Zusammenfassung
Die anfänglich sehr rigide Entlassungspolitik, insbesondere in der amerikanischen Zone, stand schon früh im Widerspruch zur Strategie, deutsche Stellen die Entnazifizierung durchführen zu lassen. Zu bedenken ist dabei, dass zeitgleich der Ost-West-Konflikt sich zuspitzte, und im Kontext des beginnenden Kalten Kriegs wurden anderen Prioritäten gesetzt. So schützten und nutzten zum Beispiel amerikanische Geheimdienste schwer belastete deutsche Geheimdienstexperten, darunter auch Wissenschaftler. Die Entnazifizierung im Hochschulbereich wurde begleitet von einem Wissenschaftler-Transfer durch die Alliierten und unterminierte die Entnazifizierung vor Ort durch die Umgehung der deutschen Behörden, die jetzt ja die eigentliche Verantwortung dafür hatten. Unter Entnazifizierung soll die Entflechtung von Wissenschaft und Wissenschaftlern aus ihren früheren kollaborativen Zusammenhängen und ihre Neuverflechtung in andere politische Verhältnisse verstanden werden. Abgestraft wurde, wer Aufstiegsregeln und Umgangsformen der Zunft missachtet hatte. Dieses Muster wird exemplarisch anhand der Karrieren von Hans Freyer, Franz Wilhelm Jerusalem, Karl Heinz Pfeffer und Franz Ronneberger und summarisch anhand weiterer ehemaliger Reichssoziologen untersucht.
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Klingemann, C. (2020). Akademische Vergangenheitspolitik als Selektionsprozess – am Beispiel von Karrieren führender westdeutscher Soziologen. In: Soziologie im Deutschland der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30616-8_6
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