Zusammenfassung
Menschen sehen mit ihren Augen, aber vor Jahrhunderten sahen sie anders als wir es heute tun. Helmut Plessners Anthropologie der Sinne bietet eine Grundlage, diesen Wandel am überlieferten Bildmaterial empirisch zu ermitteln. Der Sinnesapparat verändert sich, wie bereits Karl Marx bemerkte, durch die technisch-industrielle Umwelt. Im visuellen Wahrnehmungsapparat bildete sich eine soziophysiogische Filterfunktion, die dazu dient, sich auf die zunehmende Fülle von Angeboten für die Schaulust einzustellen. Diese Entwicklung bringt sowohl Verlust als auch Gewinn mit sich. Zum einen wird das Sehen oberflächlicher, was allerdings nicht im Sinne von Seichtigkeit, sondern von summarischem Wahrnehmen zu verstehen ist. Zum anderen gibt es auch Gewinne, weil Bild-Techniken die visuelle Erfahrung erweitern.
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Notes
- 1.
Jede Beschäftigung mit alten Bildern muss berücksichtigen, dass diese eine oft komplizierte Geschichte haben. Nicht alle Bilder, die unsere Museen präsentieren, können in der Form, in der sie sich befinden, als historische Quellen betrachtet werden. In früheren Zeiten konnten Werke verstümmelt werden, um sie für einen gewünschten Gebrauch passend zu machen, andere wurden aus dem Zusammenhang gerissen, in den sie ursprünglich gehörten. Ein Beispiel für Verstümmelung ist die Auffindung Moses von Giovanni Battista Tiepolo, deren linken Teil die National Gallery of Scotland in Edinburgh und deren rechten Teil ein Privatsammler besitzen (Alpers und Baxandall 1996, S. 1), eines für das Herauslösen aus dem ursprünglichen Zusammenhang ist die Taufe Christi von Piero della Francesca in der National Gallery in London, die ursprünglich Teil eines umfangreichen Polyptychons war (Ginzburg 1985, S. 33; Bertelli 1992, S. 54). Deshalb ist der originäre Verwendungszusammenhang von Bildern zu rekonstruieren, um sie als aussagekräftige Dokumente behandeln zu können.
- 2.
Der uns geläufige Kulturbegriff – und damit auch unser Umgang mit überlieferten Werken – kann auf frühere Epochen, etwa auf das Hochmittelalter, nicht unmittelbar übertragen werden. Für die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Bildern, Epen oder Dramen haben sich seit der Epochenschwelle Prinzipien eingebürgert, die sich von denen der vorherigen, religiös gebundenen Epoche strukturell unterscheiden (Grassi 1957, S. 96 ff.).
- 3.
Zum einen treten in früheren Jahrhunderten neben der Tendenz, Bilder mit vielen Details auszustatten, hin und wieder Sonderentwicklungen auf. Zu diesen Ausnahmen gehören jene wenigen Künstler, die in der Lage waren, sich über die für ihre Zeitgenossen unmittelbar verstehbaren Stile hinaus zu wagen. Der späte Rembrandt, der späte Frans Hals oder Georges de la Tour gehören in diese Rubrik. Zum anderen werden auch in unseren Jahren hin und wieder Bilder mit hohem Detailreichtum hergestellt, denn Bilderproduzenten lernen aus der Bildergeschichte und üben auch manchmal praktische Kritik an zeitgenössischen Wahrnehmungsweisen.
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Hieber, L. (2021). Der visuelle Wahrnehmungsapparat in der medialisierten Welt. In: Schürkmann, C., Zahner, N.T. (eds) Wahrnehmen als soziale Praxis. Kunst und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31641-9_10
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