Zusammenfassung
Architekturtheorie ist keine Sache ausschließlich der Wissenschaft. Sie besitzt einen Doppelcharakter als kreative Praxis wie auch analytische Wissenschaft. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Architektur als vom Menschen gemachtes Artefakt, das kein Vorbild in der Natur hat, im Entwurfs-, Bau- und Erfahrungsprozess Schemata, Modellen und Prinzipien des Denkens folgt und daher immer schon theoretisch informiert ist, so unbewusst dies auch sein mag. Die These ist, dass es für die Architektur eine vorwissenschaftliche Theorie gibt, aber keine vortheoretische Praxis. Es wird gezeigt, dass 1) eine vortheoretische Architektur ein Widerspruch in sich ist, dass 2) die Architektur nicht nur auf der Grundlage von Theorien gebildet wird, sondern dass in den besten Beispielen die Entwurfsprozesse immer auch Theoriebildungsprozesse sind, und dass darüber hinaus 3) Theorie in der Architektur immer andere Theorien infrage stellt, transformiert oder ersetzt und daher nur als kritische Theorie denkbar ist.
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Notes
- 1.
Es gibt mit künstlicher Intelligenz oder Bio-Art auch verschiedene Kunstpraktiken, die in einem Übergangsbereich zwischen den aristotelischen Kategorien des Seienden und Werdenden bestehen. Mit diesen Praktiken, die sich nicht mehr ausschließlich der menschlichen, hervorbringenden Tätigkeit alleine verdanken, ist dann ein besonderer Bereich von Kunst und Wissenschaft bezeichnet. Dem begrenzten Rahmen dieses Aufsatzes geschuldet wird auf eine Diskussion dieses Sachverhalts verzichtet.
- 2.
Mit der Aufgabe des Idealschönen verändert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Konzeption der Nachahmung, die Malerei löst sich aus der Bindung an die Natur und gewinnt konzeptuelle Freiheit. Diese nähert sich dann in ihrer Konzeption dem Konzept der Architektonik als der Kunst der Systeme und als Grundlage für die kreative Praxis an.
- 3.
Der hier anhand von Aristoteles und Kant skizzierte Doppelcharakter der Architekturtheorie als analytisch und kreativ entspricht den drei logischen Operationen der Deduktion, Induktion und Abduktion. Als analytische Wissenschaft folgt die Theorie der induktiven Operation, als kreative Praxis entweder der Deduktion oder der Abduktion. Deduktiven Charakter besitzt sie als Voraussetzung für den Entwurfsprozess, das heißt der Theorie als Modell des Denkens für die Überführung der allgemeinen Regeln in die besondere Gestalt des entsprechenden Entwurfs in seiner Kontextspezifik. In die Kategorie der Abduktion fällt die Theorie, wo die Theorie als neue Theorie Resultierende des Entwurfsprozesses ist.
Literatur
Aristoteles. (1994). Poetik. Stuttgart: Reclam jun.
Aristoteles. (1995a). Lehre vom Beweis oder Zweite Analytik. In Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden (Bd. 1). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Aristoteles. (1995b). Metaphysik. In Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden (Bd. 5). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Kant, I. (1996a). Transzendentale Methodenlehre. In I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Bd. 2). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kant, I. (1996b). Deduktion der reinen ästhetischen Urteile. In I. Kant, Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Winckelmann, J. J. (1968a). Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Malerey und Bildhauer-Kunst. In J. J. Winckelmann, Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Berlin: De Gruyter.
Winckelmann, J. J. (1968b). Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst. In J. J. Winckelmann, Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Berlin: De Gruyter.
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Gleiter, J.H. (2020). Architektur und die Kreativität der Theorie. In: Berr, K., Hahn, A. (eds) Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft. Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_11
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