Skip to main content

Haben Dinge Macht?

  • Chapter
  • First Online:
Kommunikationsmacht

Part of the book series: Wissen, Kommunikation und Gesellschaft ((WISSEN))

  • 312 Accesses

Zusammenfassung

Ähnlich antiquiert wie die Vorstellung, dass Kommunikationsmacht sich allein aus dem Verhältnis der Menschen zueinander ergibt, ist möglicherweise die Überzeugung, dass auch den materiellen Objektivationen und technologischen Medien, welche Menschen benutzen und die ihnen täglich begegnen, keine wirkliche Macht zukommt. Wenn ich dennoch daran festhalte, dann tue ich dies aus folgenden Gründen.

Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.

Pierre Bourdieu (1993b: 105)

Wenn ich meinen doppelbärtigen Schlüssel nehme, der mich autorisiert, nach Hause zu kommen, mich verpflichtet, nachts hinter mir abzuschließen und mir verbietet, das tagsüber zu tun, habe ich es dann nicht mit sozialen Beziehungen, mit Moral, Gesetzen zu tun? Gewiss, aber mit stählernen.

Bruno Latour (2016: 25)

Dieses Kapitel ergänzt und aktualisiert die Überlegungen in Abschn. 6.6 Medien und Dinge als kommunikative Gesten. Es ist in ähnlicher Form bereits unter Reichertz 2018b erschienen.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 59.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 79.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Das gilt auch für Flugzeuge (um ein weiteres beliebtes Beispiel anzusprechen): Ohne Zweifel zwingt mich ein Flugzeug (oder besser: deren Erbauer), will ich es fliegen, bestimmte Dinge in einer bestimmten Reihenfolge zu tun. Tue ich es nicht, fliegt es nicht. Aber will ich das Flugzeug nicht fliegen, sondern in die Luft jagen, dann benötige ich keine Ausbildung zum Piloten, und ich muss auch nicht all die Dinge tun, die ich tun müsste, wollte ich fliegen. Die kann ich alle missachten. Ich muss jetzt allerdings das tun, was der Sprengstoff von mir fordert oder besser: was die von mir fordern, die den Sprengstoff erschaffen haben. Sie sagen oder schreiben mir, wie viel ich von einem bestimmten Sprengstoff wohin platzieren muss, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Der Sprengstoff alleine sagt mir gar nichts. Er tut auch nichts. Er liegt nur irgendwo herum. Meinem Hund sagt der Sprengstoff noch weniger. Er riecht gut oder eklig, er liegt im Weg und lässt sich gut kauen. Mir und meinem Hund sagt der Sprengstoff noch nicht einmal, was er ist und über welche Eigenschaften er verfügt. All dies erfahre ich auch nicht (mein Hund schon gar nicht), weil der Sprengstoff es zeichenhaft an sich trägt und mir mitteilt, sondern ich erfahre es, wenn ich mir Wissen über Sprengstoff kommunikativ aneigne. Dann weiß ich, dass Sprengstoff ein Energiepotenzial hat, das andere Menschen durch die Rezeptur in ihm verankert haben.

    Der Sprengstoff vor mir sagt mir zudem nicht, was ich wann und wie tun muss, um ihn zur Explosion zu bringen, noch wo ich ihn wann deponieren soll, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Er sagte auch nicht, weshalb ich ihn nutzen sollte und weshalb es wann gerechtfertigt ist, ihn zu bestimmten Zwecken einzusetzen. Der Sprengstoff, so ich ihn denn erkenne, fordert mich also heraus, mich mittels Kommunikation sachkundig zu machen – über seine Eigenschaften und über seine Geschichte und über seine kulturelle Bedeutung. Dabei lerne ich, dass Sprengstoff eingebettet ist in eine kommunikativ konstruierte und kommunikativ verteilte physikalisch-chemische, politische, moralische und praktische Wissensordnung. Nur innerhalb dieser Wissensordnung macht Sprengstoff Sinn. Ohne sie ist Sprengstoff nichts und kann auch nichts bewirken. Weiß ich aber um das inhärente Energiepotenzial und die kulturelle Bedeutung der Nutzung von Sprengstoff, dann ist Sprengstoff sehr machtvoll.

  2. 2.

    Das gilt auch für die neuen digitalen Dinge wie z. B. die Algorithmen. Diese sind in keiner Weise eigenständig (nur automatisch) und wenn Algorithmen ‚entscheiden‘, tun sie das nur so und nur auf diese Weise, die ihnen ihr menschlicher Programmierer eingeschrieben hat. Nicht die Algorithmen sind Akteure, sondern die Menschen, die zum einen die Algorithmen schreiben, und zum zweiten die Menschen, die den Algorithmen in bestimmten, fest definierten Situationen bestimmte Aufgaben zur Erledigung anvertrauen. Wenn man in der Soziologie jedoch die Algorithmen als eigenständige Akteure in den Blick nimmt, übersieht man gerade das Soziale in den Algorithmen, übersieht, dass hinter den Algorithmen Menschen mit Interessen stehen, die das Wirken der Algorithmen verständlich machen. Mithilfe der Algorithmen handeln Menschen in bestimmten Situationen in spezifischer Weise auf einem globalen, hart umkämpften Markt. Die, welche diese Mittel einsetzen, tun dies, weil sie sich Vorteile davon erhoffen. Wer die Algorithmen zu Akteuren erklärt, verdunkelt somit die soziale Dynamik oder genauer gesagt die massiven gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hinter dem Einsatz der Algorithmen. Ähnlich formuliert das auch Reckwitz, wenn er über das Tun von Computern schreibt: „Dieses Interesse stammt selbstverständlich nicht aus den Computern selbst, sondern von menschlichen Akteuren mit ihren kommerziellen, medizinischen oder politischen Absichten“ (Reckwitz 2017: 254).

  3. 3.

    Nun kann man sich zu Recht fragen, ob man Latour mit so einfachen und trivialen Beispielen wie Highlightern beikommen kann. Das ist gewiss nicht einfach – was auch daran liegt, dass er mit jedem Buch seine Position wechselt. Das hat etwas den Charakter von Hase-Igel-Spielen. Das liegt aber auch daran, dass Latour es auf etwas Großes angelegt hat – nämlich auf die Rücknahme der menschengemachten Unterscheidung zwischen Mensch und Natur. Da kann man in der Regel mit kleinlichen Einwänden nicht viel ausrichten. Wenn ich es trotzdem tue, dann weil Latour selbst den Berliner Schlüssel als ein paradigmatisches Beispiel betrachtet (und andere auch), und weil andere qualitative Forscher (z. B. Hillebrandt 2014) genau das ernst nehmen und im Anschluss daran eine neue qualitative Sozialforschung ausrufen.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Jo Reichertz .

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2024 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature

About this chapter

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this chapter

Reichertz, J. (2024). Haben Dinge Macht?. In: Kommunikationsmacht. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31635-8_11

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-31635-8_11

  • Published:

  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-31634-1

  • Online ISBN: 978-3-658-31635-8

  • eBook Packages: Social Science and Law (German Language)

Publish with us

Policies and ethics