursbeteiligung im Projekt TempALand

Bei den durchgeführten Gruppendiskussionen handelt es sich um eine qualitative Methode (Kühn/Koschel 2010: 52), die vielfältig eingesetzt und mit anderen Methoden verknüpft werden kann. Sie kann als Vorstudie zu einer Befragung oder, wie im Projekt TempALand, als Vertiefung zu generierten Ergebnissen eingesetzt werden (ebd.: 21). Die thematisch fokussierten Gruppendiskussionen eignen sich für komplexe Einstellungs- und Wahrnehmungsgeflechte sowie zur Evaluation, Optimierung und Entwicklung von zuvor analysierten Ergebnissen aus der schriftlichen Haushaltsbefragung und den problemzentrierten leitfadengestützten Expert*inneninterviews (ebd. 2010: 22). Dafür wurden die Diskussionen durch eine kompetente und empathische Moderation fundiert vorbereitet und strukturiert (Przyborski/Riegler: 441). Ausgewertet wurden die Gruppendiskussionen anhand der qualitativen Inhaltsanalyse (nach Mayring 2016) (vgl. Kap. 4.2.2).

Ein klarer Vorteil der Gruppendiskussionen liegt darin, dass verschiedene Zielgruppen angesprochen und somit in die Ergebnisauswertung und -interpretation einbezogen werden können. Zudem können im Zusammenspiel der verschiedenen Teilnehmer*innen Inhalte generiert werden, die in Einzelgesprächen nicht erreichbar sind. So war es im Projekt TempALand besonders gewinnbringend verschiedene Akteursgruppen, die ansonsten nicht gemeinsam über dieses Thema gesprochen hätten, zu Einzelaspekten aus dem Themenbereich Multilokalität diskutieren zu lassen. Hieraus ergaben sich vielfältige inhaltliche Schnittmengen oder Problemlagen, die ohne diese Formate unentdeckt geblieben wären. Herausfordernd bleibt jedoch beim Einsatz von Beteiligungsformaten, dass überhaupt aktive Beteiligte gefunden werden. Bei dem ohnehin eher schwer greifbaren Thema der multilokalen Lebensweisen, bei dem viele Akteur*innen keinen akuten Handlungsbedarf für sich sehen, vergrößert sich dieses Problem zusätzlich. Zudem kann in Beteiligung nur mit denen gearbeitet werden, die teilnehmen. Dabei können – z. B. aus dem eben genannten Grund – nicht immer alle diejenigen motiviert werden, die aus inhaltlichen Gründen für das Projekt wichtig wären.

4.3 Lebensalltag von Multilokalen im Landkreis Diepholz – Ausgewählte empirische Ergebnisse zum Thema Wohnen und bürgerschaftliches Engagement

Aus den qualitativen Experten*inneninterviews mit den multilokal lebenden Personen können in Kombination mit der schriftlichen Haushaltsbefragung vielfältige Erkenntnisse hinsichtlich der Ansprüche und Besonderheiten der multilokalen Lebensweisen, insbesondere im Bereich Wohnen und bürgerschaftliches Engagement im Diepholzer Land, gewonnen werden. Durch die Kombination der unterschiedlichen qualitativen Untersuchungsergebnisse können aufgestellte theoretische Annahmen überprüft und bestätigt bzw. widerlegt sowie die Grenzen der jeweils anderen Erhebungsmethode ausgeglichen werden. So können die Ergebnisse aus den 63 Interviews durch die 362 Antworten aus der Postkartenbefragung untermauert werden und andersherum können die Ergebnisse der Postkartenbefragung, die noch viel Interpretationsspielraum besitzen, mit den qualitativen Erkenntnissen unterfüttert und verglichen werden.

Sowohl in der Postkartenbefragung als auch in den Experten*inneninterviews mit den multilokal lebenden Personen stellt sich die Geschlechterverteilung der antwortgebenden Personen ähnlich dar: Zwei Drittel waren Männer, ein Drittel waren Frauen. Die in den Untersuchungen am stärksten besetzte Altersklasse liegt in der Gruppe 46 Jahre und älter, womit überwiegend in der Erwerbsphase befindliche Personen erfasst sind (siehe Abb. 4.3); die Altersspanne der Interviewpartner*innen unterliegt einer breiteren Varianz zwischen 46 und 66 Jahren und älter.

Abb. 4.3
figure 3

(Quelle: TempALand 2020)

Alter der Multilokalen aus der Haushaltsbefragung

Auch die Motive, die hinter der multilokalen Lebensweise stehen, sind in den Experten*inneninterviews sowie der Befragung nahezu identisch: Der Großteil der Befragten und der Interviewpartner*innen lebt berufs-, ausbildungs- oder studienbedingt an mehreren Orten (knapp zwei Drittel) in einer Zweitwohnung (s. Abb. 4.4). Dazu passt, dass auch der Großteil wöchentlich zwischen den Orten wechselt (s. Abb. 4.5), d. h. diese Personen kehren an den Wochenenden an ihren Hauptort zurück und leben „nur“ innerhalb der Woche am Nebenort. Weitere Motive, die genannt wurden und hinter den mehrörtigen Lebensweisen im Diepholzer Land stehen, liegen überwiegend im Freizeitbereich oder haben einen familiären Hintergrund.

Abb. 4.4
figure 4

(Quelle: TempALand 2020)

Motive und Gründe für multilokale Lebensweisen aus der Haushaltsbefragung

Abb. 4.5
figure 5

(Quelle: TempALand 2020)

Häufigkeit der Ortswechsel der mehrörtig Lebenden aus der Haushaltsbefragung

Die Interviewpartner*innen legen durchschnittlich eine Entfernung von 274,5 km zwischen ihren aufgesuchten Orten zurückFootnote 2. Abb. 4.6 zeigt die Entfernung zwischen den Haupt- und Nebenorten der Interviewpersonen (Luftlinie in Kilometern). Es wird deutlich, dass die Motive der Personen variieren und sich zudem vielfach vermischen. Die Pfeile in der Abbildung zeigen, ob die Personen den Landkreis Diepholz phasenweise als Outgoings verlassen oder ob sie als IncomingsFootnote 3 phasenweise anwesend in den entsprechenden Kommunen sind. Insgesamt sind unter den 63 Interviewpersonen 34 Outgoings und 25 Incomings. Vier Personen lassen sich aufgrund sich überlagernder Motive und Ortsbezüge nicht eindeutig als Outgoing oder Incoming zuordnen.

Abb. 4.6
figure 6

(Quelle: TempALand 2020, Kartengrundlage: GeoBasis-DE/Bkg 2014)

Entfernung der Haupt- und Nebenorte der Multilokalen aus den qualitativen Interviews (Luftlinie in Kilometer)

Ähnlich wie in den Interviews ergibt sich aus der Haushaltsbefragung eine durchschnittliche Entfernung zwischen den Orten der mehrörtig Lebenden von ca. 240 km. Die Auswertungen zeigen, dass bei ca. 39 % der Befragten die zurückgelegte Entfernung zwischen ihren Orten geringer als 100 km ist. Ca. 20 % der Teilnehmenden der Haushaltsbefragung legen mehr als 300 km zwischen den Orten zurückFootnote 4. Auffällig ist, dass weibliche Personen hier eher kürzere Maximalentfernungen (ca. 250 km) und männliche Befragte weitere Maximalentfernungen (ca. 400 km) zurücklegen. Besonders wenn die Multilokalen aus familiären oder partnerschaftlichen Motiven zwischen den Orten wechseln, legen sie eher kurze Distanzen zurück (bis maximal 100 km). Berufsbedingt mehrörtig Lebende hingegen legen deutlich weitere Distanzen zurück. Diese Entfernungen haben zudem Einfluss auf die Pendelhäufigkeit der Multilokalen. Wöchentliche Wechsel finden bei eher weiteren Entfernungen (ab 300 km) statt, wohingegen mehrmalige Wechsel innerhalb einer Woche überwiegend bei Entfernungen bis zu 150 km durchgeführt werden.

4.3.1 Temporäres Wohnen, kleine Appartements, möblierte Zimmer – Multilokales Wohnen

Die empirischen Untersuchungen zeigen, dass Incomings im Diepholzer Land kaum Wohnraum finden, der ihren Vorstellungen entspricht. So fragen berufs- und ausbildungsbedingt multilokale Incomings im Diepholzer Land hauptsächlich kleine, möblierte 1–2 Zimmer Wohnungen nach, die dazu noch in unmittelbarer Nähe ihres Arbeitsstandortes liegen (vgl. Greinke/Lange/Othengrafen 2018). Besonders in der Kreisstadt Diepholz, der Samtgemeinde Altes Amt Lemförde und in der Samtgemeinde Barnstorf ist der Bedarf an kleinen Single- und Paarwohnungen hoch (Landkreis Diepholz 2016: 21, 26). Die Nachfrage danach ist auch deshalb hoch, weil nicht nur multilokal lebende Arbeits- und Fachkräfte, sondern auch weitere Zielgruppen, wie Bundeswehrsoldat*innen, Studierende, Auszubildende, Geringverdienende, Erwerbslose und Senior*innen, diesen Wohnraum nachfragen. Diese nachgefragten Wohnungen werden im Untersuchungsgebiet jedoch nicht bzw. nur unzureichend angeboten. Dadurch erhöht sich nicht nur der Druck auf den Wohnungsmarkt, sondern es mindert die Möglichkeit für alle Nachfragegruppen, bezahlbaren Wohnraum zu finden (vgl. Beitrag Greinke/Albrecht/Othengrafen/Gutsche/Lehmann in diesem Band (Kap. 5); s.a. Greinke/Lange/Othengrafen 2018).

Aus der schriftlichen Befragung geht hervor, dass 39 % der befragten multilokal lebenden Personen im Diepholzer Land in einer Zweitwohnung leben. Weitere 14 % leben in einer Studentenwohnung, 12 % im Hotel und 11 % in der Wohnung eines Partners/einer Partnerin (vgl. Greinke/Lange/Othengrafen 2018). Zudem entsprechen die Größe und Ausstattung der Wohnungen in der Regel nicht den Bedürfnissen bzw. Wünschen der multilokal lebenden Personen. Die qualitativen Experten*inneninterviews haben ergeben, dass im Diepholzer Land auf dem Wohnungsmarkt überwiegend 2–3 Zimmer Wohnungen mit ca. 80 bis 90 m2 Wohnfläche angeboten werden und dass solche Wohnungen den Multilokalen zu groß sind.

Da aber der vergleichsweise homogene Wohnungsmarkt im Landkreis Diepholz, ähnlich wie in anderen ländlichen Kommunen Niedersachsens, geprägt ist von Ein- und Mehrfamilienhäusern (vgl. ebd.), weichen einige multilokale Incomings auf Ferienwohnungen oder Montagezimmer als Unterkünfte aus. Zudem werden im Landkreis Diepholz kaum Wohnungen zur Miete angeboten, sodass die Suche nach mietbarem Wohnraum nicht nur durch unpassende, sondern vor allem auch durch fehlende Angebote erschwert wird (vgl. Beitrag Greinke/Albrecht/Othengrafen/Gutsche/Lehmann in diesem Band (Kap. 5)).

Die Auswertung der Haushaltsbefragung zeigt, dass sich zahlreiche Teilnehmer*innen an ihrem Wohnort im Landkreis Diepholz zu Hause fühlen (ca. 51 %), wobei aufgrund der Frageformulierung nicht zu differenzieren ist, ob es sich dabei um Incomings oder Outgoings handelt. Daraus geht hervor, dass der Landkreis Diepholz für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein attraktiver Wohnstandort sein kann, weshalb Kommunen auch die Strategie „Multilokale sesshaft zu machen“ verfolgen und dadurch Zuziehende gewinnen können (vgl. Beitrag Greinke/Lehmann/Othengrafen/Seitz in diesem Band (Kap. 7)). Ca. 11 % fühlen sich an ihrem anderen Ort wohl. Daraus lässt sich schließen, dass mit der Befragung vermehrt Outgoings erfasst wurden. Es gibt aber auch eine größere Anzahl Multilokaler, die sich an beiden Orten zu Hause fühlt (ca. 30 %). Zu vermuten ist zudem, dass vor allem diejenigen an der Befragung teilgenommen haben, die ein Interesse am bzw. eine Perspektive im Landkreis Diepholz haben, also diejenigen, für die der Landkreis einen höheren Stellenwert besitzt als ein mehr oder weniger freiwillig gewählter Übergangs- bzw. Aufenthaltsort. Darüber hinaus ist in diesem Kontext anzuführen, dass mit der schriftlichen Befragung ausschließlich gemeldete Personen erreicht werden konnten und dass dadurch der Anteil der sich im Landkreis Diepholz zu Hause fühlenden Personen noch höher sein kann (Abb. 4.7).

Abb. 4.7
figure 7

(Quelle: TempALand 2020)

Wo sich die multilokal lebenden Menschen zu Hause fühlen

4.3.2 Vereinszugehörigkeit, freiwillige Feuerwehr, Gemeinschaft – Multilokalität und bürgerschaftliches Engagement

Im Bereich bürgerschaftliches Engagement machen die Ergebnisse aus den Experten*inneninterviews und der Beteiligung im Diepholzer Land deutlich, dass Vereine und Institutionen im Diepholzer Land bislang noch keine Nachwuchssorgen haben. Oftmals finden die Bewohner*innen den Weg zum Engagement selbstständig und benötigen dabei kaum (kommunale) Unterstützung. Multilokale als Incomings bringen sich auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Intensität in lokale Gemeinschaften, Vereine und Institutionen ein. Sie unterstützen zum Beispiel kurzfristig und projektbezogen die Gemeinschaft bei lokalen Veranstaltungen, wie beispielsweise Märkten im Diepholzer Land. Ein Teil der Outgoings kommt sogar für eben diese Veranstaltungen regelmäßig wieder zurück in den Landkreis und engagiert sich bei der Vorbereitung und Durchführung der Ortsfeste, wie zum Beispiel der Schützenfeste.

Unterschiede sind im Bereich des bürgerschaftliches Engagements zwischen den Incomings und Outgoings zu erkennen. Die multilokalen Incomings verfügen oft über keine Zeit oder besitzen kein Interesse an einem Engagement im Landkreis Diepholz. Das kann zum einen daran liegen, dass sie beruflich am Nebenort im Kreis Diepholz stark eingespannt sind und deshalb keine zeitlichen Verfügbarkeiten für eine freiwillige Tätigkeit haben. Zum anderen sind viele Incomings am Ausgangsort oft schon engagiert und priorisieren die Tätigkeit an diesem Ort, weshalb sie kein weiteres freiwilliges Engagement im Landkreis Diepholz aufnehmen möchten. Darüber hinaus kommen in den Landkreis Diepholz zahlreiche freizeitbedingt mehrörtig lebende Incomings, die in der Zeit ihrer Anwesenheit ihren Urlaub, die Ruhe und Erholung genießen möchten, ohne sich zusätzlich einzubringen. Demgegenüber stehen jedoch solche freizeitbedingten Incomings, die durchaus ein Interesse an Engagementtätigkeiten am Nebenort im Kreis Diepholz haben. Dies sind vielfach Menschen, die in längeren und zusammenhängenden zeitlichen Abschnitten im Landkreis anwesend sind. Dazu zählen zum Beispiel Ferienhausbesitzer*innen oder Dauercamper*innen, die oft saisonal in das Diepholzer Land kommen. In den Zeiten der Anwesenheit haben sie dann die Möglichkeit, sich aktiv in die Dorfgemeinschaft oder in Vereine einzubringen, zum Beispiel durch ehrenamtliche Seelsorgetätigkeiten. Im Diepholzer Land haben darauf bereits einige Vereine reagiert und beispielsweise Gästeveranstaltungen im Schießverein etabliert, die es Multilokalen und Externen erlauben, die örtlichen Vereine und Gemeinschaften kennenzulernen und sich entsprechend zu vernetzen. Derartige Veranstaltungen oder auch die Aufweitung bestehender Vereinsstrukturen können dazu führen, dass auch Incomings eine Tätigkeit in einem Verein am Nebenort aufnehmen (können) (vgl. Lange 2018).

Die Outgoings verfügen vielfach über gewachsene Bindungen am Ausgangsort im Landkreis Diepholz und engagieren sich oftmals gemeinsam mit den dauerhaft anwesenden Personen, die die Basis der lokalen Gemeinschaften darstellen. Da sie zumeist aus beruflichen Gründen den Landkreis verlassen und vielfach wöchentlich zwischen den Orten wechseln, sind sie zudem viel unterwegs – in der Regel im Auto, in der Bahn oder im Flugzeug. In den dadurch limitierten Phasen der Anwesenheiten priorisieren sie dann private Aktivitäten (z. B. familiäre oder partnerschaftliche Angelegenheiten) und engagieren sich vielfach nicht oder nicht in besonderem Maße, sondern verbringen möglichst viel Zeit mit der Familie, Partner*in oder Freund*innen. Doch auch im Landkreis Diepholz leben Outgoings, die ihr Engagement nicht aufgeben wollen. Häufig sind sie dann in den Zeiten der Abwesenheit nicht verfügbar, beteiligen sich aber in den Zeiten der Anwesenheit. Dadurch stehen sie zwar nur eingeschränkt zur Verfügung, geben jedoch die Engagementtätigkeiten nicht vollständig auf.

Der Landkreis Diepholz ist neben dem Vorhandensein der verschiedenen multilokalen Lebensformen zusätzlich von einem hohen Pendler*innenaufkommen gekennzeichnet, wodurch insgesamt erhöhte Mobilitätsbedürfnisse und -ansprüche im Landkreis bestehen (vgl. Beitrag Albrecht/Dittrich-Wesbuer in diesem Band (Kap. 3)). Die Tagespendler*innen verlassen den Landkreis Diepholz frühmorgens, um an einem anderen Ort zu arbeiten und kommen oft erst am Abend wieder zurück an ihren Wohnort. Dementsprechend haben auch die Pendler*innen wenig Zeit zur Verfügung und fehlen vielfach für ein aktives lokales Engagement. Aus diesem Grund können die zuvor erläuterten Herausforderungen nicht nur auf multilokal Lebende, sondern modifiziert auch auf die Gruppe der Pendler*innen übertragen werden. Dadurch kann sich die Anzahl der möglichen Engagierten verringern und somit die Risiken in Bezug auf das Engagement und dem damit zusammenhängenden Erhalt von Daseinsvorsorgeleistungen (z. B. in ehrenamtlich geführten Schwimmbädern oder der freiwilligen Feuerwehr) erhöhen. Werden etwa zu den fehlenden Outgoings auch die tagsüber abwesenden Pendler*innen summiert, ergibt sich eine deutlich höhere Anzahl an Personen, die zum einen für ein am Tage stattfindendes aktives Vereinsleben nicht zur Verfügung stehen; es ist ihnen zum Beispiel nicht möglich regelmäßig zu trainieren oder an Sitzungen teilzunehmen. Zum anderen kann durch fehlende Outgoings und Pendler*innen ggf. sogar die Tagesbereitschaft der freiwilligen Feuerwehren nicht (mehr) erfüllt werden, womit wiederum die Gewährleistung wichtiger Aufgaben der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen gefährdet werden kann. Im Landkreis Diepholz ist dies bislang (noch) nicht der Fall. Allerdings können diese erhöhten Mobilitätsbedürfnisse und veränderten gesellschaftlichen Strukturen in anderen Räumen, zum Beispiel in strukturschwachen ländlich-peripher gelegenen Gebieten, zur Herausforderung für die Kommunen werden.

4.3.3 Funktionsträger*innen und der Umgang mit dem Thema Multilokalität

Die Experten*inneninterviews mit den Bürgermeistern in den fünf Kommunen des Diepholzer Landes machen zunächst deutlich, dass multilokale Lebensweisen oder das Thema Multilokalität noch nicht bzw. nur am Rande in den politischen Gremien thematisiert werden. Strategien oder Maßnahmen, um mit dem Phänomen umzugehen, wurden deshalb noch nicht entwickelt. Dieses kaum vorhandene Interesse und die geringe Kenntnis auf der Ebene der Funktionsträger*innen über ein Phänomen, welches sehr wohl auch im eigenen Hoheitsgebiet vorkommt, ist auch in anderen Untersuchungen bereits belegt worden (z. B. Dittrich-Wesbuer 2016; Lange 2018). Ein Bewusstsein für die Bedürfnisse und Ansprüche der multilokal lebenden Personen ist dementsprechend nicht vorhanden, sodass zunächst Sensibilisierungsarbeit auf verschiedenen Ebenen geleistet werden muss. Nichtsdestotrotz ist hervorzuheben, dass im Projekt TempALand die Funktionsträger*innen von Beginn der Projektarbeit an sehr offen gegenüber der Thematik waren und im Fortgang des Projektes TempALand zudem die raum- und gesellschaftspolitische Relevanz sowie die Bedeutung für die eigene Kommune überwiegend bestätigt sahen und sich dementsprechend intensiver mit der Thematik beschäftigten. Eine Kommune, die Stadt Diepholz, richtete regelmäßige Treffen zum Thema Mehrörtigkeit ein und diskutierte zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten diesbezüglich. Multilokalität als gesellschaftlich und raumplanerisch wichtiges sowie in seiner Bedeutung zunehmendes Phänomen sollte zukünftig regelmäßig und überall thematisch mitgedacht werden (z. B. in Konzepten oder Leitbildprozessen (vgl. Beitrag Greinke/Lehmann/Othengrafen/Seitz in diesem Band (Kap. 7))).

Das größte Interesse der Funktionsträger*innen bestand seit Beginn der Untersuchung an der Quantifizierung des Phänomens, um damit etwaige Maßnahmen und Projekte politisch rechtfertigen zu können. Darüber hinaus war von Interesse, wie multilokal lebende Personen zum „Bleiben“ überzeugt oder wie zeitweise hinzuziehende Personen dauerhaft für die Kommune gewonnen werden können. Auch wurden in den Interviews vielfach die Bereiche des Fachkräftemangels und der Attraktivitätssteigerung für Unternehmen vor dem Hintergrund mehrörtiger Lebensweisen angesprochen und diskutiert. Dass eben diese Themen im Fokus der Funktionsträger*innen stehen, ist vor dem Hintergrund des kommunalen Wettbewerbs um Einwohner*innenzahlen und Gemeindegrößen wenig überraschend. Erste Handlungsansätze dazu wurden im Rahmen des Projektes entwickelt (vgl. Beitrag Greinke/Lehmann/Othengrafen/Seitz in diesem Band (Kap. 7)).

4.4 Methodenmix zur Annäherung an das komplexe Phänomen Multilokalität

In der Konzeptionsphase des Projektes TempALand wurde frühzeitig deutlich, dass eine rein quantitative Annäherung über die Auswertung der Meldestatistik und der Pendler*innendaten an das Phänomen nicht ausreicht (vgl. Beitrag Albrecht/Dittrich-Wesbuer in diesem Band (Kap. 3)), um die Komplexität mehrörtiger Lebensweisen nachvollziehen zu können. Um verifizierbare und übertragbare Erkenntnisse hinsichtlich der Alltagspraktiken der multilokal lebenden Personen generieren zu können, wurden qualitative Untersuchungsmethoden angeschlossen. Dieser Methodenmix ermöglichte eine sinnvolle Ergänzung, Erweiterung und Vertiefung der jeweils gewonnenen Ergebnisse. Die ursprüngliche Idee der quantitativen Annäherung bzw. Erfassung über die Haushaltsbefragung wurde aufgrund der nur schwer abzubildenden Vielfalt multilokaler Arrangements und des vorab nicht eingeplanten erheblichen Material- und Zeitaufwands verworfen. Da die Grundgesamtheit von Multilokalen noch immer unbekannt ist und die Befragung von Beginn an nicht repräsentativ angelegt war, war es nicht möglich, hiermit abschließende Ergebnisse hinsichtlich der realen Anzahl multilokal lebender Personen im Diepholzer Land zu generieren. Das Ziel, erste wertvolle Erkenntnisse und Einblicke zu multilokalen Lebensweisen speziell im Landkreis Diepholz zu gewinnen, konnte damit jedoch erfüllt werden.

Die Untersuchungen im Projekt TempALand haben gezeigt, dass besonders qualitative Methoden, wie die vertiefenden problemzentrierten, leitfadengestützten Interviews, bedeutsam sind, um mehr über die Lebenswelt, die Motive und Gründe der Incomings und Outgoings zu erfahren. Zudem konnten anhand der Experten*inneninterviews verschiedene Wechselwirkungen überhaupt erst erschlossen und nachvollzogen werden. Die Auswertung der qualitativen Erhebungsmethoden zeigt, dass die verschiedenen Themenkomplexe (z. B. Wohnen und bürgerschaftliches Engagement) in Bezug auf multilokale Lebensweisen sehr divers sind und sich keine allgemeingültigen Herangehensweisen und Strategien für Kommunen im Umgang mit dem Phänomen aufstellen lassen. Vor dem Hintergrund der jeweiligen kommunalen Rahmenbedingungen und der lokalen Spezifika gilt es, die anzuwendenden Methoden zur Erfassung und Analyse mehrörtiger Lebensweisen anzupassen und entsprechend flexibel zu handhaben. In diesem Kapitel wurden besonders die qualitativen Methoden zur Annäherung an das Phänomen Multilokalität in den Fokus gestellt und erste ausgewählte Ergebnisse aus der Empirie zu den Themen Wohnen und bürgerschaftliches Engagement des Projektes TempALand präsentiert. Die vorgestellten qualitativen Erhebungsmethoden eignen sich vornehmlich als Ergänzung zu den eingesetzten quantitativen Methoden, um speziell die Lebensrealitäten der Multilokalen verstehen und abbilden zu können. Im Hinblick auf die Quantifizierung des Phänomens haben sich die Expert*inneninterviews als nicht probat erwiesen, da aus den oben genannten Schwierigkeiten der Meldepflichten und der amtlichen Statistiken damit niemals alle im Landkreis Diepholz (zeitweise) lebenden Multilokalen erreicht wurden bzw. hätten erreicht werden können. Dennoch bieten sie einerseits vertiefende Einblicke in die Komplexität mehrörtiger Lebensweisen und stellen andererseits eine gute Basis für die Akteursbeteiligung mit relevanten Stakeholdern dar. In den Workshops und Gruppendiskussionen wurde auf die Ergebnisse der qualitativen Methoden als Diskussionsgrundlage aufgebaut und vertiefende Erkenntnisse gewonnen.

Trotz aller methodischen und wissenschaftlichen Sorgfalt bleibt unumstritten, dass mehrörtige Lebensweisen in Abhängigkeit der kulturellen Prägung, der jeweiligen Wertvorstellungen, der individuellen Biografien und Lebenssituationen und vielem mehr stets sehr unterschiedlich sind und sich dadurch nur schwer allgemein gültige Aussagen treffen lassen. Dennoch zeigt sich im Projekt TempALand, dass sich über eine große Anzahl an Experten*inneninterviews in Kombination mit anderen quantitativen und qualitativen Erfassungsmethoden diverse Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Phänomen Multilokalität herausfiltern lassen. Darüber hinaus wird die Komplexität und Vielfalt bei der Analyse der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen vom Phänomen Multilokalität betroffenen Handlungsfeldern deutlich (vgl. Beitrag Greinke/Albrecht/Othengrafen/Gutsche/Lehmann in diesem Band (Kap. 5)). Auch sind die generierten Ergebnisse auf der Ebene der Funktionsträger*innen, den multilokal lebenden Personen selbst und auch innerhalb der monolokal lebenden Bevölkerung von Interesse. Für die Funktionsträger*innen haben sie innerhalb der Projektlaufzeit bereits zur Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung für das Thema der Mehrörtigkeit beigetragen. Zukünftig sind aber weitere, vertiefende Studien nötig, um die Lebenswelt der Multilokalen nachzuvollziehen und auf die entsprechenden Auswirkungen dieser Lebensweise reagieren zu können. Dazu sind vor allem Langzeit- und Querschnittsuntersuchungen nötig, für die entsprechende Finanzierungen zur Verfügung gestellt werden müssen.