Zusammenfassung
Die soziologische Lebenslaufforschung beginnt vor rund 100 Jahren in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts – insbesondere in den USA. Gemeint ist damit, dass sich die Untersuchung von Lebensläufen im Rahmen einer Forschungstradition – genauer der sogenannten „Chicago School“ – als ein systematisch verwendetes Forschungswerkzeug etabliert. Während somit die klassischen Studien der modernen Soziologie, etwa Webers Protestantismus-Studie, Durkheims Selbstmordstudie oder die grundlegenden Theoriewerke von Weber, Simmel, Mead oder Durkheim um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verfasst wurden, setzt die empirische Erforschung von Lebensläufen etwas später ein. Sicher haben schon klassische Studien biografische Analysen beinhaltet, wenn wir uns etwa anschauen, dass Max Weber seine wesentlichen Argumente für den Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus einer Untersuchung der Biografien von Johannes Calvin und Benjamin Franklin verdankt. Solche Analysen waren jedoch methodisch noch wenig ausgearbeitet und haben daher keine eigene Forschungstradition begründet. Dies geschieht erst mit den Arbeiten von William I. Thomas, Dorothy S. Thomas und Florian Znaniecki in Chicago um 1920 herum. Diese Forschungstradition bringt in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Reihe von klassischen Studien hervor und wird nach einer Zwischenphase vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren wieder stärker aufgegriffen und auch neu ausgerichtet, zum einen in den USA selbst, und dann vor allem in Europa, ab den 1980er-Jahren verstärkt. Auch hier können wir wiederum Veränderungsschritte der konzeptionellen und methodischen Zugänge beobachten.
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Literatur
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Appendices
Glossar
In diesem ersten Abschnitt stand das Schnuppern an klassischen Studien im Mittelpunkt. Daher fällt das Glossar nur sehr schmal aus, da die meisten der hier verwendeten Begriffe später noch systematischer behandelt werden.
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Life Records (persönliche Dokumente)
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Aufzeichnungen, die von den Personen selbst gemacht werden, z. B. in deren Alltag (Briefe, Tagebücher) oder in besonderen Kontexten (Schreibwettbewerbe, auf Wunsch einer Behörde oder von Wissenschaftlern).
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Oral History
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Aufgezeichnete Erzählungen über eine geschichtliche Phase von Leuten, die diese Phase selbst erlebt haben und die ihre persönlichen Erfahrungen in das Geschriebene oder Erzählte einbringen.
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Kollektive biografische Schicksale (sozialer Figuren)
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Schon in der Chicago School ging es nicht allein und auch nicht primär um das individuelle Schicksal einer einzelnen Person. Das „Schicksal“ des Polish Peasant oder der „Hard Times“ bei Studs Terkel, die Geschichten aus dem „Baker’s Trade“, die Bertaux und Bertaux-Wiaume gesammelt haben, stehen für subjektive Erfahrungen, die viele Menschen in einer bestimmten sozialen Lage kollektiv relativ ähnlich gemacht haben. Wenn viele Menschen relativ ähnliche Erfahrungen machen und dazu gleichartige Muster der Bewältigung ausbilden, kann man auch von „Sozialfiguren“ (Stein 1980 ff.; Moebius and Schröer 2010) sprechen.
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Karriere
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In den Arbeiten von Howard Becker (und später von vielen anderen Soziologen) wird der Begriff Karriere nicht ausschließlich und nicht primär auf den Berufsweg oder eine Erfolgsbiografie (z. B. eines Künstlers) angewandt, sondern auch für typische Wege, die in bestimmte soziale Positionen oder Lebensstile führen, die auch abweichende Verhaltensweisen beinhalten können (wie Drogenkonsum oder spezielle Szenestile).
Aufgaben
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1.)
In der frühen Chicago-School wurde in den Studien zwischen der Darstellung der Analyse und der Dokumentation der persönlichen Aufzeichnungen (Briefe, Tagebücher, aufgeschriebene Biografien) strikt getrennt. Denken Sie über Vor- und Nachteile eines solchen Vorgehens nach und schreiben Sie sich die aus ihrer Sicht wichtigen Pro- und Contra-Argumente dazu auf.
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2.)
In der Oral History spielen Geschichten, in denen Zeitzeugen über ihr persönliches Erleben geschichtlicher Prozesse erzählen, eine besondere Rolle. Auch dies hat Stärken und Schwächen, birgt Chancen und Risiken. Versuchen Sie auch hier wieder die wichtigsten Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken, die Ihnen eingefallen sind, aufzuschreiben.
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3.)
Welche Potenziale haben Studien, die Gruppen von Individuen über einen längeren Zeitraum untersuchen – so wie etwa in „Children of Great Depression“? Welche Schwierigkeiten können in solchen Langzeituntersuchungen auftreten?
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Corsten, M. (2020). Zur Geschichte der Lebenslaufforschung. In: Lebenslauf und Sozialisation. Studientexte zur Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30397-6_1
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Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
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