Zusammenfassung
Die Frage nach dem Verhältnis von Biografie und Gedächtnis lässt sich von verschiedenen Seiten aus angehen. Zunächst erscheint es naheliegend, dass die Biografie als Darstellung des Lebens sich auf vergangene Ereignisse und Erfahrungen einzelner Personen bezieht und insofern abhängig ist von Gedächtnisleistungen. Um also überhaupt über ein vergangenes Leben zu sprechen, bedarf es Zeugen und Quellen (wie Dokumente, Briefe, Fotografien, usf.), die auf Ereignisse und Erfahrungen verweisen. Dies hatten wir unter anderem bei der Debatte um den Zeitzeugen (Abschn. 8.2) bereits von Harald Welzer gehört. Allerdings können Biografien selbst wiederum Teil eines sozial tradierten Gedächtnisses sein, nicht nur in Form von Büchern, sondern auch als Lexikoneintrag, Nachruf, Trauerrede, Gutachten, Portrait oder Anekdote, auf die sich die Nachwelt zur Rückvergewisserung ihrer eigenen Geschichte beziehen kann. Und nicht zuletzt spielen die hier bereits in den Abschn. 7.3 und 9.3 erörterten Familiengespräche eine besondere Rolle für das soziale Gedächtnis, aber auch Praktiken der „Oral History“ (Abschn. 1.2).
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Literatur
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Berger, Peter L./Luckmann, Thomas 1969: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.
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Glossar
Glossar
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Gedächtnis, autobiografisch
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Die Fähigkeit eines Akteurs, sich an Ereignisse und Erlebnisse seines Lebens zu erinnern.
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Gedächtnis, kollektiv
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Das Wissen bzw. die Wissensformen, die innerhalb einer Gruppe oder noch weiteren im Rahmen eines gesellschaftlichen Zusammenhangs – ggf. durch gegenseitige Unterstützungsleistungen – gespeichert sind und abgerufen werden können.
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Gedächtnis, kommunikativ
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Das Wissen bzw. die unterschiedlichen Wissensformen, die innerhalb von Kommunikation (meist als interpersonale und gegenwartsbasierte gedacht) abgerufen werden können.
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Gedächtnis, kulturell
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Das Wissen bzw. die Wissensformen, die als bewahrenswerte Kultur nicht nur innerhalb eines gesellschaftlichen Kollektivs, sondern darüber hinaus innerhalb einer Gesellschaft von Generation zu Generation weitergegeben wurden.
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Funktionsgedächtnis
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Die aktive bzw. operative Fähigkeit (einer Person, einer Gruppe, einer Gesellschaft), sich zu erinnern, indem zu einem (gegenwärtig) gegebenen Zeitpunkt, Wissen (bzw. Wissensformen) abgerufen wird.
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Speichergedächtnis
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Sämtliche Wissensinhalte und Wissensformen, die von einer Person, einer Gruppe, einer Gesellschaft oder von einer einzelne Gesellschaften überdauernden Kultur aufgespeichert sind.
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Gedächtnisarten
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Unterscheidung von Markowitsch und Welzer, nach der es prozedurale, assoziative (Priming), perzeptuelle, wissensförmige (faktisch-inhaltliche) und episodische Formen der Erinnerung gäbe.
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Praktiken
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Zusammenhänge Muster von Handlungsweisen, z. B. Praktiken des Bittens, des Sich-Entschuldigens, des Grüßens usf.
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Rituale
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Herausgehobene Praktiken zu besonders herausgehobenen Anlässen: Hochzeitsrituale, Abschieds- oder Willkommensfeiern, Ernennungs- und Einsetzungszeremonien usf.
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Artefakte
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Von „arte“ (Kunst) und „facere“ (machen). Das künstlich (durch den Menschen) Gemachte, das aber auch das ist, was von seinem Tun als materieller und wahrnehmbarer Gegenstand bleibt. Im Gemachten bleibt etwas aus der vergangenen Zeit des Machens bestehen, das als eine Erinnerungsspur wieder aufgesucht werden kann.
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Soziales Wissen und gesellschaftlicher Wissensvorrat
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Auch in der wissenssoziologischen Tradition (Schütz und Luckmann 1984; Berger und Luckmann 1969) finden wir mit den Begriffen des „sozialen Wissens“ oder des „Wissensvorrats“ Äquivalente zum kollektiven Gedächtnis sensu Halbwachs.
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Sedimentierung
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Das soziale Wissen gilt bei Berger/Luckmann als „sedimentiert“ und „legitimiert“, wenn es in das Alltagsdenken abgesunken ist und dort als Wissen abgerufen wird, auf das man sich berechtigterweise (als legitimiert) berufen kann.
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Corsten, M. (2020). Autobiografische Erinnerung und kommunikatives Gedächtnis. In: Lebenslauf und Sozialisation. Studientexte zur Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6_11
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