Zusammenfassung
Die Möglichkeit, eine abweichende Meinung zu einer Gerichtsentscheidung in Form eines Sondervotums bekanntzugeben, ist heute in der Mehrzahl der Landesverfassungsgerichte gesetzlich vorgesehen. Nachdem vor allem die Landesverfassungsgerichte in den neuen Bundesländern sich an dem Modell des Bundesverfassungsgerichts orientierten und das Instrument etablierten, folgten zuletzt Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Gleichwohl unterließ es die Politikwissenschaft über lange Zeit, sich mit der empirischen Relevanz, den individuellen Beweggründen und den institutionellen Rahmenbedingungen von Sondervoten auseinanderzusetzen. Der Beitrag schließt in dieser Hinsicht eine Lücke. Es werden die landesrechtlichen Regelungen zu Sondervoten in Landesverfassungsgerichten in allen 16 Bundesländern berücksichtigt. Darüber hinaus werden Sondervoten hinsichtlich Umfang, Verfahrensbezug und Autorenschaft in sechs ausgewählten Landesverfassungsgerichten (Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Bremischer Staatsgerichtshof, Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Landesverfassungsgericht von Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht, Thüringer Verfassungsgerichtshof) eingehender analysiert. Ausgewählte Entscheidungen mit Sondervoten dienen der Illustration der Motive und inhaltlichen Begründung der Abgabe abweichender Richtermeinungen.
Für wertvolle Zuarbeit bei der Datenrecherche und Literaturbeschaffung geht mein Dank an Tim Vogt und Benedikt Siegler. Ich verwende im Weiteren das generische Maskulinum. Zitierte Entscheidungen von Landesverfassungsgerichten werden ohne Fundstellen angegeben; sie finden sich alle auf den Webseiten der Gerichte.
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- 1.
In Anlehnung an Eggeling (2006, S. 72 f.) meint abweichende Meinung den Inhalt, dessen prozessuale Form das Sondervotum ist. Die abweichende Meinung kann sich auf das Ergebnis bzw. den Tenor einer Entscheidung beziehen (dissenting opinion) oder aber auf die Gründe, die zu einer Entscheidung führen (concurring opinion).
- 2.
In Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg genügt die einfache oder relative Mehrheit für die Wahl der Richter (Reutter 2017b, S. 8; Reutter in diesem Band).
- 3.
Bezeichnenderweise sind Sondervoten mit Ausnahme des BayVerfGH bei einem Typus von LVerfG ausgeschlossen, den Lembcke und Güpner (2018, S. 100) aufgrund umfangreicher verfassungsrechtlicher Prüfungskompetenzen als „Hüter der Verfassung“ kennzeichnen.
- 4.
Landtag NRW, LT-Drs. 16/13312 vom 31.10.2016.
- 5.
Der HessStGH verfügt über keine eigene Geschäftsordnung, sondern verweist auf die Verfahrensbestimmungen des BVerfG.
- 6.
ThürVerfGH, Urteil vom 13.04.2016, Az. VerfGH 11/15 („Winterabschiebestopp“); ThürVerfGH, Urteil vom 06.07.2016, Az. VerfGH 38/15 (Organklage gegen Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz); ThürVerfGH, Beschluss vom 12.09.2018, Az. VerfGH 32/16 (Organklage gegen Ältestenrat des Landtags Thüringen); ThürVerfGH, Urteil vom 25.09.2018, Az. VerfGH 24/17 (abstrakte Normenkontrolle zur Verfassungsmäßigkeit der Absenkung des Wahlalters).
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Thierse, S. (2020). Sondervoten in Landesverfassungsgerichten. In: Reutter, W. (eds) Verfassungsgerichtsbarkeit in Bundesländern. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28961-4_7
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