Zusammenfassung
Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (im Folgenden: Briefe) sind ein klassisches Zeugnis für ein modernes Verständnis der Kunst als autonomer Größe der Kultur. ‚Klassisch‘ heißt, dass sie über den Zeitenabstand zur Gegenwart relevant für die Kultur der Gegenwart sind, dass man ihnen noch Einsichten zum Verständnis der Kunst und ihres Ortes im Gefüge der Deutung aktueller Lebensverhältnisse abgewinnen kann, ja, dass ihr Gehalt an Einsichten nicht erschöpft ist, sondern durchaus auch als zukunftsträchtig angesehen werden kann. ‚Klassisch‘ ist eine Weltdeutung, die in der Vergangenheit eine Weiche der historischen Entwicklung zur Gegenwart hin gestellt hat, sodass dieses Verständnis der Gegenwart auf einem Boden der Tradition beruht und zugleich in die Zukunft weist.
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Notes
- 1.
Ich zitiere nach: Friedrich Schiller: Erzählungen, theoretische Schriften, 2004, S. 57–669.
- 2.
Siehe dazu unten Kap. 3.
- 3.
Dazu maßgebend Koselleck: Historia Magistra Vitae, 1979.
- 4.
Zum Typ der genetischen Sinnbildung siehe Rüsen: Historik, 2013, S. 212 f.
- 5.
Auch das hat Koselleck maßgeblich beschrieben: Koselleck: ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, 1997.
- 6.
So ist für Schiller das „vollkommenste aller Kunstwerke“ der „Bau einer wahren politischen Freiheit“ (572).
- 7.
Von Heiligkeit redet Schiller zum Beispiel in der Anmerkung des 23. Briefs (644). S. auch S. 649, wo Schiller vom „Moralgesetz“ als dem „Heiligen im Menschen“ spricht. Er folgt hier dem Trend der Aufklärung, Religion in Moral aufgehen zu lassen (Lessings „Nathan“) und humanisiert dann das Heilsversprechen dieser Moral zur Kunst.
- 8.
Siehe Prüfer: Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, 2002.
- 9.
Er sagt, man könne den Naturzustand, die erste der Großepochen der Universalgeschichte „bei keinem bestimmten Volk und Zeitalter nachweisen; er ist bloß Idee, aber eine Idee, mit der die Erfahrung in einzelnen Zügen aufs genaueste zusammenstimmt.“
- 10.
Immerhin hat Ranke den Kunstcharakter der fachhistorischen Historiographie uneingeschränkt anerkannt: „Die Historie unterscheidet sich dadurch von anderen Wissenschaften, dass sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt, findet, durchdringt; Kunst, indem sie das Gefundene, Erkannte wieder gestaltet, darstellt. Andere Wissenschaften begnügen sich, das Gefundene schlechthin als solches aufzuzeichnen: bei der Historie gehört das Vermögen der Wiederhervorbringung dazu. […] … [Die Geschichte] muss […] zugleich Wissenschaft und Kunst sein. Sie ist nie das eine ohne das andere. […] Die Kunst beruht auf sich selber: ihr Dasein beweist ihre Gültigkeit, dagegen vollkommen durchgearbeitet sein bis zu ihrem Begriff und über ihr Eigenstes klar muss die Wissenschaft sein.“ [Ranke: Vorlesungseinleitungen, 1975, S. 72 f.].
- 11.
So etwa in Droysens Kritik an Gervinus : Gervinus meine „das Wesentliche gefunden zu haben, wenn er gewisse Regeln angibt, wie man Geschichte schreiben müsse. Wäre der Zweck unserer Studien, geschichtliche Bücher zu schreiben, so wäre es besser, wir gäben sie auf. Ich würde am liebsten sagen, die Historik soll das Organon für unsere Wissenschaft sein.“ (Droysen : Historik, ed. Peter Leyh, Bd. 1, 1977, S. 44).
- 12.
Fulda: Wissenschaft aus Kunst, 1996.
- 13.
Symptomatisch ist beispielsweise die Charakterisierung der Bundesrepublik Deutschland in Bausch und Boden als „post-nationalsozialistische Migrationsgesellschaft“ bei Messerschmidt: Historisch-politische Bildungsarbeit in der postnationalsozialistischen Migrationsgesellschaft, 2013.
- 14.
Eine eigene Denkgeschichte weist die Vorstellung des Post-Historischen auf. Sie ist älter als die aufgezählten anderen Strömungen und richtet sich weniger gegen die Moderne, sondern sie entnimmt dieser einen allgemeinen Trend hin zum Endzustand ihrer Entwicklung. Die moderne Vorstellung einer gegenüber der Vergangenheit asymmetrischen Zukunft findet hier eine radikale Variante, weil es keine qualitativ differente Zukunftsdimension mehr gibt. Siehe Niethammer: Posthistoire, 1989.
- 15.
Typisch dafür ist Saal: Kultur, Tradition, Moderne im Spiegel postkolonialer Differenzbewegungen, 2013.
- 16.
So Richard Rorty in einer Diskussion im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.
- 17.
So Braidotti: Posthumanismus, 2014. Im englischen Original heißt das Buch übrigens „The Posthuman“. Siehe auch: Coenen: Transhumanismus, 2009.
- 18.
Gervinus: Grundzüge der Historik, 1962, S. 88. Zu Rankes Einsicht in die Doppelnatur des historischen Denkens siehe unten Kap. 11.
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Rüsen, J. (2020). Klassische Geschichtstheorie – Historisches Denken in Schillers Ästhetik. In: Geschichte denken. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29275-1_2
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Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
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