Zusammenfassung
In diesem letzten Kapitel soll es nun um Rekapitulation, theoretische Einordnung und reflexiven Ausblick gehen. Wir hatten im letzten Abschnitt das „CUBE-Modell“ von Bernardi und anderen kennengelernt und gesehen, dass sich darin neue Fragen im Hinblick auf die theoretische Konzeption und Modellierung von Wechselwirkungen im Rahmen des Lebenslaufs und auch der Sozialisationsprozesse ergeben. Wir werden zum Schluss nun fragen, ob die Sachverhalte des Lebenslaufs, der Biografie und der Sozialisation gesellschaftstheoretisch gefasst werden können, und ob Modelle wie der „Life-Cours-Cube“ dabei zumindest eine anleitende oder vielleicht sogar forschungsleitende Funktion besitzen können. Dazu gehen wir nochmals die Ebenen des Lebenslaufs, der Biografie und der Sozialisation durch. Wir fragen dabei zuerst nach ihrem Charakter als genuine Sachverhalte der „sozialen Realität“, die zugleich „soziale Konstruktionen“ darstellen (Abschn. 13.1). Daran anschließend wenden wir uns den Zeitlichkeiten von Lebenslauf, Biografie und Sozialisation zu. Stellt dabei der Lebenslauf als Institution (Kohli) die soziale Realität eines Chronosystems (Bronfenbrenner) her? Und wenn ja, inwiefern differenzieren sich Lebensläufe innerhalb dieses Chronosystems? Damit ist jedoch erst eine Ebene verschiedener Zeitschichten angesprochen, die sich im komplexen Geflecht von biografischen und historischen Entwicklungsdimensionen ausdrücken. Bestehen Lebenszeit und historische Zeit nur in Mustern der ‚objektiven Zeit‘? Oder spielen auch subjektive oder biografische Zeitperspektiven eine Rolle? Was ist mit den historischen Semantiken? Welche Bedeutung haben sie für die Konstitution sozialer und historischer Zeit? Und: Gibt es so etwas wie „Zeitgesetze der Sozialisation“? Und lassen sich diese in Form von „Strukturgenesen“ oder noch konkreter als „Habitusgenese“ begreifen? (Abschn. 13.2) Daran anschließend stellen sich angesichts der komplexen zeitlichen Zusammenhänge zwischen Lebenslauf, Biografie und Sozialisation Fragen zur Selbst-Bestimmbarkeit des Lebens, letztlich nach der Biografie als Herausforderung des „unfassbaren Lebens“ (Abschn. 13.3). Darauf antworten wir im Abschn. 13.4 praxistheoretisch, in dem mit dem Zusammenspiel von Lebenspraxis, Lebensarrangements und Lebensbeschreibungen darauf hingewiesen wird, dass das Leben in seiner Selbstbezüglichkeit auf eine soziale und praktische Vorgefasstheit immer schon zurückgreifen kann, ohne durch diese Vorbedingungen der biografischen Selbstbestimmung kausal festgelegt zu sein. Zuletzt soll dann nochmals auf die makrostrukturelle Reichweite der „Vorgefasstheiten“ von Lebenslaufstrukturen, Sozialisationsmustern und biografischen Selbstbestimmungen eingegangen werden. Welche Bedeutung haben gesellschaftliche Makrostrukturen und globale Dynamiken für die Strukturierung von Lebensläufen und Sozialisationsprozessen? Welche Rolle spielen für die soziale Konstruktion von Biografien und auch in Sozialisationsprozessen Medien? Lösen sie unter Umständen einen Wandel des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft aus? Manche Zeitdiagnosen (Serres 2015; Baecker 2007) behaupten das (Abschn. 13.5).
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Corsten, M. (2020). Schluss: Sozialtheorie des Lebenslaufs und der Sozialisation. In: Lebenslauf und Sozialisation. Studientexte zur Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6_13
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