Es ist ein regnerischer Tag im Winter 2015 am Landesamt für Flüchtlinge in Berlin. Ich wandle wieder einmal durch Szenarien, die mir wie ein „Schlachtfeld der Absurditäten“ vorkommen. Es ist bereits nachmittags und ich bin ziemlich erschöpft. Den ganzen Tag suche ich mit einer Kollegin vom Rettungsdienst und drei weiteren Personen, unter ihnen eine weitere Dolmetscherin, hilfsbedürftige Menschen auf dem groß angelegten Gelände und kläre ab, inwiefern geholfen werden kann. Zwischen die vielen Menschen mischen sich vereinzelt irgendwelche religiöse Prediger*innen, die ihre große Chance in der Not Geflüchteter sehen. Security-Angestellte stehen breitbeinig mit ihren blechern klingenden Funkgeräten an allen Ecken im Getümmel. Sie bilden hier und da kleine, abgeschirmte Gruppen, in denen sie mal nicht grimmig dreinschauen, sondern gegenüber ihren In-Group-Mitgliedern Verbundenheit vorführen und Kaffee trinken. Außenstehende schauen argwöhnisch zu. Existenzielle Bedrängnis ist spürbar. Sie drückt sich unter anderem im Stress aus, dem jede Person ausgesetzt ist, sobald sie sich dem Landesamt nähert. Überall bilden sich Schlangen oder Menschenhaufen, an denen abgehetzte Geflüchtete, wie gewohnt, warten. Wir laufen vor Nässe triefend herum und sind anhand der Namensschilder deutlich als Bedienstete der Institution zu erkennen. Dabei kommen unzählige kranke Kinder und Erwachsene auf uns zu, die Nahrungsmittel, Medikamente und Decken von uns erhalten. Bei kleineren Problemen, etwa schwächelnden oder ohnmächtigen Menschen, wissen die Helfer*innen auch gleich, was zu tun ist. Liegt etwas Heikleres vor, begleiten wir die betroffene Person ein paar hundert Meter weiter zum medizinischen Zentrum, wo sie nach ein paar Stunden Wartezeit behandelt wird. Die Menschen kommen mit allen erdenklichen Problemen und Schwierigkeiten zu uns, die wir nicht ohne Weiteres lösen können. Dabei sprechen sie in allen möglichen Sprachen durcheinander und schwingen zahllose Blätter hin und her. Ein irakischer Familienvater möchte einen Härteantrag stellen, weil das rechte Auge seines Sohnes ernstlich angeschwollen ist, weiß aber nicht, was zu tun ist, während eine kurdische Mutter mit einem halben Dutzend Kindern vor uns steht und unaufhörlich um Kinderwägen bittet, und dies, während ihre Kinder um und auf uns herumturnen. Eine andere Dame hätte gerne die neuen Laufschuhe von Adidas in Marineblau. Offenbar hat sie mich noch aus der Zeit in Erinnerung, in der ich im Rahmen eines Freiwilligendienstes Kleidung an Geflüchtete verteilte. Das war ganz zu Anfang der „Flüchtlingskrise“Footnote 1 im Sommer 2015. Zu dieser Zeit kommen etliche namhafte Modehäuser und beschenken die Geflüchteten mit Gutscheinen oder neuen Artikeln. Die Stimmung war damals so, dass sich prominente Personen und Unternehmen in den Strategien ihrer Öffentlichkeitsarbeit zu überbieten schienen, um ihre Menschlichkeit zum Ausdruck zu bringen –etwa durch das Verteilen von Adidas-Schuhen. So kommen dringliche und weniger dringliche Angelegenheiten zusammen und formen eine eigenartige Stimmung, die einen Nährboden für Streitereien und Anfeindungen bildet. Die einzelnen Lebenswelten, die in der vorliegenden Arbeit vorgestellt und analysiert werden, nehmen ihren Anfang in dieser Atmosphäre der Willkür, die ein hervorstechendes Merkmal der Institution Asyl ist. Die daraus folgende soziale Realität – Chaos – stellt eine Herausforderung für alle am Asylprozess beteiligten Personen dar. Wahrgenommene Affekte, ob bei mir selbst oder bei anderen, sind stets in Relation zu diesem „Urphänomen“ der Institution zu verstehen. Die räumliche und soziale Umgebung der Institution Asyl ist durchdrungen von diesen Merkmalen: von Willkür und Chaos.

Ein anderes Mal bei unseren Rundgängen, einige Wochen später, spricht mich ein fünfzehnjähriger afghanischer Junge an, der in Berlin am helllichten Tag einer Gruppenvergewaltigung entkommen ist. Mehrere Männer haben sich an ihm vergehen wollen, eine Situation, aus der er sich mit Mühe befreien konnte. Es gibt keine passende Unterkunft für ihn, und das Jugendamt teilt uns prompt mit, dass er „nie und nimmer“ fünfzehn sei; deshalb habe man ihn dort abgewiesen. Meine Kollegin und ich rufen schließlich einen Bekannten an, bei dem wir den Jungen für eine Nacht unterbringen. Unser Bekannter hat mehrere Asylbewerber bei sich aufgenommen und arbeitet seit Jahren beim Flüchtlingshilfswerk („Moabit hilft“), das sich ebenfalls auf dem Gelände befindet. Am nächsten Tag soll der Junge schließlich in eine Unterkunft für minderjährige Geflüchtete, doch kann ich den Fall nicht mehr verfolgen, da er abhaut. So begegne ich zufällig und bruchstückhaft etlichen Personen und ihren Lebensnarrativen, indem ich mich täglich im Feld bewege und übersetze. Die Problematik minderjähriger Asylbewerber*innen begegnet mir im Übrigen fortan regelmäßig in den unterschiedlichsten Kontexten. Der Versuch erwachsener Geflüchteter, als minderjährig registriert zu werden, wird von Bediensteten der Institution Asyl stark verurteilt und als Affront gewertet, der einer Kampfansage gleichkommt. Im Gegenzug wird streng gegen ausländische Betrüger*innen vorgegangen. Die in diesem Kontext rigoros vorgenommenen ärztlichen Untersuchungen der Intimsphäre betroffener Personen stehen unter anderem deshalb oft in der Kritik. Der wenig reflektierte Umgang mit den „Anderen“ wird von meinen Kontakten – dies schließt bisweilen Bedienstete mit ein – als kränkend empfunden. Langfristige Pläne, die dem Asylprozess eine Struktur geben könnten, existieren schlichtweg nicht. Die Plan- und Ratlosigkeit in diesem Geschehen und die daraus hervorgehende Unordnung erstaunen mich Tag für Tag aufs Neue. Die Manifestationen einer scheinbar lediglich reflexartig reagierenden und nicht überlegt agierenden Flüchtlingspolitik, die ihre eigene Machtlosigkeit geradezu zur Schau stellt, sind in Berlin bis Mitte 2016 für die Öffentlichkeit sichtbar. Dank des Einsatzes der prestigeträchtigen Beraterfirma McKinsey, die das Landesamt angesichts der „Flüchtlingskrise“ kostenfrei berät, werden die Klient*innen – die „Anderen“ sollen in der Behörde vorzugsweise so genannt werden – nunmehr von einem weiter entfernten OrtFootnote 2 kohortenweise mit Bussen ins Landesamt gefahren. Damit sind die zahllosen verwahrlosten Menschen, die bis dato unter beklagenswerten Umständen tagelang für ihre basalen Anliegen warten mussten und daher permanent am Landesamt zu sehen waren, in einem Zug für die Öffentlichkeit nicht mehr sichtbar. Die Verwahrlosten warten jetzt hinter Wänden und bilden so keine Kulisse mehr für die Medien. Die monatlichen Kosten der Busfahrten belaufen sich nebenbei gesagt auf ungefähr 55.000 Euro. Strukturell ändert sich damit nichts wesentlich. Jede befragte Person schüttelt den Kopf und winkt, auf den Bustransfer angesprochen, zynisch und entschieden ab. Für die meisten meiner afghanischen Kontakte präsentieren solche kurzfristig angelegten Strategien den Unwillen, wirklich zu helfen.

Die Institution Asyl führt von Beginn an unmissverständlich und gleichermaßen subtil vor, welche Art von Menschenbild sich hinter dem Menschenrecht auf Asyl verbirgt. Die Situation innerhalb der Institution Asyl mitten in der deutschen Hauptstadt erscheint surreal. Viele meiner Kontakte erzählen mir, dass das Chaos zu Beginn ihres Aufenthaltes in ihnen die Ahnung erstehen lässt, wie es in Wirklichkeit mit Flüchtlingsrechten in Europa bestellt ist. Das Konzept der Menschenrechte wird infolgedessen in Gesprächen unter Geflüchteten häufig pejorativ oder ironisch verwendet – vor allem vor dem Hintergrund der Flüchtlingsunterkünfte, in denen Hunderte von Personen zusammengepfercht die Totalität des Ankunftskontextes erleben. In diesem Setting verliert der Mensch mit der Ankunft seine bisherige Existenz.