Im Folgenden sollen mit Blick auf die im letzten Kapitel herausgearbeiteten Implikationen zunächst die Zielsetzung und Fragestellungen der vorliegenden Untersuchung konkretisiert werden (Abschnitt 2.1). Daran anschließend wird der Untersuchungskontext, das Forschungsprojekt „Soziale Kompetenzen von Lehrkräften zur Entwicklung von Bildungschancen für Kinder in besonderen Lebenslagen (SKILL)“, vorgestellt (Abschnitt 2.2). Nach der Beschreibung der Fallauswahl und der konkreten Zusammensetzung des Samples (Abschnitt 2.3) folgt eine ausführliche Erläuterung der Erhebungs- und Auswertungsmethode (Abschnitt 2.4). Schließlich wird ein Modell für die Analyse von habituellen Dispositionen von Lehrkräften zur Unterstützung sozial benachteiligter und bisher im Bildungssystem ausgegrenzter Schüler*innen präsentiert (Abschnitt 2.5).

2.1 Zielsetzung und Fragestellungen

Die vorliegende Arbeit knüpft an die umrissenen Forschungsdesiderate und Schlussfolgerungen an und nimmt hierbei die Erfahrungen von Lehrkräften im Themenfeld Bildungsungleichheit und deren reflexive Bearbeitung in den Blick. Unter Bezugnahme auf das Habituskonzept von Bourdieu (u. a. 2005; 1987; 1982) geht es zunächst darum, Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata – kurz: habituelle Dispositionen – von Lehrkräften zur Unterstützung sozial benachteiligter bzw. bisher im Bildungssystem ausgegrenzter Schüler*innen abzubilden. Das heißt, im Mittelpunkt der Analyse stehen neben Formen der Differenzherstellung und Benachteiligung spezieller Schüler*innengruppen gleichermaßen kompensatorische Bearbeitungsformen von Bildungsungleichheit. Eine Ausrichtung an bereits vorhandenen Ressourcen der pädagogischen Arbeit soll den vielfältigen Bemühungen der Lehrkräfte Rechnung tragen und erscheint überdies sinnvoll, um mehr über das Potenzial zur Überwindung von Bildungsungleichheit herauszufinden.

In einem weiteren Schritt soll anhand des auf Bourdieu aufbauenden Ansatzes sozialer Milieus nach Vester, von Qertzen, Geiling, Hermann und Müller (2001) ermittelt werden, auf welche milieuspezifischen Erfahrungsräume die habituellen Dispositionen der Lehrkräfte zurückgeführt werden können. So ist in der Habitus- und Milieuforschung die ganze Person mit ihren systematischen Stellungnahmen, in denen eine allgemeine Grundhaltung zum Ausdruck kommt (Bourdieu, 1992), entscheidend. Neben einer vertikalen Unterscheidung der Lehrpersonen ist demnach eine horizontale Differenzierung der Habitusmuster einer sozialen Klasse möglich (Lange-Vester, 2015).

Diese Arbeit hat damit einerseits zum Ziel, ein tiefergehendes Verständnis von unterschiedlichen Passungskonstellationen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen ungleicher sozialer Herkunft zu erhalten und andererseits bereits vorhandene Ansätze und Entwicklungsmöglichkeiten zur Bearbeitung von Bildungsungleichheit zu bestimmen, die unmittelbar in den Wirkungsbereich der Lehrkräfte fallen.

Die zentralen Fragestellungen lauten demnach:

  1. (1)

    Welche Orientierungen und Wissensbestände, die im beruflichen Alltag handlungsleitend sind, lassen sich im Hinblick auf die Unterstützung sozial benachteiligter Schüler*innen rekonstruieren?

  2. (2)

    Inwiefern stehen die habituellen Dispositionen der Lehrkräfte in Beziehung zu ihren milieugeprägten biografischen Erfahrungen?

  3. (3)

    Und: Wo liegt im Rahmen der pädagogischen Arbeit auf Ebene der Lehrkräfte Potenzial zum Abbau von Bildungsungleichheit?

Das Erkenntnisinteresse und die daraus resultierenden Fragen dieser Arbeit versuchen folglich subjektive Sinn- und Deutungsmuster von Lehrkräften zum Umgang mit sozial benachteiligten Schüler*innen zu rekonstruieren und implizieren daher einen qualitativen Ansatz. Die Grundprinzipien der qualitativen Verfahren – Offenheit und Kommunikation – ermöglichen hierbei über den gesamten Erhebungs- und Auswertungsprozess, dass die untersuchten Lehrkräfte ihre Erfahrungen sowie ihre Relevanz-, Wissens- und Wertesysteme unabhängig von den Vorgaben der Forscherin entfalten können und sich die Forscherin methodisch kontrolliert den subjektiven Perspektiven annähern und den Sinn der Darstellungen für die jeweilige Person verstehen kann (Bohnsack, 2014a). Mit dem Erhebungsverfahren des leitfragengestützten Interviews, angelehnt an das problemzentrierte Interview von Witzel (2000), findet sich auf der einen Seite ein geeignetes Instrument für die narrative Ausgestaltung, sodass die befragten Lehrkräfte ihre eigene Sichtweise darlegen können. Auf der anderen Seite können durch den Leitfaden einzelne Themengebiete und Problemfelder der pädagogischen Arbeit behandelt werden (Nohl, 2017). Für die Analyse der narrativ fundierten Interviews eignet sich insbesondere die dokumentarische Methode von Ralf Bohnsack (1989), da sie ausdrücklich am Habituskonzept von Bourdieu orientiert ist und das implizite, atheoretische Wissen fokussiert, das die alltägliche Praxis strukturiert. So ermöglicht es die dokumentarische Methode, handlungsleitende inkorporierte Orientierungen der pädagogischen Arbeit als Muster des Habitus zu analysieren, die in der Regel den Lehrkräften nicht reflexiv zugänglich sind (u. a. Meuser, 2013; Bohnsack, 2012; Bohnsack & Pfaff, 2010). Durch den Ansatz der sozialen Milieus (Vester, von Oertzen, Geiling, Hermann, & Müller, 2001) können die latenten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster überdies in Verbindung zu ihrer sozialen Lage gebracht werden (Amling & Hoffmann, 2013).

2.2 Untersuchungskontext: das Forschungsprojekt „Soziale Kompetenzen von Lehrkräften zur Entwicklung von Bildungschancen für Kinder in besonderen Lebenslagen (SKILL)“

Die Interviews, die zur Analyse der habituellen Dispositionen von Lehrkräften im Themenfeld Bildungsungleichheit herangezogen werden, wurden im Forschungsprojekt „Soziale Kompetenzen von Lehrkräften zur Entwicklung von Bildungschancen für Kinder in besonderen Lebenslagen (SKILL)“ von der Autorin der vorliegenden Arbeit in der Rolle als wissenschaftliche Projektmitarbeiterin erhoben. Das Projekt SKILL wurde in der Zeit von Juli 2014 bis Dezember 2017 mit Mitteln des Ministeriums für Innovation, Forschung und Wissenschaft (MIWF) des Landes Nordrhein-Westfalen zum „Aufbau der Zentren für Lehrerbildung“ gefördert. Im Kontext des Förderprogramms „Bildungsforschung in der Lehrerausbildung“ wurden insgesamt acht Projekte im Bereich der Bildungsforschung und speziell der Ausbildung für Lehrkräfte an der Universität Duisburg-Essen ausgewählt, die langfristig auf eine forschungsbasierte Weiterentwicklung der universitären Lehrer*innenausbildung abzielenFootnote 1.

Die SKILL-Studie beschäftigt sich mit dem Umgang mit sozialer Heterogenität vor der Zieldimension fairer Bildungschancen für Kinder in besonderen Lebenslagen. Hierbei bedient das Projekt einen Bedarf an sozialwissenschaftlichem Grundlagenwissen für eine Erziehungsreflexion, die die eigene milieuspezifische Sozialisation und die der Schüler*innen einbezieht (Matter & Brosziewski, 2014). Im Zentrum der Untersuchung stehen erlernbare soziale Kompetenzen, die es den Lehrkräften ermöglichen, Schüler*innen unabhängig von ihrer Herkunft gleichermaßen Anerkennung und Lernfähigkeit zu vermitteln. Sogenannte Sozioanalysekompetenzen, die auf Bourdieus Prinzip wissenschaftlicher Reflexivität rekurrieren (Bourdieu, 1997), umfassen die Fähigkeit, Motivation und Möglichkeit, durch Vorurteile, Routinen und institutionalisierte Legitimationen motivierte Förder- und Laufbahnentscheidungen durch analytisch fundierte zu ersetzen. Durch Kontrolle der eigenen sozialen und professionellen Praxis soll deren Auswirkung auf die schulische Vergabe von Bildungs- und Lebenschancen an den institutionellen Übergängen verringert werden. Dieses Vermögen bedarf der Analyse gesellschaftlicher Machtstrukturen und der eigenen Rolle darin. Ausgehend von der Annahme, dass sozioanalytisch kompetente Lehrkräfte durch systematische Ressourcenungleichheit und kritische Lebensereignisse verursachte Bildungsrisiken besser kompensieren, erfasst das Projekt erstmalig Daten zu Verteilung und Wirkung von, sowie Bedarf an sozioanalytischen Kompetenzen. Die gewonnenen Erkenntnisse fließen unmittelbar in die Konzeption eines Lehr-Lernkonzept im Lehramtsstudium zum Umgang mit Schüler*innen in besonderen Lebenslagen einFootnote 2.

Während der Projektzeit wurden insgesamt zwölf offene, leitfadengestützte Interviews und sechs Gruppendiskussionen mit Lehrkräften geführt, die unterschiedliche Perspektiven auf sozioanalytische Kompetenzen zulassen. Die vorliegende Arbeit nutzt die zwölf Leitfadeninterviews der SKILL-Studie. Diese werden mit anderer theoretischer und methodischer Stoßrichtung als in dem Forschungsprojekt SKILL vertiefend und ergänzend analysiert. Während im SKILL-Projekt anhand der Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring (2015) das empirische Ausmaß von Sozioanalysekompetenzen in den Blick genommen wurde, soll in dieser Arbeit mittels der dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack (1989) die Bedeutung der sozialen Herkunft der Lehrkräfte auf das pädagogische Handeln näher betrachtet werden. So richtet die vorliegende Arbeit den Fokus auf die habitus- und milieuspezifischen Dispositionen zur Unterstützung sozial benachteiligter Schüler*innen. Ein weiterer Unterschied zu dem Forschungsprojekt SKILL besteht in der Darstellungsweise: In Form von vier ausführlichen Fallanalysen wird in Kapitel 3 die Gesamtgestalt jedes Falles entfaltet, um so die Vielfalt und Komplexität des pädagogischen Handelns aufzuzeigen.

2.3 Fallauswahl und Zusammensetzung des Samples

Angesichts dessen, dass es Grundschulen gelingt, soziale Disparitäten vergleichsweise gering zu halten, während diese im Verlauf der Sekundarstufe I deutlich zunehmen, fokussiert die vorliegende Untersuchung den Primarschulbereich. So scheint in der Grundschule formelle Chancengleichheit grundsätzlich erfahrbar zu sein, was damit zusammenhängt, dass es im Primarschulbereich mit der Grundschule nur eine Schule für alle Kinder gibt und nahezu alle Kinder ihre Schulpflicht in dieser Schulform wahrnehmen (van Ackeren, Klemm, & Kühn, 2015). Das lässt den Schluss zu, dass es von der konkreten Ausgestaltung pädagogischer Beziehungen abhängig ist, ob soziale Ungleichheit kompensiert oder verstärkt wird (Scherr, 2014).

Entscheidend für das Sampling war die in der qualitativen Sozialforschung gebräuchliche gezielte Auswahl der Untersuchungsgruppe, bei der „die im Untersuchungsfeld tatsächlich vorhandene und für die Forschungsfragestellung relevante Heterogenität“ (Kelle & Kluge, 2010, S. 109, Hervorhebung im Original, Anmerkung S. R.) berücksichtigt werden soll. Im Gegensatz zum theoretical sampling, bei dem die zu untersuchenden Fälle „sukzessive im Wechsel von Erhebung, Entwicklung theoretischer Kategorien und weiterer Erhebung“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014, S. 182) ausgesucht werden, wurden die Grundschulen bzw. Lehrkräfte der vorliegenden Untersuchung hinsichtlich vorab festgelegter Vergleichsdimensionen zusammengestellt, um eine möglichst große Bandbreite an Fällen sicherzustellen. Etwa wurden in Anlehnung an das Standorttypenkonzept von Kevin Isaac (2011) Schulen mit unterschiedlichen strukturellen Rahmenbedingungen einbezogen:

  • Schulen, die dem Standorttyp 1 zugewiesen werden, befinden sich in einer Umgebung mit einem sehr niedrigen Anteil (unter 5 Prozent) von Empfänger*innen staatlicher Sozialhilfeleistungen, Arbeitslosen und Personen mit Migrationshintergrund. Die elterliche Wohnung liegt in einem Wohngebiet mit einem hohen Wohnwert, dessen Einwohner*innen ein hohes Einkommen aufweisen.

  • Schulen mit dem Standorttyp 2 haben einen niedrigen Anteil (zwischen 5 und 15 Prozent) von Schüler*innen mit Migrationshintergrund und Schüler*innen, deren Eltern staatliche Sozialhilfeleistungen beziehen oder arbeitslos sind. Für die Mehrzahl der Schüler*innen gilt, dass die elterliche Wohnung in einem Wohngebiet mit einem relativ hohen Wohnwert liegt, dessen Einwohner*innen ein überdurchschnittliches Einkommen erzielen.

  • Schulen, die dem Standorttyp 3 zugeordnet werden, blicken auf einen durchschnittlichen Anteil (zwischen 15 und 25 Prozent) von Schüler*innen mit Migrationshintergrund und Schüler*innen, deren Eltern staatliche Sozialhilfeleistungen beziehen oder arbeitslos sind. Überwiegend stammen die Schüler*innen aus einem Wohnumfeld mit einem durchschnittlichen Wohnwert, dessen Einwohner*innen mit einem durchschnittlichen Einkommen ausgestattet sind.

  • Schulen, die dem sozialräumlich benachteiligten Standorttypen der Stufe 4 und 5 angehören, befinden sich in einer Umgebung mit einem hohen Anteil (zwischen 25 und 40 Prozent) bzw. einem sehr hohen Anteil (über 40 Prozent) von Empfänger*innen staatlicher Sozialhilfeleistungen, Arbeitslosen und Personen mit Migrationshintergrund. Das Wohnumfeld hat einen unterdurchschnittlichen oder sehr geringen Wohnwert und die Einwohner*innen verfügen lediglich über ein unterdurchschnittliches bzw. sehr geringes Einkommen (ebd.).

Da eine Veröffentlichung der Zuordnung einzelner Schulen zu den Standorttypen nicht vorlag, erfolgte zunächst auf Basis amtlicher Statistiken eine intensive Recherche zu Sozialdaten von ländlichen Regionen, Mittel- und Großstädten in Nordrhein-Westfalen, die eine ungefähre Einteilung unterschiedlicher Standorte ermöglichte. Beispielsweise weist die Großstadt Duisburg mit 34,5 Prozent einen hohen Anteil von Einwohner*innen mit Migrationshintergrund auf. Die Arbeitslosenquote mit 14,3 Prozent liegt über dem Landesdurchschnitt von 8,5 Prozent. Der Anteil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach SGB II beträgt 16,4 Prozent (MFKJKS, 2017). Demnach wurden unter Vorbehalt Duisburger Schulen zunächst generell dem Standorttyp 3 bis 4 zugewiesen. Nachdem auf diese Art und Weise potenzielle unterschiedliche Standorttypen ermittelt wurden, konnten über das Bildungsportal des Landes Nordrhein-WestfalenFootnote 3 entsprechende Grundschulen online gesucht werden. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Die Datenbank enthält 75 öffentliche Grundschulen in DuisburgFootnote 4. Auf dieser Grundlage wurden insgesamt 95 Grundschulen aus unterschiedlichen Regionen in ganz Nordrhein-Westfalen ausgewählt.

Um die Schulen für das Forschungsprojekt zu akquirieren, wurde zwischen September 2014 und März 2015 eine formelle Anfrage mit Kurzinformation zum Forschungsprojekt per E-Mail und Brief an die Schulleitung der ausgewählten Schulen verschickt. Da in den wenigsten Fällen eine Rückmeldung der Schulen erfolgte, wurde in Folge per Telefon direkt Kontakt zu der jeweiligen Schulleitung aufgenommen. Sofern die Schulleitungskräfte grundsätzlich Bereitschaft zur Teilnahme an der Studie signalisierten, wurde ausführlicher als in der vorab geschickten Kurzinformation über das Forschungsvorhaben und das Erkenntnisinteresse, die Erhebungsmethoden und den Umgang mit den gewonnenen Daten informiert. Hierbei wurde darauf geachtet, dass dies in einer Weise geschieht, die die Forschungsergebnisse nicht beeinflusst (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). Die Schulleitungskräfte haben gewöhnlich im Anschluss an das Telefongespräch dem Kollegium die Informationen zum Forschungsprojekt und die Bitte zur Teilnahme an der Studie weitergereicht und gegebenenfalls den Kontakt zwischen den teilnehmenden Lehrkräften und der Autorin der vorliegenden Arbeit hergestellt. Schließlich folgte ein telefonisches Vorgespräch mit den Lehrkräften, um zeitnah flexible Termine für die Interviews bzw. Gruppendiskussionen abzusprechen. Hierbei wurde auch geklärt, ob die Lehrkräfte mit der jeweiligen Erhebungsform und der Audioaufzeichnung des Gespräches einverstanden sind. Zudem wurden die Teilnehmer*innen über die Anonymisierung des erhobenen Materials und die vertrauliche Behandlung der Daten aufgeklärt. Als Zeithorizont wurden zwei bis drei Schulstunden vereinbart. Alle Gespräche fanden auf Wunsch der Lehrkräfte vor Ort in den Schulen statt.

Von insgesamt 95 Grundschulen, die für die Untersuchung in Betracht gezogen wurden, erklärten sich letztlich 16 Schulen bzw. 42 Lehrkräfte bereit, an der Untersuchung teilzunehmenFootnote 5. Tabelle 2.1 gibt einen Überblick über das Sample.

Tabelle 2.1 Übersicht über das Sample des Forschungsprojektes SKILL

Darüber hinaus war bei der Fallauswahl zentral, möglichst vielfältige personenspezifische Merkmale einzubeziehen. So wurden Lehrkräfte verschiedener Altersgruppen und mit unterschiedlicher Berufserfahrung berücksichtigt: Im Hinblick auf die Interviews befinden sich Frau Akay, Frau Antonova, Frau Haas, Herr Jansen, Frau Kamper und Frau Roth in der Berufseingangsphase. Der Phase der beruflichen Etablierung können Frau Berger, Frau Schneider und Frau Seidel zugeordnet werden. Frau Neumann, Frau Pfeiffer und Herr Weber befinden sich hingegen in der Phase des Berufsausklangs. Der allgemein hohe Frauenanteil an Grundschullehrkräften (Spitz, 2002) spiegelt sich auch im vorliegenden Sample wider: Von insgesamt 42 teilnehmenden Lehrkräften sind 38 Frauen.

2.4 Themenzentrierte Interviews und dokumentarische Methode

In diesem Unterkapitel soll zunächst theoretisch begründet werden, warum themenzentrierte Interviews als Erhebungsmethode (Abschnitt 2.4.1) und die dokumentarische Methode als Auswertungsverfahren (Abschnitt 2.4.2) für die vorliegende Untersuchung gewählt wurden, um dann das forschungspraktische Vorgehen der Interviewanalyse mithilfe der dokumentarischen Methode assssssufzuzeigen (Abschnitt 2.4.3).

2.4.1 Grundzüge themenzentrierter Interviews

Das themenzentrierte Interview lehnt sich an das von Andreas Witzel (2000) konzipierte problemzentrierte Interview an, das „auf eine möglichst unvoreingenommene Erfassung individueller Handlungen sowie subjektiver Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen“ (ebd., S. 1) zielt und dabei „das unvermeidbare, und damit offenzulegende Vorwissen […] in der Erhebungsphase als heuristisch-analytische[n] Rahmen für Frageideen im Dialog zwischen Interviewern und Befragten“ (ebd., S. 2) nutzt. Diese Interviewvariante basiert demnach auf einem problemorientierten Sinnverstehen, innerhalb dessen die Forschenden eigenes, oftmals theoretisches Vorwissen nutzen und unter Umständen die Befragten damit auch im Interview konfrontieren (Kruse, 2011). Wie die Bezeichnung nahelegt, steht im Mittelpunkt themenzentrierter Interviews ein ganz bestimmtes Thema. So geht es in den vorliegenden Interviews um den Umgang mit sozial benachteiligten und bisher im Bildungssystem ausgegrenzten Schüler*innen, der aus der Perspektive der Lehrkräfte dargestellt und erörtert werden soll.

Sowohl das problem- als auch das themenzentrierte Interview wird leitfadengestützt geführt. Dieser Leitfaden enthält problem- bzw. themenbezogene Fragen, die auf das theoretische Vorwissen der Forschenden rekurrieren. Der Leitfaden dient „als Gedächtnisstütze und Orientierungsrahmen zur Sicherung der Vergleichbarkeit der Interviews“ (Witzel, 2000, S. 4). Idealerweise werden die Fragen des Leitfadens nicht im Sinne einer „Leitfadenbürokratie“ (Hopf, 1978, S. 101) nacheinander abgearbeitet, sondern sie begleiten den Kommunikationsprozess. Zudem ermöglicht der Leitfaden Kontrolle darüber, inwieweit einzelne Problem- bzw. Themenbereiche im Laufe des Gesprächs behandelt worden sind (Witzel, 2000). In diesem Fall bezogen sich die Themenfelder auf die Wahrnehmung der Schule und der Schüler*innenschaft, auf die konkrete Umgangsweise mit sozial benachteiligten Schüler*innen sowie auf die Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung. Der Leitfaden orientiert sich idealerweise an einer kommunikativen und systematischen Ordnung und sollte sich von offenen zu spezifischen Fragen bewegen. Hierbei muss diese Ordnung in der Praxis der Relevanzstruktur des Interviewten nachgeordnet werden (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014).

Beide Interviewformen sind trotz ihrer Fokussierung auf bestimmte Themengebiete bzw. Problemfelder und der Strukturierung durch einen Leitfaden prinzipiell narrativ fundiert und zielen auf die Artikulation von Erfahrungen. Aus diesem Grund wird im Interview darauf geachtet, dass die Befragten nicht nur Meinungen, Einschätzungen und Stellungsnahmen frei berichten, sondern auch thematisch gebundene Erzählungen und Beschreibungen generieren (Nohl, 2017). Die von Fritz Schütze (1987) vorgeschlagene Unterscheidung der Textsorten Erzählung, Beschreibung, Argumentation und Bewertung ist für die Auswertung der Interviews mithilfe der dokumentarischen Methode entscheidend. So zeichnen Erzählungen sich dadurch aus, dass Handlungs- und Geschehensabläufe dargestellt werden, die einen Anfang, ein Ende und einen zeitlichen Verlauf haben. Beschreibungen hingegen umfassen immer wiederkehrende Handlungsabläufe oder feststehende Sachverhalte. Argumentationen sind (alltags-)theoretische Zusammenfassungen zu den Motiven, Gründen und Bedingungen für eigenes oder fremdes Handeln und Bewertungen sowie Stellungnahmen zu eigenem oder fremdem Handeln (Nohl, 2017). Die Textsorten wechseln sich hierbei im Interview nicht einfach ab, sondern stehen in einem „Vorder-Hintergrund-Verhältnis“ zueinander (ebd., S. 22), das häufig ineinander verschachtelt ist. Kallmeyer und Schütze (1977) zufolge kann aufgrund der Zugzwänge des Erzählens von einem engen Zusammenhang zwischen erzählter und erlebter Erfahrung ausgegangen werden. Aufgrund dessen, dass die befragte Person getrieben ist, sich an die tatsächliche Abfolge der erlebten Ereignisse zu halten, und die in der Erzählung dargestellten Strukturen abzuschließen und dabei nur das zu schildern, was innerhalb der erzählenden Geschichte relevant ist, verstrickt sie sich in den eigenen Erfahrungen und gewährt somit einen tiefen Einblick in biografische Erfahrungsaufschichtungen. Gleiches gilt für Beschreibungen, die ebenfalls dicht an der erzählten Zeit sind (Nohl, 2017). Im Gegensatz zu Erzählungen und Beschreibungen wird in Argumentationen und Bewertungen vor allem der Kommunikationssituation und dem Gesprächscharakter des Interviews Rechnung getragen, indem gegenüber dem Interviewer bzw. der Interviewerin Motive, Gründe und Bedingungen sowie Stellungnahmen zu den Darstellungen expliziert und theoretisiert werden. Dadurch sind Argumentationen und Bewertungen stärker an die erzählte Zeit – also die Interaktion zwischen Interviewenden und Interviewtem – gebunden (ebd.).

Mithilfe der dokumentarischen Methode lässt sich die Unterscheidung von Erzählungen und Beschreibungen einerseits und Argumentationen und Bewertungen andererseits theoretisch fassen: Die Erfahrung unmittelbarer Handlungspraxis ist derart an das praktische Handeln gebunden und besitzt eine solche Selbstverständlichkeit, dass sie von den Akteuren nicht kommunikativ expliziert werden, sondern nur erzählt und beschrieben werden kann. Die Erzählungen und Beschreibungen dienen also dazu, das atheoretische und konjunktive Wissen zu erheben. Da sich das kommunikative Wissen zumeist auf die Motive des Handelns bezieht, korrespondiert es vor allem mit den Textsorten Argumentation und Bewertung (ebd.). Dieses Phänomen soll im Folgenden ausführlich behandelt werden.

2.4.2 Methodologische Grundlagen der dokumentarischen Methode

Die dokumentarische Methode, die in der Tradition der Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1964), der Ethnomethodologie von Harold Garfinkel (1967) und der Kultur- und Bildungssoziologie von Pierre Bourdieu (1982) steht, hat sich seit Ende der 1980er Jahren im Zuge ihrer Ausarbeitung und Weiterentwicklung durch Ralf Bohnsack (1989) und andere (u. a. Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014; Amling & Hoffmann, 2013; Bohnsack, Nentwig-Gesemann, & Nohl, 2013; Asbrand, 2011) im deutschsprachigen Raum als eine zentrale Methodologie in der qualitativen Sozialforschung etabliertFootnote 6. Neben den Gebieten der Jugend-, Sozialisations- und Geschlechterforschung entstand eine breite Forschungstradition, die sich auf Prozesse, Akteure und Institutionen im Bereich der Bildung und Erziehung bezieht (Bohnsack & Pfaff, 2010). Insbesondere im Feld der schul- und unterrichtsbezogenen Ungleichheitsforschung und der Professionalisierung von Lehrkräften liegen zahlreiche Studien vorFootnote 7 (u. a. Kramer, Helsper, Thiersch, & Ziems, 2013; Krüger, Köhler, Zschach, & Pfaff, 2008; Lamprecht, 2007). Die ursprünglich von Bohnsack (1989) für die Analyse von Gruppendiskussionen entwickelte Methode gewinnt überdies zunehmend an Bedeutung in den Bereichen der Interviewanalyse (Nohl, 2017) sowie der Bild- und Videoanalyse (Asbrand & Martens, 2018). Grundsätzlich zielen die Auswertungen mit der dokumentarischen Methode auf die Rekonstruktion des handlungspraktischen, impliziten Erfahrungswissen. Die Methode zeichnet sich entsprechend durch „eine methodologisch begründete und die empirische Forschung fundierende Hinwendung zur Praxis sozialen Handelns aus“ (Bohnsack, 2012, S. 120).

In Anlehnung an die praxeologische Wissenssoziologie von Mannheim (1964) unterscheidet das dokumentarische Verfahren zwischen kommunikativem oder auch kommunikativ-generalisierendem und konjunktivem Wissen. Diese Differenzierung stellt die wesentliche theoretische Grundlage der dokumentarischen Methode dar (Bohnsack, 2014a). Das kommunikative Wissen wird begrifflich expliziert und beinhaltet theoretische, bewertende und normative Aussagen über die eigene Handlungspraxis und ist mit Intentionalität und Zweckrationalität verbunden (Asbrand, 2011). Es bezieht sich demnach zumeist auf die Motive des Handelns – im Sinne von Alfred Schütz (1974) auf sogenannte Um-zu-Motive. Ein solches Wissen hat eine öffentliche bzw. gesellschaftliche Bedeutung und wird allgemein geteilt und verstanden. Es geht also um die Dimension der Alltagstheorien, der Common Sense-Theorien. Diese Wissensform ist den Akteuren selbst reflexiv zugänglich (Bohnsack & Pfaff, 2010). Das konjunktive Wissen ist hingegen implizites bzw. inkorporiertes Wissen, das Mannheim auch als atheoretisches Wissen bezeichnet. Diese Wissensform bestimmt das Denken und Handeln in der Regel vorreflexiv und wird von den Akteuren selbst nicht expliziert (ebd.). Am bekannten Beispiel der Herstellung eines Knotens erläutert Mannheim, dass die Aneignung der Handlungspraxis kaum auf dem Weg theoretischer Explikation, sondern vielmehr durch eine bildliche Darstellung oder praktische Demonstration gelingt. Die imaginative Vergegenwärtigung des Herstellungsprozesses ist nach Mannheim das Produkt impliziter Wissensbestände. Solange es (mentaler) Bilder bedarf, um in der Praxis erfolgreich einen Knoten zu knüpfen, ist der ‚Modus Operandi‘ noch nicht vollständig automatisiert und verinnerlicht (Bohnsack, 2012). Das inkorporierte konjunktive Wissen beruht hingegen auf kollektiv geteilten Erfahrungen – auf sogenannten konjunktiven Erfahrungsräumen. Hierbei handelt es sich um existenziell bedeutsame Erlebniszusammenhänge, in denen soziale Akteure aufgrund einer gemeinsamen Sozialisationsgeschichte strukturidentische Erfahrungen, Wissensbestände sowie eine bestimmte Handlungspraxis teilen und aufgenommen haben (Bohnsack, 2014a). In diesem Kontext unterscheidet Mannheim auch zwischen „zwei fundamental unterschiedliche[n|Modi der Erfahrung bzw. der Sozialität“ (ebd., S. 61): Verstehen und Interpretieren. Diejenigen, die durch konjunktive Erfahrungen miteinander verbunden sind, verstehen einander unmittelbar und intuitiv und müssen sich gegenseitig nicht erst interpretieren (ebd.). Zum Beispiel ist der Begriff ‚Dorf‘ in einer verwaltungsmäßigen, juristischen, verkehrstechnischen oder auch wissenschaftlichen Bedeutung mehr oder weniger öffentlich verfügbar und von anderen Begriffen wie ‚Stadt‘ abgrenzbar. Mannheim spricht hier von einem kommunikativen oder auch kommunikativ-generalisierenden Wissen. Die kommunikative Verständigung über die Alltagspraxis in einem Dorf beruhen ihm zufolge auf wechselseitiger Perspektivenübernahme. Für diejenigen, die im Dorf wohnen und Erfahrungen der dörflichen Alltagskultur miteinander teilen und inkorporiert haben, gewinnt der Begriff ‚Dorf‘ an zusätzlicher Bedeutung – Mannheim nach handelt es sich hier um konjunktives Wissen bzw. um einen konjunktiven Erfahrungsraum. Das konjunktive Wissen bzw. die konjunktiven Erfahrungen der Alltagspraxis in einem Dorf können auch jenseits persönlicher Bekanntschaft und direkter Interaktion bestehen, vielmehr konstituiert allein die „gemeinsame Existenz in derartigen geistigen Beziehungen […] einen ‚konjunktiven Erfahrungsraum‘“ (ebd., S. 63), im Rahmen dessen die sozialen Akteure einander wechselseitig verstehen.

Durch die Unterscheidung zwischen kommunikativ-generalisierendem und konjunktivem Wissen trägt die Wissenssoziologie nach Mannheim der „Doppelstruktur alltäglicher Verständigung und Interaktion“ (Bohnsack & Pfaff, 2010, S. 4) Rechnung. So haben Bezeichnungen und Äußerungen immer eine öffentliche bzw. gesellschaftliche sowie eine nichtöffentliche und erfahrungsspezifische Bedeutung (ebd.). Analog zu den zwei Sinngehalten der Erfahrungen Verstehen und Interpretieren existieren zwei unterschiedliche Sinnebenen der Kommunikation bzw. Interaktion: der immanente und der dokumentarische Sinngehalt. So bezieht sich der immanente Sinngehalt auf die wörtliche und explizite Bedeutung von Schilderungen. Der hiervon unterschiedene dokumentarische Sinngehalt oder auch Dokumentsinn bezeichnet hingegen die Art und Weise, wie ein Thema behandelt wird und umfasst, was sich in der Kommunikation bzw. Interaktion über den subjektiv gemeinten Sinn hinaus dokumentiert (Nohl, 2017).

Die dokumentarische Methode in ihrem heutigen Verständnis knüpft unmittelbar an die Konzeption des Habitus von Bourdieu an. Zwar findet sich in Bourdieus Werken selbst kein systematischer Wissensbegriff, jedoch kann der Habitus in der praxeologischen Wissenssoziologie als eine „wissenssoziologische Kategorie“ (Meuser, 2013, S. 235) verstanden werden, die mit zentralen Begriffen der Wissenssoziologie Mannheims in Beziehung gesetzt wird (ebd.). Dadurch erfährt insbesondere das Konzept des (inkorporierten) atheoretischen Wissens bzw. des konjunktiven Erfahrungsraumes eine theoretische Präzisierung (Bohnsack, 2012):

  1. (1)

    Deutlich erkennbar, korrespondiert Bourdieus Habitusbegriff mit Mannheims Vorstellung einer ‚Seinsverbundenheit des Denkens‘ (Mannheim, 1929). So verweist der Habitus auf eine spezifische soziale Lage, deren Strukturen sich in den inkorporierten Schemata des Habitus niederschlagen (Meuser, 2013). Als strukturierte Struktur bzw. als ‚Opus Operatum‘ repräsentiert der Habitus die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die vom Individuum in Abhängigkeit seiner Existenzbedingungen der sozialen Herkunft bzw. seiner sozialräumlich unterschiedlichen Erfahrungs- und Lernvorgänge im Zuge der Sozialisation inkorporiert wurden (Bourdieu, 1987). Bourdieu und Mannheim gehen demnach beide davon aus, dass die sozialen Verhältnisse, in denen soziale Akteure leben oder aufgewachsen sind, sich in den „Modi der Welterfahrung“ (Meuser, 2013, S. 225) widerspiegeln. Bedeutsam für eine ähnliche Art und Weise, die Welt wahrzunehmen und darin zu handeln, sind den beiden Soziologen zufolge strukturidentische Erfahrungen und nicht die unmittelbare Interaktion sozialer Akteure (ebd.). Laut Bourdieu (1987) bewirkt die aus gleichartigen sozialen Lebenszusammenhängen resultierende „Homogenisierung der Habitusformen“ (ebd., S. 109) einer sozialen Gruppe, dass Praktiken von Akteuren derselben Klasse bzw. desselben Milieus „ohne jede direkte Interaktion und damit erst recht ohne ausdrückliche Abstimmung einander angepaßt werden können“ (ebd., Hervorhebung im Original, Anmerkung S. R.). Weil die Habitusformen durch eine „identische Geschichte“ (ebd., S. 111) geprägt sind, können die Akteure mit ähnlichen inkorporierten Habitusschemata einander wechselseitig verstehen, ohne dass ein „bewusstes Hineinversetzen in den anderen“ (ebd.) erforderlich wird.

  2. (2)

    In einem konjunktiven Erfahrungsraum kann danach von einer habituellen Übereinstimmung der sozialen Akteure ausgegangen werden (Meuser, 2013). In diesem Sinn hat der konjunktive Erfahrungsraum zwar eine objektive Struktur, ist aber Mannheim zufolge ein „objektiv-geistiger Strukturzusammenhang“ (Mannheim, 1980, S. 250), der nicht als ein von außen auf das Handeln wirkender Einfluss zu verstehen ist. Die Strukturen liegen nicht jenseits der Handlungspraxis, sondern resultieren vielmehr „aus dem sinnvollen Zusammenspiel der individuellen Bewußtseinsvollzüge“ (ebd.). Mithilfe des Habituskonzepts kann erklärt werden, wie dieses Zusammenspiel der Bewusstseinsvollzüge zustande kommt. So geht Bourdieu davon aus, dass der Habitus zwar durch soziale Strukturen bestimmt ist, zugleich aber Handlungen, die zur Konstitution von Praxisformen beitragen, sowie unterschiedliche Wahrnehmungen und Bewertungen dieser Praxisformen hervorbringt. Der Habitus als ein dauerhaftes und übertragbares Dispositionssystem sozialer Akteure fungiert demnach als „Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen“ (Bourdieu 1987, S. 98). Bourdieu spricht hierbei von der strukturierenden Struktur bzw. von dem ‚Modus Operandi‘ des Habitus. Die Handlungspraxis ist demnach weder beliebig noch willkürlich, sondern folgt einer sozialen Logik. Bourdieu betont, dass der Habitus zwar die Tendenz der Reproduktion von Existenzbedingungen habe, diese aber nicht als mechanischer Determinismus zu verstehen ist. Vielmehr handelt es sich um Einschränkungen und Grenzen, im Rahmen deren Kreativität möglich ist. Der Habitus ist in der Lage, unendliche viele Praktiken, allerdings von begrenzter Verschiedenartigkeit, hervorzubringen (ebd.). Stark vereinfachend kann zusammengefasst werden, dass einerseits die soziale Struktur den Habitus bestimmt (strukturierte Struktur), andererseits dieser das Handeln und damit auch die soziale Struktur generiert (strukturierende Struktur). Das konjunktive Wissen stellt demzufolge ein milieuspezifisches Wissen dar, das „in der gemeinsam gelebten Praxis angeeignet wird und diese Praxis zugleich in habitualisierter Weise orientiert“ (Bohnsack, 2003, S. 137).

Um die Struktur der Handlungspraxis im Sinne des ‚Modus Operandi‘ zu beschreiben, verwendet die praxeologische Wissenssoziologie den Begriff des Orientierungsrahmens und weist damit große Überschneidungen zum Habituskonzept bei Bourdieu auf, insofern es sich um das inkorporierte und nicht um das implizite Wissen handelt. Wenngleich der Begriff des Orientierungsrahmens oftmals synonym mit demjenigen des Habitus verwendet wird, erweitert der Begriff des Orientierungsrahmens indes das Habituskonzept von Bourdieu um den Aspekt, „dass und wie der Habitus sich in der Auseinandersetzung mit den Orientierungsschemata, also u. a. den normativen resp. institutionellen Anforderungen und denjenigen der Fremd- und Selbstidentifizierung, immer wieder reproduziert und konturiert“ (ebd., 2013, S. 181). Das Zusammenspiel von Orientierungsrahmen und Orientierungsschemata bezeichnet Bohnsack auch als Spannungsverhältnis. So erhalten „aus praxeologischer Perspektive die Orientierungsschemata ihre eigentliche Bedeutung erst durch die Rahmung, d. h. die Integration und ‚Brechung‘ in und durch die fundamentale existentielle Dimension der Handlungspraxis“ (ebd.). Vor dem Hintergrund, dass die Schule einige Aspekte einer totalen Institution aufweist, erscheint es für die vorliegende Arbeit demnach besonders wichtig, die Kategorie des Habitus in einem systematischen Bezug zu den Normen, Erwartungshaltungen und Zwängen des institutionalisierten Handelns zu verorten (ebd., 2014b).

Durch die Unterscheidung zwischen Orientierungsrahmen und Orientierungsschemata grenzt sich Bohnsack von Bourdieus Habituskonzept somit in Teilen ab. Eine weitere Abweichung zu Bourdieu besteht hinsichtlich der Genese des Habitus. So geht in der dokumentarischen Methode der Habitus wesentlich aus Konjunktionen, d. h. aus Gemeinsamkeiten und Strukturidentitäten der Erlebnisschichtung bzw. der Sozialisationsgeschichte hervor. Bei Bourdieu hingegen resultiert der Habitus primär aus Distinktionen (ebd., 2013). Auch ist das Milieukonzept, das in Arbeiten der dokumentarischen Methode verwendet wird, in Bezug auf die Anschlussfähigkeit zu dem Milieukonzept der Forschungsgruppe um Vester zu diskutieren. Bremer (2012) kritisiert, dass der Milieubegriff in der dokumentarischen Methode vage und unscharf erscheint und „bisher nicht an den sozialstrukturell akzentuierten und etablierten Begriff des „sozialen Milieus“ angeschlossen wurde“ (ebd., S. 840.). Dadurch kann Bremer zufolge gewissermaßen jede Arbeit, die sich auf die dokumentarische Methode stützt, als Milieuforschung bezeichnet werden.

2.4.3 Forschungspraktische Umsetzung der dokumentarischen Interpretation von themenzentrierten Interviews

Die methodologische Unterscheidung zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen bzw. Orientierungsschema und Orientierungsrahmen findet ihren Ausdruck in zwei klar voneinander abgrenzbaren Arbeitsschritten: der formulierenden und der reflektierenden Interpretation (Bohnsack & Pfaff, 2010).

In der formulierenden Interpretation geht es zunächst darum, Themen zu identifizieren, die im gesamten Diskursverlauf von den Befragten angesprochen werden (Bohnsack, 2014a). Die thematische Gliederung bezieht sich somit mehr auf den immanenten Sinngehalt, als auf das, was (wörtlich) gesagt wird (Bohnsack & Pfaff, 2010). Die von den Befragten behandelten Gesprächsgegenstände werden hierbei mit den eigenen Worten der Forschenden zusammengefasst, wobei konsequent das Relevanzsystem der Befragten beibehalten wird (Bohnsack, 2014a). Im Forschungsprozess beginnt die formulierende Interpretation noch vor der Transkription. Mithilfe des thematischen Verlaufs des gesamten Interviews, der anhand der Audioaufnahmen angefertigt wird, können die jeweils zu transkribierenden Interviewabschnitte ausgewählt werden. Von Interesse sind hierbei Themen, die im Vorfeld der empirischen Untersuchung von den Wissenschaftler*innen festgelegt, oder die in unterschiedlichen Fällen in ähnlicher Weise von den Interviewten behandelt werden. Zur Auswahl stehen ebenfalls sogenannte „Fokussierungsmetaphern“ (Bohnsack, 2012, S. 129), also Interviewstellen, in denen sich die Befragten besonders umfassend, engagiert und metaphorisch äußern (Nohl, 2017). In der vorliegenden Arbeit wurden die Interviews nicht nur passagenweise, sondern komplett in Anlehnung an die Transkriptionsrichtlinien „Talk in Qualitative Social Research (TiQ)“ nach Przyborski (1998) verschriftlicht. Die folgende Tabelle fasst die Konventionen und Symbole, die für diese Arbeit verwendet wurden, zusammen (Tabelle 2.2).

Tabelle 2.2 Übersicht über die Transkriptionsrichtlinien “Talk in Qualitative Social Research (TiQ)” (auf Grundlage von: Przyborski, 1998)

Nach der Transkription der ausgewählten Passagen erfolgt eine formulierende Feininterpretation, bei der die thematische Struktur in seiner Gänze erarbeitet wird (Bohnsack & Pfaff, 2010). Dabei wird das Transkript sequenziell nach thematischen Wechseln untersucht, um Ober- und Unterthemen ausfindig zu machen. Zu jedem Unterthema wird dann eine ausführliche Zusammenfassung in der Sprache der Forschenden und ohne Deutung angefertigt (Nohl, 2017).

In der reflektierenden Interpretation erfolgt ein Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie. Im Fokus steht die Frage, in welcher Art und Weise ein Thema behandelt wird, also welche Sinnkonstruktion hinter den Darstellungen steht. Gegenstand der reflektierenden Interpretation ist demnach der dokumentarische Sinngehalt. Dieser Interpretationsschritt distanziert sich somit von der Frage, ob die Darstellungen der Interviewten der Wahrheit oder der normativen Richtigkeit entsprechen. Es interessiert ausschließlich, was sich in den Äußerungen über die Interviewten dokumentiert (Bohnsack, 2014a). Insgesamt geht es um die Identifizierung von Orientierungsmustern, die sich aus Orientierungsschemata sowie Orientierungsrahmen zusammensetzen. Da sich Orientierungsschemata auf „institutionalisierte und in diesem Sinn normierte Ablaufmuster oder Erwartungsfahrpläne“ (Bohnsack, 2003, S. 132) beziehen und somit die Dimension des kommunikativen Wissens betreffen, ist insbesondere die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens, also der „habitualisierten Wissensbestände“ (ebd.) zentral. Der Orientierungsrahmen ist hierbei die „übergreifende erfahrungsbezogene Rahmung […] von Individuen und Gruppen“ (Bohnsack & Pfaff, 2010, S. 19), in der Themen verhandelt und bearbeitet werden und sich konjunktives Wissen äußert. Laut Bohnsack gehen die Forschenden anhand der Auswertungsschritte der formulierenden und der reflektierenden Interpretation

durch die Rekonstruktion der expliziten Wissensbestände der Erforschten und deren Orientierung an der Norm, also durch die Rekonstruktion der Orientierungsschemata und der Common Sense-Theorien, hindurch, um dann zur Rekonstruktion der Praxis bzw. des die Praxis orientierenden atheoretischen Wissens und des darin implizierten Orientierungsrahmens fortzuschreiten. Die Orientierungsschemata gewinnen immer nur vermittelt über das handlungsleitende atheoretische Wissen, also innerhalb des Orientierungsrahmens, ihre handlungspraktische Relevanz und somit ihren spezifischen Wirklichkeitscharakter. (Bohnsack, 2012, S. 128)

Die Herausarbeitung des Orientierungsrahmens in Interviews wird zunächst auf Basis der Bestimmung der Textsorten realisiert. Dieser formale Interpretationsschritt ist notwendig, da sich, wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, vor allem in Erzählungen und Beschreibungen atheoretisches Wissen und konjunktive Erfahrungen offenbart. Dort, wo in erzählender oder beschreibender Weise Orientierungsrahmen zum Ausdruck gebracht werden, setzt die Interpretation auf semantischer Ebene an. So ist der Orientierungsgehalt durch die (Gegen-)Horizonte rekonstruierbar, innerhalb deren ein Thema bearbeitet wird (Bohnsack, 2014a). Orientierungen lassen sich hierbei zwischen einem positiven und einem negativen Ideal eines Sinnzusammenhangs ausmachen. Hinter dem positiven Horizont steht die Frage, wohin eine Sinneinheit strebt – hinter dem negativen Horizont, wovon sich diese Ausrichtung abwendet bzw. abgrenzt. Durch die Rekonstruktion von negativen Horizonten werden demnach zuvor benannte Phänomene der Distinktion ebenfalls in den empirischen Analysen der dokumentarischen Methode berücksichtigt (Bohnsack, 2013). Dritter Eckpunkt einer Orientierung ist die Einschätzung der Realisierungsmöglichkeiten durch die Interviewten, das sogenannte Enaktierungspotenzial (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). Die einander begrenzenden Horizonte und deren eingeschätzte Realisierungsmöglichkeiten können aus dem Material selbst abgeleitet werden sowie durch gedankenexperimentelle Konstruktionen der Forschenden generiert werden (Bohnsack, 2012).

Am Beispiel der folgenden Passage, die aus dem Interview mit Frau Berger stammt, soll diese Vorgehensweise skizziert werden. Das Thema der Passage ist das Sozialverhalten der Schüler*innen. Die Erzählung steht im Zusammenhang der Klassenübernahme eines zweiten Jahrgangs, in dem es bereits aus unterschiedlichen Gründen mehrfach zu Wechseln der Klassenleitung kam. Frau Berger bewertet diesen Umstand als große Herausforderung für die Schüler*innen. Daran anschließend schildert sie die Entwicklung von einer sozial auffälligen zu einer sozial starken Klasse:

und es war ähm wurde mir als sehr auffällige Klasse so (.) angepriesen das Ganze und ich hatte auch wirklich Bedenken die Klasse zu übernehmen (.) hatte natürlich keine Wahl (.) das wurde mir dann gesagt (.) und ich muss sagen die ähm (.) ja die Klasse war auch sehr auffällig aber im Laufe dieser zwei Jahre jeder Lehrer der drin war hat trotzdem sehr viel (.) Positives hinterlassen finde ich und hat ähm (.) ja das einzelne Kind irgendwie sehr gestärkt (.) und dadurch war die Klasse dann ziemlich schnell ähm (.) ziemlich ähm gut vom Sozialen irgendwann (Interview Frau Berger, Z. 123–139)

Zunächst berichtet Frau Berger, dass ihre Klasse damals als „sehr auffällige Klasse“ (Z. 123 f.) galt. Gleichwohl Frau Berger die Schüler*innen zu diesem Zeitpunkt nicht kannte, ließ sie sich durch die Aussagen der Kolleg*innen verunsichern und übernahm die Klasse nicht ohne Bedenken. Eine auffällige Klasse stellt demnach ihren negativen Horizont dar. Rückblickend bestätigt Frau Berger die Fremdzuschreibung einer auffälligen Klasse, verweist jedoch unmittelbar auf die positive Entwicklung dieser Klasse. In der allgemeinen Formulierung, dass jede Lehrkraft im Laufe der ersten beiden Schuljahre „sehr viel Positives hinterlassen“ (Z. 131) und „das einzelne Kind irgendwie sehr gestärkt habe“ (Z. 131 f.), deutet Frau Berger Effekte pädagogischen Handelns an, ohne dies näher auszuführen. Aus ihrer Sicht habe die pädagogische Arbeit aller beteiligten Lehrkräfte letztlich zu der positiven Entwicklung des Sozialverhaltens der Schüler*innen geführt. Demzufolge ist das gute Sozialverhalten der Schüler*innen Frau Bergers positiver Gegenhorizont zu einer auffälligen Klasse. Das pädagogische Handeln der Lehrkräfte stellt das Enaktierungspotenzial bereit. Die Orientierung, die sich in dieser Sequenz dokumentiert, ist, dass das Kollegium und sie als Teil davon auch unter herausfordernden Bedingungen mit einer schwierigen Klasse umgehen können bzw. die Schüler*innen erziehbar sind und sich entwickeln. Zugespitzt könnte formuliert werden, dass Frau Bergers handlungsleitende Orientierung durch einen pädagogischen Optimismus gekennzeichnet ist und sie die Einflussnahme der Lehrkräfte auf das Sozialverhalten der Schüler*innen als möglich und auch als wirksam einschätzt.

Übergreifende Interpretationstechnik ist das Identifizieren von homologen Sinnmustern, die über die verschiedenen Themen hinweg immer wieder ausfindig zu machen sind (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). Eine solche komparative Sequenzanalyse zielt darauf ab, die implizite Regelhaftigkeit von Erfahrungen und den in dieser Regelhaftigkeit liegenden dokumentarischen Sinngehalt zu rekonstruieren, um somit den untersuchten Einzelfall weiter zu spezifizieren (Nohl, 2017). Das heißt, für eine methodisch kontrollierte Rekonstruktion des Orientierungsrahmens ist die Heranziehung fallinterner und fallexterner Vergleichshorizonte notwendig (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014), da der Orientierungsrahmen erst dann empirisch valide erfassbar ist, „wenn er von anderen, differenten Orientierungsrahmen, innerhalb derer dieselbe Problemstellung, dasselbe Thema auf andere Art und Weise bearbeitet wird, abgegrenzt werden kann.“ (Nohl, 2017, S. 6). Durch eine derartige konsequente Operation mit Vergleichshorizonten wird die eigene Standortgebundenheit der Forschenden methodisch relativiert, da das Thema bzw. der Fall nicht ausschließlich vor dem Hintergrund der eigenen, durch Erfahrungen, Alltagstheorien bzw. theoretisches Vorwissen geprägte Normalitätsvorstellungen interpretiert wird. Laut Nohl ist die komparative Analyse „der Königsweg des methodisch kontrollierten Fremdverstehens“ (ebd., S. 7). Zur weiteren Kontrolle der Standortgebundenheit der Forschenden dient überdies die Diskussion der Interpretationen in Forschungswerkstätten und Interpretationsgruppen, indem die Nachvollziehbarkeit der Interpretation in einer größeren Gruppe zur Diskussion gestellt wird (Asbrand, 2011). So wurden auch einzelne Analysen der vorliegenden Arbeit während des Forschungsprozesses regelmäßig in der peer-organisierten Forschungswerkstatt „Rekonstruktive Methoden“Footnote 8 an der Universität Duisburg-Essen und im Kolloquium „Habitus und Milieu“Footnote 9, das von Helmut Bremer und Andrea Lange-Vester geleitet wird und abwechselnd an der Hochschule Hannover und der Universität Duisburg-Essen stattfindet, reflektiert.

Die folgende Tabelle fasst stichwortartig die zentralen Aspekte des jeweiligen Analyseschritts der dokumentarischen Methode zusammen (Tabelle 2.3):

Tabelle 2.3 Auswertungsschritte der dokumentarischen Methode. (Eigene Darstellung auf Grundlage von: Nohl, 2017, S. 39)

Wichtig zu ergänzen ist noch, dass je nachdem, welche Vergleichshorizonte bzw. Vergleichsfälle in der Analyse herangezogen werden, die rekonstruierten Orientierungsrahmen in unterschiedlichen Erfahrungsräumen oder Kontexten zu verorten sind, z. B. milieu-, generationen-, oder geschlechtsspezifisch. Bohnsack spricht hierbei von einer Überlagerung bzw. einer wechselseitigen Durchdringung unterschiedlicher Orientierungsrahmen (Bohnsack, 2012). Wenngleich die vorliegende Studie sensibel für die Mehrdimensionalität der Orientierungsrahmen ist, wird keine intersektionale Perspektive verfolgt, sondern der Fokus liegt, wie oben bereits ausgeführt, auf der Analyse der Milieuspezifität handlungsleitender Orientierungen.

Letztlich durchzieht die komparative Analyse den gesamten Interpretationsprozess und dient über den Zweck der Validierung der herausgearbeiteten Orientierungen hinaus der Typenbildung. Die Typenbildung ermöglicht es, die Forschungsergebnisse bis zu einem gewissen Grad zu generalisieren. Unterschieden wird zwischen einer sinngenetischen Typenbildung, die auf die inhaltliche Ebene der Orientierungen abzielt, und einer soziogenetischen Typenbildung, die die Rekonstruktion der jeweiligen sozialen Zusammenhänge und Soziogenese eines Orientierungsrahmens anstrebt (Bohnsack & Pfaff, 2010).

Diese Arbeit orientiert sich nicht an dem Ziel einer systematischen sinn- und soziogenetischen Typenbildung. Wie zuvor erwähnt, geht es in der vorliegenden Untersuchung hauptsächlich darum, die Vielfalt und Komplexität des pädagogischen Handelns darzustellen und unterschiedliche Varianten kultureller Passung herauszuarbeiten. So wird zum einen in Form von vier ausführlichen Fallanalysen in Kapitel 3 die Gesamtgestalt jedes Falles entfaltet. Gleichwohl erfolgt entsprechend einer sinngenetischen Interpretation in Kapitel 4 ein fallübergreifender Vergleich. Hierbei werden unter Berücksichtigung der theoretischen Erklärungsansätze und empirischer Befunde zur Rolle der Lehrkräfte bei der Entstehung und Verstärkung sozialer Ungleichheit Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Fällen herausgearbeitet. Die Fallkontrastierung folgt hierbei den erkenntnisleitenden Analysedimensionen. So kann aufgezeigt werden, in welch unterschiedlichen Orientierungsrahmen die interviewten Grundschullehrkräfte bestimmte Themen und Problemstellungen bearbeiten. Darüber hinaus wird der Versuch unternommen, sich gemäß einer soziogenetischen Interpretation den Schemata des Milieus der interviewten Lehrkräfte empirisch anzunähern. Im Unterschied zur dokumentarischen Methode und in Anlehnung an die Habitus-Hermeneutik (u. a. Bremer & Teiwes-Kügler, 2003; Bremer, 2004; Bremer & Teiwes-Kügler, 2013) wird bei diesem Analyseschritt das gesamte Interviewmaterial berücksichtigt und nicht nur ausgewählte Passagen, in denen die interviewten Lehrkräfte erzählen und beschreiben, sondern auch solche, in denen sie vordergründig argumentieren und bewerten (Bremer & Teiwes-Kügler, 2014). Aufgabe ist es, „die im empirischen Material sichtbar werdenden Klassifikationsschemata der Befragten als subjektiv angeeignete ‚überindividuelle‘ Schemata zu entschlüsseln“ (ebd., S. 205). Diese zeigen sich im Modus von Konjunktion und Distinktion (Bohnsack, 2014a) in der Art und Weise wie Handlungen, Ereignisse, Sachverhalte, Personen und ihr Verhalten geschildert werden sowie durch Zuschreibungen der Zugehörigkeit und Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Gruppen (Bremer & Teiwes-Kügler, 2014). Die rekonstruierten handlungsleitenden Orientierungen des Einzelfalles liefern erste Hinweise auf einen milieutypischen ‚Modus Operandi‘, der im Verlauf der weiteren Auswertung des gesamten Interviews überprüft, ergänzt und ggf. korrigiert werden muss. Aus forschungsökonomischen Gründen kann in dieser Arbeit keine ausführliche Sequenzanalyse nach dem oben beschriebenen Verfahren vorgenommen werden. Vielmehr werden im Verlauf der Interpretation vom gesamten Interviewmaterial abstrahierende analytische Deutungen vorgenommen, die auf die Schemata des Habitus und Milieus zielen (ebd.).

2.5 Erkenntniserweiterndes Modell für die Analyse lehrkraftseitiger Dispositionen zur Unterstützung sozial benachteiligter Schüler*innen

Neben der Interviewanalyse mithilfe der dokumentarischen Methode besteht eine weitere Auswertungsstrategie darin, einen erkenntnisleitenden Analyserahmen zu nutzen, der auf Überlegungen von Uwe H. Bittlingmayer und Ullrich Bauer (2005) zurückzuführen ist. So greifen die beiden Autoren in einer Expertise für das Verbundprojekt „Lernen für den GanzTag“ unmittelbar auf Bourdieus Verständnis von Sozioanalyse (u. a. Bourdieu & Wacquant, 2006; Bourdieu, 2002; 1993) zurück und entwerfen ein Kompetenzkonzept für Lehrkräfte, das auf die Stärkung einer reflexiven Pädagogik zielt. Das Konzept stellt in erster Linie einen ersten Entwurf für Fortbildungen zum pädagogischen Umgang mit sozial benachteiligten Schüler*innen dar, den es kontinuierlich auszugestalten gilt. Für die vorliegende Arbeit wird angenommen, dass mit dem Programm einerseits ein Analysemodell zur Verfügung steht, das ermöglicht, habituelle Dispositionen von Lehrkräften zur Unterstützung sozial benachteiligter Schüler*innen verstehend zu beschreiben. Andererseits wird davon ausgegangen, dass Möglichkeiten zur Bearbeitung von Bildungsungleichheit, die unmittelbar in den Bereich der pädagogischen Arbeit fallen, identifiziert werden können. Das Konzept von Bittlingmayer und Bauer soll demnach nutzbar gemacht werden, um die Aussagen der Lehrkräfte zu systematisieren und die Untersuchungsergebnisse für eine ungleichheitssensible Pädagogik darstellen zu können.

Im Folgenden wird zunächst das Kompetenzkonzept von Bittlingmayer und Bauer erläutert (Abschnitt 2.5.1). Anzumerken ist, dass im Zuge der Interviewauswertungen der von Bittlingmayer und Bauer vorgelegte Entwurf für das eigene Erkenntnisinteresse angepasst wurde. Das modifizierte Analyseinstrument wird anschließend präsentiert (Abschnitt 2.5.2).

2.5.1 Kompetenzkonzept zur Stärkung eines sozioanalytischen Umgangs mit Schüler*innen unterschiedlicher sozialer Herkunft von Uwe H. Bittlingmayer und Ullrich Bauer

Wie zuvor erwähnt, bringen Uwe H. Bittlingmayer und Ullrich Bauer Bourdieus Ansatz der Sozioanalyse in einer Expertise für das Verbundprojekt „Lernen für den GanzTag“Footnote 10 in die Diskussion über Bearbeitungsmöglichkeiten herkunftsbedingter Bildungsnachteile ein und skizzieren auf Grundlage des Konzepts der Sozioanalyse ein Fortbildungsprogramm für Lehrkräfte. Hierzu wird zunächst der Begriff der sozialen Kompetenzen von den Autoren sozialpsychologisch und sozialisationstheoretisch bestimmt und in vier Dimensionen unterteilt: (1) die sozialkognitive Dimension, (2) die sozialmoralisch-kognitive Dimension, (3) die interaktive Handlungsdimension sowie (4) die reflexive Dimension. Die letztgenannte Dimension ist mit dem vergleichbar, was Bourdieu als Sozioanalyse bezeichnet (ebd.). Im Folgenden wird ein weiterer Aspekt vorangestellt, der von den Autoren zwar nicht explizit als Kompetenzdimension genannt, jedoch im Kontext von Konsequenzen für die Fortbildung des pädagogischen Personals thematisiert und für die vorliegende Arbeit als relevant eingeschätzt wird:

  1. (1)

    Bei der Wissensdimension geht es zunächst darum, welche Kenntnisse Lehrkräfte zu familialen Hintergründen sowie Lebens- und Sozialisationsbedingungen ihrer Schüler*innen haben und wie sie sich Haltungen und Verhaltensweisen der Schüler*innen und Familien erklären. Hinzu kommen Kenntnisse zu Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit, insbesondere zu ungleichen Bildungschancen (ebd.).

  2. (2)

    Die sozialkognitive Dimension umfasst die „Fähigkeit, Situationen und die Dynamiken von Interaktionen und sozialen Kontexten zu erfassen“ (Bittlingmayer & Bauer, ebd., S. 3). Diese grundlegende soziale Handlungsressource kann in Bezug auf Bourdieu als fundamentaler „sozialer Sinn“ (Bourdieu, 1987) bezeichnet werden. Als zentrale Aspekte der sozialkognitiven Dimension werden Empathie und die Realisierung von Handlungserwartungen hervorgehoben, die von anderen Personen meistens implizit ausgehen. Die Handlungserwartungen stehen hierbei häufig mit den jeweiligen Funktionsrollen der Personen im Zusammenhang, zum Beispiel Lehrkräfte, die Aufmerksamkeit und Konzentration von Schüler*innen erwarten (Bittlingmayer & Bauer, 2005).

  3. (3)

    Die sozialmoralisch-kognitive Dimension hingegen bezieht sich auf das analytisch zu trennende normative Bewerten der wahrgenommenen Situation. Es geht insbesondere um die Legitimität von Handlungserwartungen und vollzogenen Handlungen. Die Bewertung der wahrgenommenen Situation kann je nach Person variieren und wird durch die im Laufe der Sozialisation inkorporierten sozialmoralischen Normen bestimmt. Darüber hinaus ist eine zeitlich ungleiche normative Bewertung festzustellen: Die normative Bewertung und Einschätzung von Handlungskontexten und von vollzogenen fremden Handlungen können sich im unmittelbaren Handlungsvollzug entwickeln, die normative Beurteilung eigener Handlungen ereignet sich im Gegensatz dazu in der Regel ex post (ebd.).

  4. (4)

    Die interaktive Handlungsdimension meint die konkreten Interaktionen und Handlungen von Individuen. Auf dieser Ebene kommen interaktionsbezogene Fähigkeiten zum Tragen, wie beispielsweise sich adäquat sprachlich auszudrücken, um anderen seine Wahrnehmungen, Bewertungen und Emotionen mitzuteilen. Auch Formen konkreter Konfliktlösungsmuster sowie die Fähigkeit, andere Perspektiven einzunehmen, umfasst diese Kompetenzdimension. Zentral ist zudem, dass Personen nicht zwangsläufig in konkreten Situationen gemäß ihren eigenen sozialkognitiven Einschätzungen und Bewertungen handeln. Stattdessen werden zum Beispiel Handlungsroutinen oder Gewohnheiten in der Erziehung, im Schulalltag oder in der Freizeitgestaltung fortgeführt, gleichwohl die Einsicht vorhanden ist, dass die Praktiken nicht sinnvoll oder rational sind und zum Teil sogar ein Wille zur Veränderung des eigenen Verhaltens besteht. Dementsprechend beinhaltet die Interaktionsdimension auch ein erstes Maß an Reflexivität des eigenen Handelns (ebd.).

  5. (5)

    Die bisherigen Dimensionen sozialer Kompetenzen gelten grundsätzlich gleichermaßen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Im Gegensatz dazu wird die reflexive Dimension als besonders relevant für das Lehrpersonal eingeschätzt, denn aufgrund ihrer pädagogischen Ausbildung und ihrer speziellen Rolle bzw. Funktion sollten Pädagog*innen über mehr Handlungsressourcen verfügen als ihre Klientel. Die reflexive Dimension schließt unmittelbar an die theoretischen Überlegungen Bourdieus zu Sozioanalyse an (u. a. Bourdieu & Wacquant, 2006; Bourdieu, 2002; 1993). Wie in den theoretischen Ausführungen dargelegt, handelt es sich bei Sozioanalyse um eine Form der Selbstanalyse, in der systematisch die Gebundenheit eigener Sichtweisen und Bewertungen in Beziehung zum sozialen Ort gebracht und darüber hinaus ins Verhältnis mit den Wert- und Handlungsorientierungsmuster und den gesellschaftlichen Standorten des Gegenübers gesetzt werden. Bittlingmayer und Bauer heben die Reflexion der eigenen Funktionsrolle beziehungsweise die Distanz zu dieser hervor und betonen den Machtaspekt, der praktisch jeden sozialen Handlungskontext zugrunde liegt. Dazu gehört die Einsicht in die alltäglichen Kämpfe um Anerkennung im Kollegium, im Gespräch mit den Eltern und vor der Klasse sowie der Blick auf eigenes und fremdes distinktives Streben. Ferner geht es um die Erkenntnis von idiosynkratisch besetzten Personentypen, in Begründungsmuster der Sympathie und Antipathie sowie die Realisierung der Mechanismen der Zuteilung von Anerkennung in Interaktionen (Bittlingmayer & Bauer, 2005) (Tabelle 2.4).

Tabelle 2.4 Dimensionen sozialer Kompetenzen. (Eigene Darstellung auf Grundlage von: Bittlingmayer & Bauer, 2005, S. 6)

Die Autoren führen aus, dass sich die Kompetenzdimensionen je nach Handlungskontext unterschiedlich äußern: Eine Handlungsstrategie kann in einem Handlungskontext erfolgreich sein, in einem anderen scheitern, obgleich sich an der individuellen Handlungsstrategie nichts ändert. Wenn zum Beispiel ein Kind in einer Klassenarbeit ein anderes Kind freiwillig abschreiben lässt, so kann dieses Verhalten als Umsetzung von solidarischen Normen sozialer Unterstützung interpretiert werden und sich in der kindlichen Lebenswelt positiv als soziale Anerkennung im Freundeskreis auswirken. Im leistungsbezogenen Schulkontext hingegen kann es dazu führen, dass eine solche prinzipiell begrüßenswerte Handlung bestraft wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Bereichsspezifität bezieht sich auf den Umstand, dass Personen, die in einem speziellen Bereich ein hohes Maß an Kompetenzen zeigen, nicht automatisch in anderen Lebensbereichen über angemessene Handlungsstrategien verfügen. Etwa sind Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen bekannt dafür, ein sensibles innerfamiliales Konfliktmanagement aufzuweisen und häufig zur Entspannung von stressigen Situationen beizutragen. Gleichzeitig sind es zum Teil dieselben Kinder und Jugendliche, die den Unterricht und das Klassenklima stören. Aus schulischer Perspektive wird das Sozialverhalten dieser Kinder und Jugendlichen überwiegend als defizitär wahrgenommen (ebd.).

Die Frage nach der Kompetenzgenese und -umsetzung wird nach Bittlingmayer und Bauer noch komplexer, werden die konkreten sozialen Handlungskontexte der Heranwachsenden mit einbezogen. So gibt eine milieuspezifische Perspektive Auskunft darüber, warum und inwiefern sich die Wissensformen, Verhaltensweisen und Kompetenzstrukturen der Kinder und Jugendlichen unterscheiden (ebd.). So ist in Deutschland mit sozialen Milieus zu rechnen, deren differenzielle Lebenswelten und damit einhergehende Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster unterschiedlich dicht an den in der Schule vermittelten Wissensformen und den institutionellen Anforderungen liegen. Das bedeutet, dass je nach Milieuzugehörigkeit unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten für schulischen Bildungserfolg existieren. Beispielshalber ist bei den oberen Milieus ein Hochschulstudium die Regel, in den untersten Milieus sind hingegen die meisten Schulabbrüche vorzufinden. Für den Zusammenhang von sozialen Kompetenzen und sozialen Milieus ist jedoch die Perspektive auf den milieuspezifischen Alltag und die daraus resultierende schulbildungsnahe oder schulbildungsferne Alltagspraxis bedeutsamer, als die skizzierte statistische Dimension sozial ungleicher Bildungschancen. Etwa kann es für einen Jugendlichen aus einem eher schulbildungsfernen Milieu im Vergleich zu einem Jugendlichen aus einem eher schulbildungsnahen Milieu gegenüber der Gleichaltrigengruppe begründungsbedürftig sein, den Nachmittag mit der Vorbereitung auf eine versetzungs- oder zeugnisrelevante Klassenarbeit anstatt die Freizeit mit ihnen verbringen zu wollen. Für diese Entscheidung erhält der Jugendliche möglicherweise keine soziale Anerkennung von seinen Peers (ebd.).

Insgesamt zielt das Kompetenzkonzept von Bittlingmayer und Bauer darauf ab, milieuspezifische soziale Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu stärken, die bislang in der Schule wenig Anerkennung und Wertschätzung erfahren haben. Es geht vor allem darum, heterogene Lebenswelten zu achten und ungleiche Wissensformen, Verhaltensweisen und Kompetenzstrukturen der Schüler*innen nicht vorschnell als defizitär abzuwerten. Dadurch kann den unterschiedlichen Ausgangslagen der Heranwachsenden umfassend Rechnung getragen und die Kompetenzverteilung nicht für alle Schüler*innen als gleichermaßen gültig deklariert werden. Wichtig ist, so die Autoren, den Kindern und Jugendlichen ein prinzipielles Kompetenzbewusstsein zu vermitteln, damit sie sich unabhängig von ihren konkreten schulischen Leistungen als selbstwirksam und handlungsfähig begreifen. Um die milieuspezifischen Fähigkeiten und Handlungsstrategien der Schüler*innen zu verstehen und anzuerkennen, benötigen Lehrkräfte laut Bittlingmayer und Bauer Kenntnisse zu ungleichen Sozialisations- und Lebensbedingungen und deren Auswirkungen auf Bildungsverhalten. Insgesamt gilt es, die gängige defizitorientierte schulische Sichtweise auf Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus durch eine Perspektive zu ersetzen, die diese Schüler*innen als handlungsfähige Akteure jenseits von guten Schulleistungen versteht. Angenommen wird, dass das grundsätzliche Kompetenzbewusstsein wiederum positive Rückwirkungen auch auf die schulische Performanz haben kann (ebd.). Diese Hypothese kann durch die HaBil-Studie sowie die Jugendstudie „Wie ticken Jugendliche“ gestützt werden. So verweisen beide Untersuchungen auf den positiven Einfluss einer wertschätzenden Haltung der Lehrkräfte gegenüber sozial benachteiligten Schüler*innen auf das schulische Wohlbefinden, die Lernmotivation und das Selbstkonzept (Calmbach, Thomas, Borchard, & Flaig, 2012; Drucks, Osipov, & Quenzel, 2010).

Das übergreifende Ziel ist Bittlingmayer und Bauer zufolge jedoch, bei den Lehrkräften die (selbst-)reflexiven Anteile der eigenen sozialen Kompetenzen, genauer: die Fähigkeiten zur Sozioanalyse zu steigern. Dazu gehört die Reflexion des Einflusses des eigenen milieuspezifischen Sozialisationshintergrundes und der persönlichen biografischen Erfahrungen auf die pädagogische Arbeit. Wie bereits aufgezeigt wurde, bilden Lehrkräfte ähnlich zur Schüler*innenschaft keine homogene Gruppe, sondern verteilen sich auf unterschiedliche soziale Milieus. Die mit der sozialen Herkunft verbundenen Werthaltungen und Lebensprinzipien der Lehrkräfte wirken sich hierbei auf das berufliche Selbstverständnis und auf die pädagogische Praxis (u. a. Bremer & Lange-Vester, 2014; Fabel-Lamla & Klomfaß, 2014; Georgi, Ackermann, & Karakas, 2011) sowie auf Normalitätsvorstellungen und Deutungsmuster aus (Khan, Sertl, Raggl, Stefan, & Unterköffler-Klatzer, 2012). Die Ausführungen von Lange-Vester und Teiwes-Kügler (2014) legen den Schluss nahe, dass die Sensibilität der Lehrkräfte für ungleiche Habitusmuster der Schüler*innen allein nicht zur Ungleichheitsreduktion ausreicht. Vielmehr ist ein berufliches Selbstverständnis erforderlich, das ein Bewusstsein dafür beinhaltet, dass aus den eigenen Aufwachsensbedingungen und biografischen Erfahrungen Gefahren und Fallstricke für die pädagogische Arbeit resultieren und bestimmte Schüler*innenklientelen aus dem Blick geraten bzw. als defizitär wahrgenommen werden (können) (ebd.). Bittlingmayer und Bauer (2005) sprechen in diesem Zusammenhang auch von der Notwendigkeit der „Kontrolle der habituellen Zuteilungen sozialer Anerkennung durch die Lehrerinnen und Lehrer“ (ebd., S. 23). Etwa markieren die empirisch breit bestätigten Effekte einer sozial selektiven Leistungs- und Eignungsdiagnostik den starken Handlungsbedarf, die Herkunftseffekte im Schulkontext zu thematisieren und zu problematisieren, sodass Lehrkräfte die Chance erhalten, diese bewusster und reflexiver zu handhaben. Für Lehrkräfte ist nach den Autoren darüber hinaus notwendig, sich mit schulischen Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit auseinanderzusetzen und in diesem Zusammenhang insbesondere die eigene pädagogische Praxis als soziale Platzierung und symbolische Gewalt zu reflektieren. Letztendlich geht es darum, durch (Selbst-)Reflexivität und Kontrolle der eigenen pädagogischen Arbeit Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehungen so zu gestalten, dass sie Kompetenzbewusstsein und Selbstwirksamkeitserfahrungen aller Schüler*innen stärken, für milieuspezifische Ressourcen und Dispositionen sensibilisieren und Schüler*innen aus sozial benachteiligten Milieus bessere Passungsverhältnisse ermöglichen (ebd.).

Im Kontext von Bildungsungleichheit spricht Bourdieu auch von einer rationalen Pädagogik, die auf einer „Soziologie der kulturellen Ungleichheit“ (Bourdieu, 2001, S. 152) basiert und seiner Meinung nach eine Möglichkeit bietet, die Ungleichheit der Bildungschancen zu verringern. Eine solche rationale Pädagogik in Bezug auf die Gestaltung der pädagogischen Kommunikation hat Bourdieu jedoch nicht systematisch ausgearbeitet. Auf einer eher systemischen Ebene geben die Mitte der 1980er Jahre von einer Gruppe von Hochschullehrenden des Collèges de France erarbeiteten „Vorschläge für das Bildungswesen der Zukunft“ (Bourdieu, 2003, S. 97 ff.), bei denen Bourdieu federführend war, Auskunft darüber, wie die Grundprinzipien des künftigen Bildungswesens aussehen sollten. Dieses staatlich in Auftrag gegebene Gutachten fordert u. a. ein breiteres Verständnis von Leistung und Begabung, die Vervielfachung von Lebenschancen durch eine Verringerung der Folgen negativer Schulurteile, eine ständige Revision des Lehrstoffes, kontinuierliche Bildungsprozesse im Wechsel mit Berufstätigkeit, die Nutzung moderner Medientechnik im Unterricht, eine Öffnung der Schule im Hinblick auf externe Kooperation sowie eine Stärkung der Autonomie der Lehrer*innenschaft durch Steigerung ihrer fachlichen und pädagogischen Kompetenzen (ebd.).

In jüngster Zeit entstehen theoretische Überlegungen und empirische Untersuchungen, die an Bourdieus Konzept wissenschaftlicher Reflexivität anknüpfen und den Versuch unternehmen, den Ansatz von Sozioanalyse für die pädagogische Arbeit fruchtbar zu machen. Hervorzuheben sind hier die beiden Sammelbänder „Reflexive Erziehungswissenschaft“ von Friebertshäuser, Rieger-Ladich und Wigger (2006) sowie „Habitussensibilität“ von Sander (2014). Die Beiträge der beiden Sammelbänder geben einen ersten Einblick in die Problemkonstellationen auf institutioneller, bildungspolitischer, didaktischer und individueller Ebene von (Selbst-)Reflexivität im schulischen Kontext. Die vorliegende Untersuchung schließt speziell an die bereits vorgestellten Überlegungen von Lange-Vester und Teiwes-Kügler (2014) und Fabel-Lamla und Klomfaß (2014) an.

2.5.2 Modifikation der Analysedimensionen

Die Expertise für das Verbundprojekt „Lernen für den GanzTag“, in deren Rahmen das Kompetenzkonzept für Lehrkräfte zur Stärkung einer rationalen und reflexiven pädagogischen Arbeit ausgearbeitet wurde, kann als Diskussionspapier verstanden werden, das Anregungen zur Weiterarbeit liefert (Bittlingmayer & Bauer, 2005).

Im vorliegenden Fall stellt die Anwendung des Kompetenzkonzepts für die Interviewanalyse einen zirkulären Prozess dar: Auf der einen Seite ermöglicht das theoretische Vorwissen, sich den Perspektiven der befragten Grundschullehrkräfte anzunähern und den Sinn der Darstellungen für die jeweilige Lehrperson zu verstehen. Dieses strukturierende Prinzip liegt auch der Erhebungsmethode des leitfadengestützten Interviews zugrunde. Auf der anderen Seite ist der Verstehensprozess durch die methodisch kontrollierte Vorgehensweise der dokumentarischen Methode offengehalten. Das heißt, die Sinnrekonstruktionen erfolgen hauptsächlich aus dem Material heraus und erweitern und korrigieren gegebenenfalls dadurch das ursprüngliche Vorverständnis (Kruse, 2011). So wurden unter Berücksichtigung der subjektiven Relevanz-, Wissens- und Wertesysteme der interviewten Lehrkräfte im Zuge erster Auswertungen die von Bittlingmayer und Bauer entworfenen Dimensionen modifiziert. Im Folgenden soll dieses erkenntniserweiternde Modell für die Analyse von lehrkraftseitigen Dispositionen zur Unterstützung sozial benachteiligter Schüler*innen anhand einer Annäherung an Fälle und Material veranschaulicht werden.

Konstruktion der Schüler*innen- und Elternklientel

In den Auswertungen hat sich als wesentliche Dimension die Konstruktion der Schüler*innen- und Elternklientel herauskristallisiert. In dieser Dimension geht es darum, wie die befragten Lehrkräfte die Schüler*innen und Eltern wahrnehmen und welche Deutungen und Bezugnahmen hierbei relevant werden sowie darüber hinaus, welche pädagogische Praxis die entsprechenden Klientelkonstruktionen nach sich ziehen. Beispielsweise thematisiert Herr Weber in der Eingangspassage des Interviews die im Vergleich zu anderen Jahrgängen auffallende Unselbstständigkeit und Schulunreife des neuen ersten Jahrganges:

[wir haben festgestellt] dass bei diesem Mal obwohl es weniger Schüler in der Klasse sind äh dass die Schüler unselbstständiger sind also schulunreifer sind und dass äh ist dann immer der Hintergrund (.) liegt das an der Gesellschaft? dass sich die Gesellschaft an sich verändert? und die Einstellung zur Schule? oder liegt das an unserer Situation im Stadtteil? wir haben in unserem Stadtteil die Situation (.) äh wir sind äh Stadtteil (.) Neubaustadtteil alles gebaut in Fünfziger-Sechzigerjahren bis auf wenige neue Häuser (.) die Einfamilienhäuser die haben alle fast keine Kinder mehr (.) und wir haben die großen Mietshäuser wo die älteren Leute ins Altenheim gehen oder sterben und in die neuen Wohnungen ziehen Familien rein und wir haben bei der Schulaufnahme wer ein fünfjähriges Kind anmeldet hat im Durchschnitt bei uns 2,3 Kinder das heißt wir sind äh im Stadtteil-auch das Jugendamt hat festgestellt unser Stadtteil hat von den dreizehn Stadtteilen (.) die meisten alleinerziehenden (.) Eltern und wir sind auch äh wenn es um Harz-IV geht äh der Stadtteil der bei Hartz-IV-Empfängern die meisten äh Kinder hat pro Familie im Durchschnitt (.) also wir haben die Kinderreichen und äh (.) unsere äh (.) großen Mietwohnungen die haben alle hundert Quadratmeter und wenn man Hartz-IV ähm hat bekommt man die auch nur wenn man mehrere Kinder hat das heißt wir kriegen eine ganz bestimmte Zielgruppe und da der Ruf sich verschlechtert hat wir haben nicht mehr die Belegung des [Wirtschaftsunternehmens A] sondern (.) freien Wohnungsmarkt wir haben eine Immobilienfirma und dadurch hat sich die Bevölkerung verändert weg von den äh Mitarbeitern des [Wirtschaftsunternehmens A] äh hin zu äh freier Wohnungsmarkt und gerade die die woanders keine Wohnung finden äh kommen dann zu uns (Interview Herr Weber, Z. 26–93)

Ohne detaillierte Interpretation wird deutlich, dass Herr Weber den neuen ersten Jahrgang als vergleichsweise auffallend unselbstständig und schulunreif wahrnimmt. Diese Veränderung der Schüler*innenklientel führt er auf den Wandel des Einzugsgebietes der Schule zurück. Herr Weber argumentiert, dass der Stadtteil vom industriellen Strukturwandel betroffen sei und dies Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt habe, was letztlich in soziale Segregation münde. Im Vordergrund dieser Passage steht im Sinne der Wissensdimension von Bittlingmayer und Bauer (2005) das kommunikative Wissen über das sich wandelnde Einzugsgebiet der Schule, das zur Erklärung der Unselbstständigkeit und Schulunreife der Schüler*innen dient. Das sozialräumlich benachteiligte Umfeld hat aus der Perspektive von Herrn Weber Folgen für die pädagogische Arbeit. Aufgrund des „erhöhten Betreuungsbedarfs“ (Z. 130)

müssen [wir] auf jeden Fall äh (.) den-unseren Deutschunterricht verstärken gerade den Leseunterricht und ähm das heißt äh wir müssen da (.) einmal Eltern um Hilfe bitten (.) Lesemütter die wir dann in Klassen haben die dann mit einem Kind einzeln üben weil das ist äh wichtig dass wir die äh Leseintensität erhöhen und das kann man nicht manchen wenn ein Kind liest und vierundzwanzig Kinder zuhören sondern gut wäre es ja wenn fünfundzwanzig Kinder gleichzeitig lesen aber wir haben keine fünfundzwanzig Lehrer pro Klasse und deswegen sind da Zusatzeinrichtungen-wie gesagt eine zweite Lehrerin die immer mal ein Kind rausnimmt zum Lesefördern ganz gut wir haben auch seit äh einem Jahr eine eigene Sonderpädagogin die auch Schwerpunkarbeit macht in der Frühförderung und in der Vorbeugung das heißt die arbeitet nicht nur mit den vier äh getesteten GU-KindernFootnote 11 die einen offiziellen sonderpädagogischen Status haben sondern auch mit äh zwanzig dreißig Kindern mit denen sie vorbeugend arbeitet die also schwach sind (.) im Lesen Rechnen und so weiter und da macht sie auch Leseförderung sie arbeitet auch mit anderen Methoden wenn diese Kinder Probleme haben etwas zu verstehen um dann vielleicht mit anderen Methoden erfolgreicher zu sein mit anderen Lehrwerken Büchern Arbeitsblättern alles (Interview Herr Weber, Z. 185–250)

Herr Weber nennt in dieser Passage Praktiken des Ausgleichs der sozialen Benachteiligungslage, insbesondere die Leseförderung. Hierbei greift die Schule scheinbar auf die Unterstützung der Eltern und zum Teil auf eine zweite Lehrkraft im Deutschunterricht zurück. Überdies fördert eine Sonderpädagogin mithilfe weiterer Methoden und Unterrichtsmaterialien gezielt schulleistungsschwache Kinder. Über die verbal kommunizierten Handlungspraxen hinaus legen die Ausführungen Defizitzuschreibungen an die bildungssprachlichen Kompetenzen der Schüler*innen nahe und es dokumentiert sich insgesamt eine problemorientierte Perspektive auf die Schüler*innen. Die Art und Weise der Auseinandersetzung von Herrn Weber mit den sozialen Herausforderungen kann als mechanisch beschrieben werden, so geht es vor allem um die Handhabbarkeit und Bearbeitbarkeit der Schüler*innen, die als unselbstständig und schulunreif bzw. schulleistungsschwach gelten. Die Wissensdimension nach Bittlingmayer und Bauer (2005) erfährt demnach eine Erweiterung um den Aspekt der Praktiken der befragten Lehrkräfte, d. h. die modifizierte Dimension umfasst auch Erzählungen und Beschreibungen zum konkreten Umgang mit sozial benachteiligten Schüler*innen – in diesem Sinn wird die oben vorgestellte interaktive Handlungsdimension (ebd.) bei der Klientelkonstruktion hinzugezogen.

Berufsbezogenes Selbstkonzept

Als weitere zentrale Dimension hat sich das berufsbezogene Selbstkonzept erwiesen, also die subjektiv wahrgenommene und ausgestaltete Berufsrolle der befragten Lehrkräfte. Das berufsbezogene Selbstkonzept umfasst die Wahrnehmung der eigenen fachlichen und pädagogischen Kompetenzen sowie die Bewertung dieser in Interaktionen mit anderen Akteur*innen wie bspw. Schulleitung, Kolleg*innen, Schüler*innen und Eltern. Weitere Elemente des berufsbezogenen Selbstkonzepts sind Ideale mit Blick auf die eigene Person bzw. Wertvorstellungen im schulischen Kontext (Schott, 2012). Zum Beispiel berichtet Frau Neumann, dass sie

eigentlich immer sehr schöne Klassengemeinschaften [hatte] ich habe also versucht immer ein ähm (.) ja wie soll ich sagen (.) Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln und Zusammengehörigkeit wachsen zu lassen unter den Kindern (.) ne das fand ich immer-das fand ich sehr wichtig dass das also wie eine kleine wie ein kleine Familie schon wieder ist eine kleine äh ja (.) eine kleine Familie wieder ne und äh die türkischen Eltern-ich meine das ist-es kommt immer auf die Persönlichkeit des äh des Lehrers darauf an die nannten mich immer die zweite Anne ne die nannten mich immer die zweite Anne (Interview Frau Neumann, Z. 120–143)

Anhand der Passage wird deutlich, dass für Frau Neumann das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft essenziell für ihre berufliche Tätigkeit ist und sie entsprechend ihr pädagogisches Handeln an der Gestaltung positiver Beziehungen orientiert. Frau Neumann erfährt sich in diesem Kontext als selbstwirksam bzw. präsentiert sich als handlungskompetent, denn es scheint ihr stets gelungen zu sein, eine „schöne Klassengemeinschaft“ (Z. 120) herzustellen. Die Klasse wird von ihr darüber hinaus als eine Art Familie wahrgenommen. Etwa berichtet sie, dass die türkischen Eltern sie „immer die zweite Anne“ (Z. 138), also vom Türkischen ins Deutsche übersetzt: die zweite Mutter nannten. Anders ausgedrückt ist die Schule als Ort der Familie die Idealvorstellung von Frau Neumann. Durch die Bezeichnung als ‚zweite Anne‘ erhält sie die Bestätigung der Eltern, dass sie die mütterliche Autorität in der Klasse verkörpert. Diese Dimension ist demnach angelehnt an die sozialkognitive und die sozialmoralisch-kognitive Dimension von Bittlingmayer und Bauer (2005).

Auseinandersetzung mit Spannungsfeldern der pädagogischen Arbeit

Die folgenden drei Dimensionen finden keine unmittelbare Entsprechung im Konzept von Bittlingmayer und Bauer (ebd.), sondern entwickelten sich erst im Laufe des Forschungsprozesses aus dem Material heraus. So fiel während der Auswertungen auf, dass sich die befragten Lehrkräfte alle mit unterschiedlichen Spannungsfeldern der pädagogischen Arbeit auseinandersetzen. Im Fall von Frau Neumann deutet sich beispielsweise in den weiteren Ausführungen zu der Klassengemeinschaft ein Spannungsfeld zwischen der Herstellung und Aufrechterhaltung des schulischen Wohlbefindens und der Verwirklichung der schulischen Lernziele an: „also ich habe immer versucht den Kindern äh das Schulleben so angenehm und so ähm problemlos wie möglich zu machen ne dagegen standen natürlich die Lernziele die wir verwirklichen mussten“ (Interview Frau Neumann, Z. 143149). Die Verwirklichung der schulischen Lernziele impliziert hierbei die Beurteilung von Schulleistungen. Es besteht das Risiko, dass sich die Schüler*innen durch die Bewertung der Lehrkräfte nicht anerkannt und wertgeschätzt fühlen. Insofern besteht Spannung zwischen der Herstellung und Aufrechterhaltung des schulischen Wohlbefindens und der Verwirklichung der schulischen Lernziele. Diese konstitutiven Antinomien pädagogischen Handelns sind für die Lehrkräfte nicht aufhebbar, sondern nur reflexiv handzuhaben (Helsper, 2004). Daher scheint es aufschlussreich zu sein, der Frage nachzugehen, welche Spannungsfelder die befragten Lehrkräfte thematisieren, wie sie mit diesen umgehen und welche Lösungen sie entwickeln.

Positionierung innerhalb der Schule bzw. im Kollegium

Des Weiteren stellte sich im Forschungsprozess die Frage, wie sich die Lehrkräfte in der Schule bzw. im Kollegium positionieren bzw. wie sie positioniert werden. Das heißt, diese Dimension fasst die berufsbezogenen Selbst- und Fremdzuschreibungen zusammen. Vor dem Hintergrund, dass die Schule als Teilfeld des gesamtgesellschaftlichen Feldes zu verstehen ist (Bourdieu & Passeron, 1971), entstehen bestimmte Möglichkeitsräume der individuellen Platzierung für die Lehrkräfte, die in dieser Dimension herausgearbeitet werden. Etwa präsentiert Frau Neumann sich selbst als überaus fürsorgliche, verständnisvolle und verlässliche Lehrerin, wie die oben genannten Zitate bereits erkennen lassen. So scheint sie die Rolle der mütterlichen Autorität als Auszeichnung zu begreifen und hebt über das gesamte Interview hinweg das familienähnliche Verhältnis zwischen ihr und den Schüler*innen hervor. Diese besondere Beziehung zu ihren Schüler*innen markiert Frau Neumann als einzigartig im Kollegium. Ihre Darstellungen verweisen insgesamt auf ein hohes persönliches Engagement und Verantwortungsbewusstsein für sozial benachteiligte Schüler*innen. Im Vordergrund ihrer pädagogischen Arbeit steht ein harmonisches Arbeitsklima. Das pädagogische Handeln scheint hierbei vor allem auf die eigene Klasse bezogen zu sein, von Teamarbeit bzw. von der grundsätzlichen Weiterentwicklung einer Schulkultur, die auf das schulische Wohlbefinden der Schüler*innen abzielt, ist im Interview nicht die Rede.

Zuschreibung von Verantwortung für Bildungschancen

Die Dimension Zuschreibung von Verantwortung für Bildungschancen ist dem Forschungsinteresse geschuldet. So ist in Anbetracht persistenter sozialer Disparitäten im Bildungssystem von besonderer Relevanz, inwiefern sich die befragten Lehrkräfte grundsätzlich verantwortlich für die Entwicklung von Bildungschancen fühlen. Im Hinblick darauf, dass Lehrkräfte in der Regel kein Bewusstsein für ihre Einbindung in Reproduktionsprozesse sozialer Ungleichheit haben (Rieger-Ladich, 2011) und nicht absichtlich sozial selektiv entscheiden und handeln, sondern vielmehr systemimmanenten Handlungslogiken folgen (Ditton, 2010a), soll in dieser Dimension rekonstruiert werden, was für Vorstellungen die befragten Lehrkräfte von ihrem Einfluss auf die Bildungschancen bzw. ihrem Beitrag zur Bearbeitung von Bildungsungleichheit haben. Exemplarisch sei an dieser Stelle Herr Weber genannt, der zunächst grundsätzlich wahrnimmt, dass Chancengleichheit im Bildungssystem kaum existiert, sondern die schulischen Erfolgsaussichten maßgeblich von der sozialen Herkunft abhängen: „krass gesagt kommt man aus einer Akademikerfamilie wird man da [gemeint ist die gymnasiale Laufbahn, Anmerkung S. R.] einfach weiter reingeschubst und notfalls kriegt man Förderung“ (Interview Herr Weber, Z. 23282334). Aufgrund seiner eigenen Aufstiegsbiografie und in seiner Position als Schulleiter fühlt sich Herr Weber besonders verantwortlich, sozial benachteiligten Schüler*innen Bildungschancen zu eröffnen:

ich war damals gehörte (.) zu den Besten der äh Volksschulklasse und habe den Sp-Absprung gewagt (.) und habe dann Abitur gemacht und innerhalb meiner Familie war ich der Erste (.) der dann Abitur gemacht hat das war in unserer äh Großfamilie nicht üblich (.) und äh danach haben andere dann äh mitgezogen (.) und äh gehörte praktisch zu dieser Aufsteigerschicht wenn man das so nennen will und von daher habe ich da natürlich immer so einen Blick drauf gehabt (Interview Herr Weber, Z. 2272–2285)

An mehreren Stellen des Interviews betont Herr Weber, dass sein Hauptaugenmerk auf der Unterstützung ‚sozial Schwacher‘ liegt. Um Bildungsungleichheit zu kompensieren, setzt er auf individuelle Förderung und Binnendifferenzierung. Wie die oben stehende Interviewpassage zur Unselbstständigkeit und Schulunreife der Schüler*innen erkennen lässt, wirkt sich die soziale Benachteiligungslage aus der Perspektive von Herrn Weber ungünstig auf die Lernvoraussetzungen und Leistungsfähigkeit der Schüler*innen aus und scheint eine große Herausforderung für die pädagogische Arbeit zu sein.

Gefahren und Fallstricke der handlungsleitenden Orientierungen

Die Dimension Gefahren und Fallstricke der handlungsleitenden Orientierungen schließt an die kritische Perspektive auf die Rolle der Lehrkräfte bei der Entstehung und Verstärkung sozialer Ungleichheit im Bildungssystem in Kapitel 1 an. Auf Grundlage aller bisherigen Rekonstruktionen gilt es im Sinne der reflexiven Dimension von Bittlingmayer und Bauer (2005) zu hinterfragen, für welche Schüler*innengruppe die pädagogische Praxis förderlich bzw. hinderlich sein kann. Dafür werden handlungsleitende Orientierungen der befragten Lehrkräfte aufgegriffen, die aus einem bildungstheoretischen Blickwinkel ungleichheitsrelevant erscheinen. Beispielsweise kann bei Frau Berger die Verschränkung von ethnisierenden Zuschreibungen mit geschlechtsspezifischen Differenz- und Normalitätsvorstellungen aufgedeckt werden:

im Großen und Ganzen muss ich sagen jetzt in meiner Klasse ist es eher so dass die Eltern sehr wohl ähm (.) sehr da hinterher sind und stark da hinterher sind und sich auch doll dafür interessieren was hier in der Schule passiert (.) und ähm (.) ja von meinem Verständnis her (.) teilweise zu viel (.) also nicht dass sie sich dafür interessieren um Gottes Willen sollen sie alle aber dieses ähm behütet sein zu viel und vielleicht auch durch diese kulturellen Unterschiede vielleicht ist es dort [gemeint ist wahrscheinlich die Türkei, Anmerkung S. R] so wenn dann ein Junge (.) geboren wird und der das einzige-der einzige Sohn das einzige Enkelkind überhaupt ist der wird (.) ja der wird auf Händen getragen (Interview Frau Berger, Z. 218–226)

Frau Berger hebt in dieser Passage ethnische und geschlechtliche Differenzen zwischen den Schüler*innen und Eltern hervor, wobei sie sich im Feld gängiger Stereotype von überbehüteten türkischen Jungen bewegt. Ohne ausführliche Interpretation dokumentiert sich eine tendenziell problemorientierte Sichtweise auf das vermeintliche Übermaß an elterlicher Fürsorge in Familien mit (türkischem) Migrationshintergrund. Welche Reichweite und Bedeutung die Zuschreibung kultureller Unterschiede und die Wahrnehmung eines überfürsorglichen Erziehungsstils türkischer Familien hierbei für die pädagogische Praxis hat, kann die vorliegende Arbeit nicht beantworten.

Die untenstehende Abbildung gibt abschließend einen Überblick über die modifizierten Analysedimensionen (Abbildung 2.1).

Abbildung 2.1
figure 1

Modifizierte Analysedimension