Zusammenfassung
Künstlerische und ethnografische Praxis privilegieren beide in unterschiedlicher Weise das Wahrnehmen als Zugang zu ihrem Gegenstand: Während die Ethnografie an der Produktion von Wissen und Erkenntnis über ihr Feld mittels Beobachtung und Teilnahme interessiert ist, geht es in der Kunst um die Hervorbringung künstlerischer Arbeiten beziehungsweise Werke, die ihre Wirkungen entfalten. Mit einer phänomenologisch orientierten ethnografischen Perspektive auf die Entwicklung von Werken im Bereich der bildenden Kunst schlägt der Beitrag vor, nicht allein das feldspezifische Wissen von Künstler*innen, sondern zudem deren Praxis des Wahrnehmens ins Zentrum des Erkenntnisinteresses zu rücken. Angeschlossen wird dieses Vorgehen an die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys, mit der sich das leiblich situierte Wahrnehmen auf die Kopräsenz der Ethnografin im Feld übertragen lässt. Aus dieser Perspektive zeigt sich künstlerische Praxis als eine, die den Bereich des Möglichen im Wahrnehmen und speziell Sehen zu erschließen vermag – ein Bereich, der auch für die Ethnografie selbst im Gang durch das Wahrnehmen dieser Praxis zugänglich(er) wird.
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Notes
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Die Forschungsrichtung der „Theoretischen Empirie“ geht von einem dialektischen Verhältnis zwischen theoretischen Annahmen der empirischen Forschung und der empirischen Durchdringung theoretischer Forschung aus, sodass sich empirische und theoretische Einsichten gegenseitig ergänzen sowie auch irritieren können (Kalthoff 2008). Hiernach wird die ethnografische Perspektive immer auch konzeptionell verortet, wobei die empirischen Ergebnisse aus der Analyse des ethnografischen Materials wiederum an Konzepte rückgebunden werden.
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Zum Einbezug visueller Daten siehe zum Beispiel Pink (2009).
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Zu Sozialität von Sinnlichkeit siehe etwa Göbel und Prinz (2015).
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Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Maurice Merlau-Pontys in Bezug auf die Praxis künstlerischen Arbeitens siehe Schürkmann 2017.
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Eine ausführliche Diskussion zur Einbettung der hier vorgeschlagenen ethnografischen Perspektive in die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys befindet sich in Schürkmann 2017.
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Nach Merleau-Ponty ist Wahrnehmung stets verbunden mit einem sozialisierten Körperschema, wobei er den Dingen und der Welt als Wahrnehmbares im Sinne einer Dialektik von Wahrnehmendem und Wahrnehmbarem ebenfalls Bedeutung zuweist. So kritisiert er ebenso wie an anderer Stelle empiristische und objektivistische Positionen auch relativistische Ansätze, die von reinen Bewusstseinskonstruktionen und Kognitionen ausgehen (Merleau-Ponty 2003b, S. 277).
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Dieses Einsehen in eine professionalisierte Praxis kann mit langen und intensiven Feldaufenthalten einhergehen. So habe ich im Zuge meiner Forschungen zur künstlerischen Praxis im Bereich der bildenden Kunst etwa auch auf Erfahrungen und Wissen aus meinem Studium der Kunst zurückgegriffen.
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Schürkmann, C. (2021). Wir nehmen mehr wahr, als sich uns zeigt. Zur Ethnografie künstlerischer Praxis. In: Schürkmann, C., Zahner, N.T. (eds) Wahrnehmen als soziale Praxis. Kunst und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31641-9_11
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