Zusammenfassung
Der Beitrag nimmt die prekären Beschäftigungsverhältnisse von osteuropäischen Care-Arbeiterinnen im Privathaushalt zum Ausgangspunkt, um die Bedingungen für Solidarität bzw. für die individuelle und kollektive Einforderung und Geltendmachung grundlegender sozialer und Arbeitsrechte aufzuzeigen. Es werden solidarische Praktiken, Beziehungen und der Transfer von Wissen (etwa um Rechte) in konkreten Räumen in Deutschland und der Schweiz betrachtet und argumentiert, dass die Soziale Arbeit und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen aufgefordert sind, beim Aufbau einer ‚Infrastruktur der Solidarität‘ mitzuwirken und professionelle Unterstützung bereitzustellen.
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Notes
- 1.
Live-in ist die Bezeichnung für Care-Arbeiter*innen, die im Haushalt der Person/Familie leben, die sie betreuen.
- 2.
Als richtungsweisend wird in diesem Zusammenhang das im Juni 2021 gefällte Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt gesehen, welches den sog. 24h-Betreuerinnen das Recht auf den gesetzlichen Mindestlohn zugesteht – auch für die Bereitschaftszeiten (5 AZR 505/20).
- 3.
Dazu gehören etwa der Ausbruch aus engen familiären Verhältnissen oder unglücklichen Ehen, die Überwindung von Ruhestandskrisen oder die Bewältigung von Einsamkeit durch den Auszug der Kinder aus dem elterlichen Haus („Empty-Nest-Syndrom“, vgl. Kniejska, 2016, S. 159).
- 4.
Je nach konkreter Care-Tätigkeit sind in Deutschland unterschiedliche Gewerkschaften zuständig, etwa für Reinigung die Gewerkschaft IG Bau, für Pflege die Gewerkschaft ver.di oder für die private Hauswirtschaft die NGG (Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten).
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Für Deutschland sind im Bereich der gewerkschaftlichen Unterstützung etwa die Beratungsstellen des DGB-Projekts Faire Mobilität, das Projekt Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten sowie die Beratungsstellen für Mobile Beschäftigte von Bedeutung. Die Beratungsstelle für Frauen aus Osteuropa im Fraueninformationszentrum (FIZ) in Stuttgart leistet wichtige psychosoziale Unterstützung. In der Schweiz ist die von der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich lancierte Plattform CareInfo zu erwähnen, die sowohl Care-Arbeiterinnen als auch Haushalte rechtlich informiert und berät. Zudem leisten die beiden Gewerkschaften vpod und UNIA arbeitsrechtliche Beratung und unterstützen die (Selbst-)Organisation von Care-Arbeiterinnen. In beiden Ländern wird die Live-in Care-Arbeit durch feministische Initiativen politisiert – z. B. von Care-Revolution und Frauenstreik-Kollektiven.
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Auf internationaler Ebene ist in diesem Zusammenhang auf die Verabschiedung des Übereinkommens 189 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Jahr 2011 zu verweisen, welches die Care-Arbeiterinnen als reguläre Lohnarbeiterinnen anerkennt und ihnen entsprechende Arbeitsrechte zuspricht. Die massive Aufklärungs- und Lobbyarbeit von Care-Arbeiterinnen, Migrantinnenselbstorganisationen, Gewerkschaften und NGOs hatte die Verabschiedung maßgeblich vorangetrieben (vgl. Visel, 2012). Seither besteht mit der IDWF (International Domestic Workers Federation) eine weltweite Struktur mit 69 Mitgliedsorganisationen aus 55 Ländern, die über 600.000 Care-Arbeiterinnen in Privathaushalten vertritt (vgl. IDWF, 2018).
- 7.
Der in Deutschland mit dieser Fokussierung bislang einmalige Zusammenschluss von unabhängigen Fachberatungsstellen in freier und öffentlicher Trägerschaft, zivilgesellschaftlichen Verbänden und Organisationen sowie Gewerkschaften und Kirchen verfolgt das Ziel, für die Rechte von EU-Bürger*innen einzutreten, die in prekären und ausbeuterischen Arbeits- und Lohnverhältnissen beschäftigt sind.
- 8.
Voraussetzung dafür ist, dass der Anschluss an die oben beschriebenen Netzwerke gelingt. Gleichzeitig sind diese Netzwerke nicht frei von Machtverhältnissen und sind auch als „Zwangs- und Notgemeinschaften zu verstehen, innerhalb derer auch Missbräuche stattfinden“ (Karakayali, 2010, S. 113).
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Bomert, C., Schilliger, S. (2021). Infrastruktur der Solidarität im Kontext transnationaler Care-Arbeit. In: Bomert, C., Landhäußer, S., Lohner, E.M., Stauber, B. (eds) Care! Zum Verhältnis von Sorge und Sozialer Arbeit. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31060-8_13
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