Legal-Tech-Anwendungen ermöglichen erhebliche Effizienzsteigerungen sowohl im Umfeld der juristischen Tätigkeit (bei den Hilfsfunktionen) als auch zunehmend im Kernbereich der juristischen Tätigkeit, und zwar insbesondere dort, wo es um relativ einfache repetitive Arbeitsschritte geht. (Eine umfassende Darstellung der Auswirkungen, einschließlich der internationalen Perspektive, bietet das Sammelwerk Liquid Legal von Jacob et al. 2017.)

4.1 Allgemeine Auswirkungen

4.1.1 Zugang zum Recht

Eine der gesellschaftlich wichtigsten Auswirkungen von Legal Tech ist der einfachere Zugang zum Recht (Friedmann 2017, S. 44). Zum einen erleichtern Anwaltsportale und Marktplätze dem Verbraucher, aber auch kleinen und mittleren Unternehmen die Auswahl und den Kontakt zum Anwalt und gewährleisten darüber hinaus häufig auch eine gewisse Kostenkontrolle. Zum anderen macht die technische Möglichkeit, Massen gleich gelagerter Fälle mit einem sehr geringen Aufwand je einzelnem Fall abzuwickeln, das Angebot von Rechtsdienstleistungen im Bereich vermeintlicher Bagatellfälle wirtschaftlich, in denen zuvor Aufwand bzw. Kostenrisiko und Nutzen außer Verhältnis standen. Paradebeispiel sind die Portale, die die Prüfung und Verfolgung von Entschädigungsansprüchen für Flug- oder Zugverspätungen anbieten (Übersicht zu Legal Tech im Verbraucherrecht bei Ditscheid 2017, S. 684).

4.1.2 Unbundling

Für den Rechtsmarkt selbst ist das sogenannte Unbundling die wichtigste Auswirkung: Auch bei juristischen Dienstleistungen gibt es eine Wertschöpfungskette. Legal Tech bricht diese juristische Wertschöpfungskette auf. So kann etwa im Rahmen der anwaltlichen Beratung einer komplexen M&A-Transaktion die Due Diligence mittels eines Document-Retrieval-Systems durchgeführt werden, das dabei möglicherweise nicht unmittelbar von der beratenden Kanzlei selbst, sondern einem LPO-Anbieter genutzt wird. Im Vollzug der Transaktion können Closing-Dokumente automatisiert erstellt werden, möglicherweise auf einem Cloud-basierten System, das ein Legal-Tech-Unternehmen der Kanzlei auf seinen eigenen Rechnern zur Verfügung stellt. Es kommt also zu arbeitsteiligen Prozessen, die sich über die Grenze der beratenden Kanzlei hinaus auch auf weitere Dienstleister erstrecken können.

Selbst bei weniger komplexen Rechtsdienstleistungen kann es zu einer Aufteilung des Produktionsprozesses kommen. Beispielsweise wenn Verbraucher die Portale zur Prüfung und Verfolgung von Entschädigungsansprüchen bei Flug- oder Zugverspätungen oder auf Verbraucher ausgerichtete Marktplätze nutzen: Der Verbraucher beauftragt dabei, wenn er den Anspruch nicht an den Portal-Anbieter abtritt, über das Portal einen Vertragsanwalt des Portal-Anbieters. Vielfach nutzt dann dieser Vertragsanwalt für den Großteil seiner Fallbearbeitung die ihm vom Portal-Anbieter zur Verfügung gestellten Workflow-Management-Systeme, Rechtsgeneratoren und Systeme zur automatisierten Dokumentenerstellung. Es entsteht eine digitale Fertigungsstraße (Breidenbach 2017, S. 28 f.).

4.1.3 Standardisierung

Außerdem zwingt Legal Tech Kanzleien genauso wie Unternehmen dazu, die internen Abläufe und Prozesse zu definieren, zu formalisieren und zu standardisieren, weil das die Voraussetzung für die gewinn- bzw. effizienzbringende Nutzung der Legal-Tech-Anwendungen ist (Fiedler und Grupp 2017, S. 1085). Aus demselben Grund fördert Legal Tech die Spezialisierung, zwecks Akquise möglichst vieler gleich gelagerter Fälle.

Legal Tech kann darüber hinaus sogar Auswirkungen auf die rechtlichen Inhalte von Verträgen und anderen rechtlichen Dokumenten haben. Effizienzsteigerungen bei der Erstellung und Verwaltung von Verträgen rechtfertigen unter Umständen den Verzicht auf das detaillierte Ausverhandeln von solchen Klauseln, die am Ende ohnedies nur in seltenen Ausnahmesituationen zur Anwendung gelangen würden.

Insbesondere im Bereich der Smart Contracts könnten technisch praktikable Regelungen gegenüber einer im Einzelfall gerechten, aber womöglich zu ausdifferenzierten Lösung vorzugswürdig sein. Am Ende könnte sogar der Gesetzgeber der Nutzung digitaler Technologien bei Anwendung der von ihm erlassenen Normen Rechnung tragen (dazu unter Abschn. 4.5).

Vorangetrieben wird die Idee der Standardisierung vor allem von Unternehmensjuristen. Die im Verhältnis zu dem wachsenden Berg an Aufgaben immer geringer werdenden Budgets zwingen die Rechtsabteilungen dazu, genau zu prüfen, wo maßgeschneiderte rechtliche Lösungen notwendig sind und wo standardisierte Inhalte genügen oder sogar Vorteile bringen, weil auch die sich aus ihnen ergebenden Folgefragen effizienter bearbeitet werden können.

4.1.4 Ausbildung

Legal Tech hat ferner Folgen für die Ausbildung von Juristen. In den USA widmen sich mittlerweile rund 20 Law Schools und Universitäten vertieft diesem Themenfeld (Mattig und Kuhlmann 2017). Der Ausbildungsbereich hat dort längst darauf reagiert, dass für angehende Juristen ein gewisses Maß an IT-Kenntnissen in vielen ihrer späteren Tätigkeitsbereiche unabdingbar sein wird. In Deutschland werden hingegen nur an einzelnen Universitäten Lehrveranstaltungen zum Thema Legal Tech angeboten. Zu den Pionieren gehören die Bucerius Law School in Hamburg und die Universität Hamburg, die Universität Münster, die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder sowie die LMU in München (Mattig und Kuhlmann 2017). Umfangreichere Lehrveranstaltungen zum Thema Legal Tech gab es zuletzt aber auch an den Universitäten in Berlin (Humboldt Universität ), Erlangen, Frankfurt am Main und Heidelberg. Davon, fester Ausbildungsbestandteil zu sein, ist Legal Tech hierzulande jedoch noch sehr weit entfernt. Vonseiten der Studierenden wird dies allerdings zunehmend eingefordert, was sich nicht zuletzt an der Entstehung mehrerer studentischer Initiativen zeigt, die sich der Stärkung des Themas Legal Tech in der Juristenausbildung verschrieben haben (dazu unter Abschn. 6.2.5). Dabei könnte Legal Tech vor allem eine Chance sein, Grundlagenthemen, die in den vergangenen Jahrzehnten in den Hintergrund gerückt sind, namentlich die juristische Methodenlehre, aber auch die Rechtsethik, wieder stärker in den Fokus zu rücken.

International gibt es einzelne Vorzeigeuniversitäten in Sachen Legal Tech. Die Ulster University im nordirischen Belfast gehört dazu. Dort gibt es seit 2017 ein Legal Innovation Center, an dem man etwa einen LL.M. im Bereich Legal Tech erwerben kann. In Spanien bietet das Instituto de Empresa (IE University ) einen Master in Legal Tech an. In den USA sticht besonders die Universität Stanford mit CodeX hervor (dazu ebenfalls unter Abschn. 6.2.5). Als erste deutsche Universität bietet die Universität Regensburg seit 2020 einen LL.M. in Legal Tech an.

4.2 Auswirkungen auf Kanzleien

4.2.1 Status quo und Perspektive

Die Kanzleienlandschaft ist vielfältig . Die Kanzleien unterscheiden sich vor allem in Größe und Spezialisierungsgrad. Der Status quo und die Perspektive der Kanzleien in Bezug auf Legal Tech sind dementsprechend uneinheitlich – das gilt für die Frage, welchen Einfluss die Nutzung von Legal Tech durch andere auf die eigene Kanzlei hat, als auch für die Frage, welche Möglichkeiten, Auswirkungen und Grenzen der Einsatz von Legal Tech durch die eigene Kanzlei hat. Nachfolgend soll der Schwerpunkt auf den die Unternehmen beratenden Wirtschaftskanzleien liegen.

Aus der Perspektive dieser Kanzleien ist Legal Tech in erster Linie ein Instrument, um den Erwartungen des Mandanten an eine kosteneffiziente Dienstleistung gerecht zu werden (zur Strategieentwicklung Halbleib 2018, S. 31 ff.). Legal Tech unterstützt die Kanzleien dabei, dem von Richard Susskind (2013) formulierten „More-for-Less“-Phänomen gerecht zu werden, also der Erwartung der Mandanten, von ihrer Kanzlei mehr Leistungen für weniger Geld zu erhalten. Daneben verspricht der Einsatz von Legal Tech Qualitätssicherung und -steigerung. Das hat mehrere Gründe:

  • Maschinen unterlaufen per se keine menschlichen Fehler.

  • Maschinen können in kurzer Zeit mehr Daten einbeziehen, als ein Mensch je wird berücksichtigen können.

  • Je mehr Arbeit die Maschine übernimmt, desto mehr Zeit bleibt dem Anwalt, sich auf die juristisch anspruchsvollen und vor allem auf die strategischen Fragen zu konzentrieren.

  • Außerdem zwingt Legal Tech dazu, sich mit den kanzleiinternen, aber auch mit den mandantenseitigen Arbeitsabläufen und Prozessen zu befassen.

In der Diskussion über Legal Tech steht gegenwärtig der Effizienzgewinn und mithin der Kostengesichtspunkt noch klar im Vordergrund. Die Wirtschaftskanzleien können, um auf den Effizienz- und Kostendruck seitens der Mandanten zu reagieren, im Grundsatz zwei Wege einschlagen:

  • Sie können versuchen, sich aus den stärker standardisierten und unter Kostendruck geratenen Bereichen (Low-End-Geschäft) zurückzuziehen und sich auf solche Bereiche zu konzentrieren, in denen es aufgrund einer hohen Bedeutung der Beratung für den Mandanten, eines hohen Anspruchs an die Qualität der Beratung und eines geringen Wettbewerbs keinen gesteigerten Kostendruck gibt (High-End-Geschäft). Das kann mit einem Schrumpfen des Geschäfts und der Kanzlei verbunden sein. Daraus folgt auch, dass die Mandantenbindung im Hinblick auf die Zahl der Kontaktpunkte geringer wird. Auch können für Mandanten wichtige Einblicke in den Markt verloren gehen.

  • Alternativ können die Kanzleien neben dem High-End-Geschäft auch das Low-End-Geschäft beibehalten und mittels Legal Tech und anderer neuerer Gestaltungen bei der Erbringung ihrer Dienstleistung versuchen die Profitabilität auch im Low-End-Geschäft aufrechtzuerhalten – oder sich sogar neues, in der Vergangenheit (noch) nicht als profitabel angesehenes Low-End-Geschäft zu erschließen.

Einzelne große Wirtschaftskanzleien haben sich insoweit bereits klar positioniert: Ziel ist es, Kosteneffizienz und Qualität zusammenzuführen und dazu verschiedene Gestaltungen bei der Erbringung der Dienstleistung bzw. neuartige Dienstleistungen unter einer Marke anzubieten, die Mandanten mit dem Versprechen von einheitlicher Qualität und umfassendem Service an sich bindet (vgl. Hartung M 2015).

Soweit Kanzleien dabei auf Legal Tech setzen, werden die juristischen Fähigkeiten und Erfahrungen entscheidend, die beim Programmieren zum Einsatz kommen (Fries 2016, S. 2862 f.), oder aber bei der Nutzung der verschiedenen Legal-Tech-Lösungen. Es bedarf also Mitarbeitern, die auf die eine oder andere Weise juristische und technische Kenntnisse und Fähigkeiten miteinander verbinden können.

Vor allem im stark regulierten Finanz- und Kapitalmarktbereich kann die Leistung der Kanzleien heute schon über die reine Rechtsberatung und die Erstellung von Transaktionsdokumenten hinausgehen. In diesen Bereich gibt es zunehmend Herausforderungen, die ohne Legal Tech kaum noch zu bewältigen sind. So finden sich im Bereich des Kapitalmarktrechts aufsichtsrechtliche Vorgaben, deren Umsetzung sich etwa im Massengeschäft einer Bank ohne technische Unterstützung nicht mehr ohne weiteres bewerkstelligen lässt. Hier sind die Kanzleien durchaus gefragt, spezifische Legal-Tech-Lösungen zu entwickeln, denn für Legal-Tech-Unternehmen sind diese Lösungen meist zu speziell.

Hinzu kommt als weitere potenzielle Aufgabe für Kanzleien die Unterstützung der Rechtsabteilung, soweit das „Befüllen“ und Trainieren eines Systems nicht durch dessen Hersteller erfolgt oder soweit dieser dabei rechtlichen Input seitens der Gesellschaft und deren Berater benötigt.

Außerdem ist Legal Tech zu einem eigenen Beratungsgegenstand geworden. Die Fragen, die sich mit der Einführung oder Nutzung von Legal Tech stellen, können komplexer Natur sein und sind nicht selten auch strategisch bedeutsam. Die internationalen Wirtschaftskanzleien sind neben der reinen Rechtsberatung längst auch in der Beratung zu Schnittstellenthemen sowie in den Bereichen Legal Resourcing und Managed Services aktiv. Diese beginnende Diversifikation ist Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung dahin, dass die herkömmliche, klar definierte Aufgabenverteilung zwischen den Akteuren im Rechtsmarkt, d. h. Rechtsabteilungen, Kanzleien, LPO-Anbietern, Personalvermittlern und Strategieberatern, zunehmend verloren geht und sich die Grenzen zwischen den Akteuren verwischen (Brayne 2019, S. 9 ff.). Vor diesem Hintergrund fügt sich heute Legal Tech als eigener Beratungsgegenstand nahtlos in das Angebotsportfolio sich stärker diversifizierender Kanzleien ein. Daneben stellen sich rund um das Thema Legal Tech Fragen zu Datenschutz, geistigem Eigentum, aber auch zu Haftungsthemen, einschließlich der Haftung bzw. Enthaftung der Geschäftsleiter (zu alldem nachfolgend unter Kap. 5). Im Zusammenhang mit diesen Fragen ist dann wieder die klassische Rechtsberatung gefordert.

4.2.2 Verhältnis zu Legal-Tech-Unternehmen

Nicht wenige Hersteller von Legal-Tech-Produkten haben sich auf Kanzleien als Kunden fokussiert. Zudem sind einige Kanzleien mit Legal-Tech-Unternehmen – zumeist projektbezogen – Kooperationen eingegangen. Einzelne, wie Allen & Overy mit Fuse , haben Kollaborationsräume für Legal Tech Start-ups geschaffen, oder sie haben, wie Dentons mit Nextlaw Lab und Nextlaw Ventures , Innovationslabore oder Wagniskapitalgebergesellschaften gegründet. Dabei werden jeweils zwei Ziele verfolgt: Zum einen geht es darum, den Einsatz von Legal Tech im Kanzleiumfeld zu beschleunigen. Zum anderen können derartige Initiativen aber auch dazu dienen, für Mandanten geeignete Legal-Tech-Lösungen frühzeitig zu erkennen oder sogar selbst zu entwickeln und hierüber die Beziehungen zu den Mandanten zu vertiefen.

Andererseits treten ein Teil der Legal-Tech-Unternehmen sowie LPO-Anbieter, die mit Legal-Tech-Unterstützung arbeiten, zu den Kanzleien in Konkurrenz. Für den Mandant stellt sich beispielsweise die Frage, ob er für eine E-Discovery (dazu unter Abschn. 2.3.1) eine Kanzlei oder einen hierauf spezialisierten E-Discovery-Anbieter beauftragt. Selbst wenn das Mandat im Grundsatz in der Kanzlei bleibt, bildet Legal Tech eine Konkurrenz zur klassischen Rechtsberatung. So stellt sich beispielsweise für den Mandanten bei einem Unternehmenskauf die Frage, ob die von ihm mit der Due-Diligence-Prüfung mandatierte Kanzlei diese Prüfung allein mithilfe ihrer Anwälte, oder aber unter Nutzung eines Information-Retrieval-Systems durchführen soll. Letzteres hat für die Kanzlei zur Folge, dass sie für die Due-Diligence-Prüfung weniger Anwälte zum Einsatz bringen und damit auch weniger Zeit abrechnen kann.

Ferner kann Legal Tech in Form von Cloud-basierten Information-Retrieval- und Dokumentenanalyse-Systemen die Position der Wirtschaftskanzleien schwächen. Je mehr Unternehmensdaten auf den Rechnern der Legal-Tech-Unternehmen liegen, umso mehr können diese den Unternehmen darauf bezogene Produkte anbieten und auf diese Weise die weniger komplexen juristischen Arbeitsschritte übernehmen.

4.2.3 Zusammenarbeit zwischen Kanzleien und Unternehmen

Dort wo Legal Tech im Unternehmensbereich zur Anwendung kommt, werden die Wirtschaftskanzleien nicht nur etwaige Schnittstellen bedienen, sondern sie können im Idealfall auch beim Aufbau der Prozesse beraten. Kanzleien können den Unternehmen und deren Rechtsabteilungen darüber hinaus das Management juristischer Prozesse abnehmen, aber auch verschiedene alternative Anbieter koordinieren (Hartung D 2017, S. 95). Zudem werden Wirtschaftskanzleien, insbesondere in Sondersituationen wie außergewöhnlichen M&A-Transaktionen, vermehrt zum transaktionsbegleitenden Einsatz von Legal Tech beraten und diesen als Teil des Transaktions-Managements mitbetreuen.

So wie Wirtschaftskanzleien bislang bei komplexen rechtlichen Sachverhalten beraten haben, so können sie künftig die Unternehmen auch bei der Nutzung von Legal-Tech-Anwendungen unterstützen. So gehört es womöglich bald schon zur Normalität, dass ein Unternehmen eine Wirtschaftskanzlei damit mandatiert, die Inhalte eines Systems zur automatisierten Dokumentenerstellung an neue Gesetze oder Rechtsprechung anzupassen. Auch dürfte es in Zukunft häufiger vorkommen, dass Wirtschaftskanzleien Unternehmen bei der Entwicklung solcher Legal-Tech-Anwendungen unterstützen, die zu speziell sind, als dass sie von Legal-Tech-Firmen im Alleingang entwickelt werden könnten.

Die zunehmende Digitalisierung dürfte außerdem dazu führen, dass Kanzleien den Rechtsabteilungen Zugang zu kanzleiinternem Know-how gewähren – ein Trend, der längst begonnen hat. Umgekehrt ist dies ebenfalls denkbar: Der externe Rechtsanwalt sucht sich die notwendigen Sachverhaltsinformationen in den Daten des Unternehmens selbstständig heraus. Die gemeinsame Bearbeitung von Dokumenten ist heute schon möglich.

Legal Tech führt auf beiden Seiten, bei Unternehmen und Kanzleien, dazu, dass Prozesse stärker in den Vordergrund treten. Es wird immer wichtiger, dass die Kanzlei, wenn sie ein Unternehmen berät, auch dessen Prozesse im Blick hat – so, wie die Rechtsabteilung schon heute die operativen und sonstigen Prozesse im Unternehmen berücksichtigen muss. Zukünftig werden dadurch die Schnittstellen zwischen dem Unternehmen bzw. dessen Rechtsabteilung und der beratenden Kanzlei vielfältiger und die Zusammenarbeit von einem höheren Integrationsniveau geprägt sein.

Einfachere Standardaufgaben werden die Unternehmen aufgrund von Legal Tech in größerem Umfang als bisher selbst erledigen können oder von Legal-Tech-Firmen erledigen lassen. Dadurch wird sich die traditionelle Beratungsleistung der Wirtschaftskanzleien stärker in Richtung einer strategischen Beratung verschieben.

4.2.4 Vergütungsmodell, Kanzleifinanzierung und -struktur

Durch Legal Tech wird das herkömmliche Vergütungsmodell der Wirtschaftskanzleien, also die Abrechnung auf Basis von Zeiteinheiten (sogenannte Billable Hours ), infrage gestellt. Das gilt insbesondere, wenn Legal Tech nicht offen, sondern rein intern eingesetzt wird. Beim offenen Einsatz ist es die Entscheidung des Mandanten, dass Legal Tech genutzt werden soll, beispielsweise ein Information-Retrieval-System im Rahmen der Due Diligence. Der Mandant übernimmt in diesem Fall auch die dadurch anfallenden Kosten. Beim rein internen Einsatz entscheidet die Kanzlei, ob sie das Beratungsprodukt mittels Legal-Tech-Unterstützung erstellt oder nicht. Allerdings funktioniert dann das herkömmliche Vergütungsmodell insoweit nicht mehr. Einerseits fallen durch den Einsatz von Legal Tech weniger Billable Hours an, die dem Mandanten in Rechnung gestellt werden können. Andererseits muss die Kanzlei in das genutzte System bzw. die genutzte Anwendung investieren (vgl. Halbleib 2018, S. 39 ff.). Das Vergütungsmodell kann dem nur sinnvoll Rechnung tragen, wenn es sich zumindest partiell in Richtung Festpreise entwickelt. Umgekehrt ist aber die Effizienzsteigerung durch Legal Tech zugleich auch ein wichtiger Baustein, um ohne Verringerung der Profitabilität von einem auf Zeiteinheiten basierenden Vergütungsmodell zu einem Vergütungsmodell auf Basis von Festpreisen zu gelangen, welches von den Mandanten völlig unabhängig vom Einsatz von Legal Tech häufiger eingefordert wird. Allerdings ist die Diskussion über Festpreise schon über ein Jahrzehnt alt. Bislang haben sich Festpreise nicht so durchsetzen können, wie das anfangs erwartet wurde. Das liegt auch daran, dass Unternehmen bei der Mandatierung einer Kanzlei zwar ihr Risiko nach oben durch ein sogenanntes Cap begrenzen möchten, indessen aber nicht bereit sind, das Risiko einzugehen, dass der Festpreis am Ende höher liegt als der Betrag, der sich bei stundenbasierter Abrechnung ergeben hätte. Diese Zurückhaltung gegenüber Festpreisen macht es den Kanzleien nicht einfach, vernünftige Abrechnungsmodelle für den kanzleiinternen Einsatz von Legal Tech zu entwickeln.

Der Umstand, dass Kanzleien gezwungen sein werden, Investitionen in Legal Tech zu tätigen, hat ferner Auswirkungen auf die Kanzleifinanzierung. Diese ist heute zuvorderst auf den kurzfristigen Mittelbedarf für den laufenden Betrieb bezogen. Künftig wird sich die Finanzierung stärker in Richtung Investitionsfinanzierung verschieben. Dadurch könnte es erforderlich werden, Kapital bei Dritten längerfristig aufzunehmen, und zwar gegebenenfalls auch in Form von Eigenkapital. Hierfür bestehen derzeit noch berufsrechtliche Hürden. Die Diskussion über deren Abbau wird hierzulande, insbesondere nach Veröffentlichung des Eckpunktepapiers des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz für eine Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaften vom 27.08.2019 (dazu auch unter Abschn. 5.2), recht streitig geführt.

Wenn die eingesetzte Technik größere Bedeutung erlangt und Kanzleien so wie andere Unternehmen Investitionen tätigen müssen, treten die individuellen Anwälte in den Hintergrund. Die Anwaltspersönlichkeit wird zunehmend durch die Marke ersetzt. In der Folge lässt sich dann zumindest in Teilbereichen auch in Kanzleien Produktion und Vermarktung trennen.

Am Markt entstehen ferner – wenn auch bislang nur vereinzelt – Kanzleien neuen Typs, die sich gerne auch als „neue Generation “ von Kanzleien sehen und primär auf Legal Tech setzen. Dazu gehören etwa Chevalier und Rightmart , die eher im Bereich des Arbeits- bzw. Verbraucherrechts tätig sind , sowie Yester & Morrow , die im Bereich des Wirtschaftsrechts berät. Ob der Ansatz solcher Kanzleien tatsächlich ein völlig anderer ist als der, in dessen Richtung sich die großen Wirtschaftskanzleien bewegen, hängt vom Einzelfall ab. Je stärker sich aber Kanzleistrukturen hin zu Strukturen wandeln müssen, die denen klassischer Industrien ähneln, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ganz neue „Player“ als Rechtsberater am Markt auftreten.

4.2.5 Veränderungsfähigkeit

In den vergangenen zwei Jahrzehnten war der Veränderungsdruck auf die Kanzleien trotz zweier großer Finanz- und Wirtschaftskrisen und des damit verbundenen zeitweisen Einbruchs des Beratungsgeschäfts relativ gering. Bestrebungen, mithilfe von Legal Tech kosteneffizienter zu arbeiten, haben sich bei der Masse der Kanzleien – auch bei der Mehrheit der internationalen Wirtschaftskanzleien – erst recht spät herausgebildet.

Der Grad der Veränderungsfähigkeit von Kanzleien wird außer durch das Maß des äußeren, d. h. mandantenseitigen Drucks vor allem durch die Struktur der Kanzleien geprägt (siehe Abb. 4.1). Kanzleien sind in der Regel als Partnerschaften organisiert. Dabei gibt es, was die Gewinnverteilung anbelangt, zwei mögliche Grundmodelle: zum einen das sogenannte „Eat-what-you-kill“-Modell, bei dem jeder Partner nach Abzug der Allgemeinkosten (Overhead-Kosten) den Gewinn erhält, den er mit seinen eigenen Mandaten erzielt hat, zum anderen das Lockstep-Modell, bei dem der von allen Partnern erzielte Gewinn nach Abzug der Allgemeinkosten in einen Topf kommt und an die Partner nach einem an die Seniorität anknüpfenden Punktesystem verteilt wird. Während das „Eat-what-you-kill“-Modell für den einzelnen Partner einen starken Anreiz zur Mandatsgewinnung schafft, fördert das Lockstep-Modell die Kollaboration. Auch wenn die wenigsten Kanzleien dem einen oder dem anderen Modell in Reinform folgen, so stehen die US-amerikanischen Kanzleien meist dem „Eat-what-you-kill“-Modell näher, während die englischen Kanzleien meist dem Lockstep-Modell näher stehen. Da das Lockstep-Modell die Kollaboration fördert, unterstützt es Veränderungsprozesse, insbesondere kanzleiinterne Digitalisierungsprozesse tendenziell stärker, als das „Eat-what-you-kill“-Modell, bei dem der Partner stärker auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist.

Abb. 4.1
figure 1

Veränderungsfähigkeit von Kanzleien in Abhängigkeit von deren Struktur

Neben der Art und Weise der Gewinnverteilung unterscheiden sich Kanzleien auch durch die Stärke des Managements . Hier gibt es ebenfalls zwei unterschiedliche Grundmodelle: zum einen das der partnerschaftlichen Entscheidungsfindung, bei der sämtliche Partner bei allen die Kanzlei betreffenden Entscheidungen mitsprechen dürfen und das Kanzlei-Management (d. h. Managing Partner und operative Leitung) dementsprechend eine schwache Stellung hat, zum anderen die sogenannte Managed Firm, bei der das Kanzlei-Management weitreichende Entscheidungen treffen kann und im Extremfall sogar alleine über die Aufnahme und den Ausschluss von Partnern entscheidet. Letzteres macht es tendenziell leichter, auf Veränderungsnotwendigkeiten zu reagieren.

Die wenigsten Kanzleien haben ein Management, das stark genug ist, um notwendige Veränderungen durchzusetzen, ohne zuvor die Mehrheit der Partner von der Veränderungsnotwendigkeit überzeugt zu haben. Eine Partnerschaft von einer Veränderungsnotwendigkeit zu überzeugen, ist jedoch mit der Herausforderung verbunden, dass sich diese Notwendigkeit nicht für alle Partner gleich darstellt, sondern in ihrer Intensität ganz individuell ist. Das Beratungsgeschäft der einzelnen Partner und vor allem die für die Partner maßgeblichen Zeithorizonte sind unterschiedlich. Jüngere Partner werden in der Regel Veränderungsbedarf in einem früheren Stadium einer Entwicklung erkennen als ältere Partner, die nur noch fünf oder weniger Berufsjahre vor sich haben. Veränderungsprozesse müssen im Ergebnis so ausgestaltet werden, dass sie die Mehrheit der Partner mit dem Versprechen eines individuellen Nutzens überzeugen oder sich zumindest gegenüber denjenigen, die einen solchen Nutzen nicht erkennen, als neutral darstellen. Bei Legal Tech ist man aus diesem Grund vielfach mit kleinen Schritten gestartet, deren finanzielle und strukturelle Auswirkungen gering waren. Im Vordergrund stand – und steht vielfach noch heute – zumeist die bloße Nutzung von Legal-Tech-Anwendungen, weniger dagegen eine daran anknüpfende Anpassung der Kanzleistruktur.

4.3 Auswirkungen auf die unternehmensinterne Rechtsabteilung

4.3.1 Status quo und Perspektive

Rechtsabteilungen stehen unter einem unternehmensinternen Kostendruck. Auch für sie gilt das „More-for-Less“-Phänomen in Form der Erwartung seitens der Geschäftsleitung, dass die Rechtsabteilung mehr leistet, aber weniger kostet. Diesen Kostendruck geben die Rechtsabteilungen an die von ihnen mandatierten Kanzleien weiter. Sie müssen ihm andererseits aber auch intern gerecht werden. Legal Tech ist für die Rechtsabteilungen ein Instrument, den unternehmensinternen Erwartungen an Kosteneffizienz Rechnung zu tragen.

Legal Tech kann aber auch ein Instrument sein, die Qualität, Innovationskraft und Wertschöpfung der Rechtsabteilung zu fördern (Steinbrecher 2018, S. 8). Das kann dadurch erfolgen, dass Legal Tech einfachere Aufgaben übernimmt und dadurch den Unternehmensjuristen den erforderlichen Freiraum schafft, um sich stärker den strategisch relevanten rechtlichen Fragestellungen des Unternehmens widmen zu können. Das kann aber auch dadurch erfolgen, dass Legal Tech einzelne Aufgaben schneller, zeitlich und kapazitätsmäßig flexibler sowie zuverlässiger ausführt als ein Mensch.

Rechtsabteilungen haben heute üblicherweise eine deutlich proaktivere Rolle als früher. Darüber hinaus müssen Unternehmensjuristen vielfach die Rolle des sogenannten „Business Enabler annehmen (Jungo Brüngger 2017, S. 5), also desjenigen, der die Wahrnehmung einer Geschäftschance durch seinen Beitrag ermöglicht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, im Unternehmen bereichsübergreifender zu arbeiten (Jungo Brüngger 2017, S. 6). Legal Tech ist hierbei ein Instrument, die Reichweite der Rechtsabteilung, deren Schlagkraft, aber vor allem deren Innovationsfähigkeit zu erhöhen.

Hinzu kommt die Hoffnung, dass Legal Tech eine stärker auch rechtlichen Gesichtspunkten Rechnung tragende Steuerung der Unternehmen ermöglicht. Dabei geht es um Legal Risk Management, aber auch darum, die Auswirkungen rechtlicher Themen besser zu verstehen und zu steuern. Das kann der Risikovermeidung dienen, aber ebenso das Ausnutzen von Chancen bzw. die Optimierung innerhalb eines gegebenen Rechtsrahmens beinhalten und geht insoweit über das bloße Legal Risk Management hinaus, hin zum schon mehrfach (etwa unter Abschn. 1.1.4) angesprochenen echten Legal Management .

Die verstärkte Nutzung von Legal Tech in der Rechtsabteilung kann im Ergebnis langfristig darauf hinaus laufen, dass sich die Unternehmensjuristen auf anspruchsvollere und strategische Fragen sowie auf künftige Entwicklungen fokussieren können.

4.3.2 Praktische Fragen beim Einsatz von Legal Tech

So unterschiedlich wie die Unternehmen sind, so verschieden sind auch die Strukturen und Arbeitsweisen ihrer Rechtsabteilungen. Die Einsatzmöglichkeiten für Legal Tech variieren deshalb von Unternehmen zu Unternehmen. Die Rechtsabteilungen müssen daher zunächst die eigenen Arbeitsprozesse erfassen und analysieren, und zwar sowohl die gegenwärtigen als auch die in der Zukunft schon absehbaren. Erst dann lässt sich beurteilen, inwieweit Legal-Tech-Anwendungen im konkreten Fall sinnvoll einsetzbar sind (umfassend zu Legal Tech in Rechtsabteilungen Quade 2018).

Vor diesem Hintergrund dürfte das Berufsbild Legal Operations an Bedeutung gewinnen, d. h. die Prozessunterstützung und -aufarbeitung für die Rechtsabteilung. Juristische Fähigkeiten müssen mit dem Verständnis technischer Prozesse, aber auch mit Managementkenntnissen verknüpft werden. Zu den Aufgaben des Legal Operations Managers gehört es, die Entscheidung über den Einsatz von Legal-Tech-Produkten zu treffen oder zumindest vorzubereiten und die digitalen Prozesse in der Rechtsabteilung aufzusetzen (Hartung D 2017, S. 94).

Teilweise wird erwartet, Legal Tech werde vor allem von den Rechtsabteilungen getrieben, weil für die Technologien große Investitionen notwendig seien und Unternehmen diese leichter finanzieren sowie hinsichtlich der Rentabilität langfristiger planen könnten (siehe etwa Bues 2017 sowie Hartung D 2017, S. 93 f.). Aber auch in Unternehmen werden Investitionen in Legal Tech regelmäßig vom Bestehen eines entsprechenden „Business Case abhängen, und zudem müssen die IT-Lösungen für die Rechtsabteilung in das IT-Ökosystem des Unternehmens integriert werden (Vocke 2017, S. 7).

Derartige Digitalisierungsprojekte können die Rechtsabteilung durchaus vor praktische Herausforderungen stellen. Zudem erweist sich die in den letzten zehn Jahren häufig zu beobachtende Tendenz, den Rechtsbereich zu dezentralisieren und Juristen in operativen Einheiten anzusiedeln, heute nicht selten als bremsender Faktor.

4.3.3 Nutzung durch Rechtsabteilungen

In vielen Rechtsabteilungen gehen die genutzten Legal-Tech-Anwendungen noch nicht über bloße Hilfsfunktionen und solche Anwendungen hinaus, die keinen spezifisch rechtlichen Charakter haben (beispielsweise E-Learning oder bestimmte digitale Kommunikations- und Kollaborationsmedien).

Bei vielen Unternehmen bereits etabliert sind allerdings Systeme, die die elektronische Erstellung, Übermittlung, Unterzeichnung und Verwaltung von Dokumenten bzw. Erklärungen unterstützen. Überhaupt werden momentan neben dem Wissensmanagement vielfach das Vertrags- und Dokumentenmanagement und deren unmittelbares Umfeld als die wichtigsten Bereiche angesehen, in denen Legal Tech im Unternehmen nutzbringend zum Einsatz kommen kann. Damit verknüpft sind oftmals Überlegungen zur Nutzung von Information-Retrieval-Systemen zwecks Strukturierung bisher unstrukturierter Daten oder zum Einsatz von Tools für ein Legal (Risk) Management. Auch wo Unternehmen noch nicht mit dem Einsatz von Legal Tech begonnen haben, werden Dokumente flächendeckend durch OCR-Verfahren digitalisiert, um sie (unter anderem) für einen späteren Einsatz von Legal Tech zugänglich zu machen. Außerdem werden zu diesem Zweck in Unternehmen vermehrt zentrale Vertragsdatenbanken geschaffen.

Eine Reihe von Unternehmen, beispielsweise Henkel (Gellrich 2017, S. 17), haben auch bereits beachtliche Erfahrungen mit der automatisierten Dokumentenerstellung (zu dieser Abschn. 2.3.5), andere stehen in den Startlöchern. Bei Rechtsgeneratoren (dazu Abschn. 2.3.4) sieht es ähnlich aus. Wie das Beispiel von Siemens (unter Abschn. 3.1.7) zeigt, haben die Unternehmen dabei durchaus auch Legal Robots mit im Blick.

Um die Rechtsabteilung von einfach zu beantwortenden Anfragen frei zu halten, aber auch um sowohl operative als auch andere Verwaltungsbereiche in die Lage zu versetzen, die Antwort auf einfache juristisch Fragen selbst zu finden, bieten sich Rechtsgeneratoren geradezu an. Auch wenn diese technisch noch nicht ausgereift sind, so sind vor allem Rechtsgeneratoren mit einer Chatbot-Funktion interessant, bei der der unternehmensinterne Mandant seine Fragen in normaler Sprache eingeben kann.

Von großem Interesse für Unternehmen sind ferner Kollaborationsplattformen, in denen Verträge verhandelt, abgeschlossen und verwaltet werden können (dazu Abschn. 2.1.6), aber auch eine neutrale, sogenannte Common Legal Platform (dazu Abschn. 2.1.8).

4.3.4 Veränderungsfähigkeit

Die Rechtsabteilungen haben in den letzten zehn bis zwanzig Jahren einen beachtlichen Wandlungsprozess vollzogen, und zwar einerseits, um dem „More-for-Less“-Phänomen gerecht zu werden, und andererseits, um die weiter oben (unter Abschn. 4.3.1) erwähnte proaktive Rolle und die Enabler-Position zu erlangen. Aufgrund der Erfahrungen aus diesem Wandlungsprozess ist die Akzeptanz für Legal Tech und daran anknüpfende strukturelle Veränderungen in den Rechtsabteilungen im Großen und Ganzen höher als in den Kanzleien, deren interne Strukturen sich über die letzten Jahre nicht annähernd so stark verändert haben.

Nicht uninteressant ist allerdings die Frage danach, was den Wandlungsprozess in den Rechtsabteilungen in den letzten Jahrzehnten getrieben hat. In der Vergangenheit waren es meist andere Unternehmensbereiche, meist der für Finanzen zuständige Geschäftsleiter bzw. die Finanzabteilung, die entweder durch Budgetkürzungen oder durch Einführung bereichsübergreifender, auch die Rechtsabteilung einschließender Prozesse die Veränderungen ausgelöst haben. Dabei wurde der besonderen Bedeutung, die dem Recht in vielen Bereichen des Unternehmens zukommt, nicht immer Rechnung getragen und die Bedeutung der Rechtsabteilung mitunter geschwächt. Der Beitrag, den die Rechtsabteilung im Unternehmen leistet, wird nämlich häufig an Indikatoren, sogenannten Key Performance Indicators (KPI) gemessen, die ohne Berücksichtigung rechtlicher Rahmenbedingungen seitens des Finanzbereichs festgelegt werden.

Um die Bedeutung der Rechtsabteilung zu stärken, ist es wichtig, dass sie selbst die zur Messung ihres Erfolgs maßgeblichen Indikatoren definiert. Damit geht einher, dass sie Veränderungsprozesse aus sich selbst heraus initiiert, und dafür Veränderungsnotwendigkeiten selbst erkennt. Die Rechtsabteilung frühzeitig zu eigenen Veränderungsinitiativen zu bewegen, ist indessen mit ähnlichen Herausforderungen verbunden wie Veränderungen im Kanzleiumfeld (dazu unter Abschn. 4.2.5).

4.4 Auswirkungen auf Justiz und Verwaltung

4.4.1 Status quo und Perspektive

Justiz und Verwaltung stehen unter einem immerwährenden Kostendruck, der nicht zuletzt aus den öffentlich-rechtlichen Haushaltsgrundsätzen resultiert. Auch für sie könnte deshalb Legal Tech ein Instrument sein, den Erwartungen an Kosteneffizienz Rechnung zu tragen. Andererseits erfordert der Einsatz von Legal Tech zunächst einmal Investitionen – in die Technik, aber auch in den notwendigen personellen Veränderungsprozess. Dieses Investitionserfordernis wiederum hemmt den Einsatz von Legal Tech in Justiz und Verwaltung. Allein die mittel- und langfristigen Kosteneinsparungen sind für sie womöglich kein ausreichender Anreiz, die eigene Digitalisierung voranzutreiben.

Zum Kostendruck hinzu kommt seit einigen Jahren aber ein weiterer Treiber: Justiz und Verwaltung sind auf die Digitalisierung ihrer Prozesse und namentlich auf den Einsatz von Legal Tech zunehmend angewiesen, um zu gewährleisten, dass das Vertrauen in diese Institutionen nicht erodiert. Zum einen müssen sie dazu den Herausforderungen begegnen, die sich aus der Mobilität unserer Gesellschaft, der Digitalisierung im Allgemeinen und aus dem Einsatz von Legal Tech aufseiten der Verfahrensparteien im Besonderen ergeben. So sind dort, wo die Betreiber von an Verbraucher gerichteten Online-Angeboten ihren Sitz haben, die Gerichte heute nicht selten mit einer Flut verbraucherschutzrechtlicher Klagen konfrontiert. Bekanntes Beispiel ist etwa die Flut an „Parship“-Klagen am Amtsgericht Hamburg, dem Sitz des gleichnamigen Dating-Portals. Beispiel für Klagewellen aufgrund von Legal Tech sind die Klagen auf Entschädigung für ausgefallene oder verspätete Flüge. So rechnete das Amtsgericht Frankfurt am Main mit rund 16.000 solcher Verfahren im Jahr 2019. Das Amtsgericht Düsseldorf hatte allein in der ersten Jahreshälfte 2019 10.000 derartiger Entschädigungsklagen gezählt. Die Zahl beruht maßgeblich auf der angebotenen Prüfung und Durchsetzung von Fluggastrechten durch Online-Portale wie Flightright , die die Anspruchsprüfung weitgehend automatisiert durchführen. Die Justiz muss sich hier ihrerseits mit Legal Tech behelfen, um nicht an Effizienz zu verlieren.

Zum anderen ändern die Digitalisierung und insbesondere auch der zunehmende Einsatz von Legal Tech im privatwirtschaftlichen Bereich die Erwartungshaltung der Bürger an Justiz und Verwaltung. Die Digitalisierung anderer Lebensbereiche lässt nämlich eine weniger stark digitalisierte Justiz und Verwaltung als rückständig erscheinen und schmälert so das Vertrauen in diese. Die Prozesse in Justiz und Verwaltung müssen an diese Erwartungshaltung – sei sie berechtigt oder nicht – angepasst werden. Legal Tech kann für diese Anpassung ein wichtiges Element sein.

Dabei sind Justiz und Verwaltung viel stärker als andere Bereiche der Notwendigkeit ausgesetzt, ihre Prozesse an die veränderten Bedingungen anzupassen. Die Komplexität, geografische Reichweite und Geschwindigkeit wirtschaftlicher, sozialer und sonstiger Beziehungen haben sich in den vergangenen Jahren dermaßen vergrößert, dass die hergebrachten Prozesse von Justiz und Verwaltung nicht mehr allen daraus erwachsenden Problemstellungen gerecht werden. Globalisierung und Digitalisierung fordern das Prozess- bzw. Verfahrensrecht heraus. Justiz und Verwaltung sind hier weitgehend auf das Handeln des Gesetzgebers angewiesen. Dieser hat stellenweise schon reagiert, etwa mit dem elektronischen Rechtsverkehr (dazu Abschn. 2.2.1.3) sowie mit der Möglichkeit vollständiger Automatisation bei Steuerverfahren und bestimmten Verwaltungsverfahren (dazu unter Abschn. 2.2.2.2). Wo das Prozess- bzw. Verfahrensrecht Auslegungsspielräume eröffnet, können die Gerichte und Verwaltungsbehörden selbst die rechtlichen Rahmenbedingungen anpassen. Dabei geht es regelmäßig um die Frage, ob die gesetzlich vorgesehene Form auch unter Nutzung technischer Möglichkeiten gewahrt werden kann. Dafür gibt es vereinzelte Beispiele, wie etwa die Mitte 2019 ergangene Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts, das eine Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle per Videokonferenz zugelassen hat (BayObLG, Beschluss v. 06.08.2019 – 203 StObWs 892/19).

Eine nur schleppende Digitalisierung von Justiz und Verwaltung führt neben dem möglichen Ansehensverlust bei den Bürgern noch zu einem weiteren Problem: IT-interessierte Juristen zieht es seltener zu Justiz und Verwaltung hin, was deren Umstellungsprozess noch weiter verlangsamt. So kann eine Negativspirale entstehen, die nur mit umso größeren Anstrengungen zu stoppen ist.

4.4.2 Technische Möglichkeiten

Wenn es um Legal Tech als bloße Hilfsfunktion geht , so steht auch Justiz und Verwaltung ein großes Repertoire an möglichen Anwendungen zur Verfügung – vom Dokumenten-Management über Workflow Management bis hin zu verschiedensten Formen der elektronischen Übertragung von Dokumenten, aber auch von Bild- und Tonübertragungen im Rahmen der gerichtlichen und der Verwaltungsverfahren.

Bei der Sachverhaltsermittlung setzen auch Staatsanwaltschaft und Verwaltungsbehörden zunehmend auf technische Lösungen. Außerdem finden sich bei den Gerichten auch IT-gestützte Relationstechnik und automatisierte Dokumentenerstellung (dazu unter Abschn. 2.2.2.1). Die Möglichkeiten der Nutzung Künstlicher Intelligenz werden gegenwärtig geprüft. Dabei geht es vorrangig um die Möglichkeit der Auswertung und Strukturierung von Akten und darum, aus eingehenden Schriftsätzen automatisch sogenannte Strukturdaten auszulesen, die für die Fachverfahren und die weitere Bearbeitung benötigt werden. Es gibt im Übrigen keinen Grund, warum nicht auch Ermittlungsbehörden Information-Retrieval-Systeme sollten einsetzen können, wie dies etwa in Österreich schon praktiziert wird (dazu unter Abschn. 2.3.1).

Auch wenn dies vielleicht nicht Legal Tech im eigentlichen Sinne ist, denkt man im Bereich der Justiz auch über Augmented und Virtual Reality nach. Diese Techniken können etwa eingesetzt werden, um bei Straftaten den Tatort in 3-D zu visualisieren und gegebenenfalls einen möglichen Tathergang zu rekonstruieren. Solche Lösungen, die zunächst bei den Ermittlungsbehörden zum Einsatz kommen, könnten im nächsten Schritt auch in den Gerichtssaal Einzug nehmen.

Die spannendste Frage bleibt allerdings, inwieweit die rechtliche Beurteilung, also die Entscheidungsfindung als solche, durch oder mit Unterstützung von Legal Tech möglich ist.

Programme, die mit lernfähigen Algorithmen arbeiten, also auf Basis Maschinellen Lernens, werden Richter und Verwaltungsmitarbeiter bei der Entscheidungsfindung zunächst allenfalls unterstützen können, indem sie diesen Vorschläge unterbreiten. Derartige Programme bieten nämlich naturgemäß keine hundertprozentige Richtigkeitsgewähr. Die entscheidende Frage ist dann, wie der Richter bzw. Verwaltungsmitarbeiter mit dem Vorschlag umgehen soll. Das hängt davon ab, ob das Programm die wesentlichen Erkenntnisschritte auf dem Weg zum Entscheidungsvorschlag offenlegen und damit nachprüfbar machen kann. Wenn das Programm seinen Entscheidungsvorschlag auf der Basis einer Vielzahl historischer Entscheidungen mittels Mustererkennung erstellt, wird es in der Regel keine eigenen am Gesetz orientierten Begründungsschritte liefern können. Gleichwohl kann es den historischen Parallelfall finden und gegebenenfalls die dortigen Entscheidungsgründe mitliefern.

In englischsprachigen Ländern, in denen sich als Rechtssystem das Common Law herausgebildet hat, drängen sich solche Systeme zum Auffinden historischer Parallelfälle mittels Mustererkennung geradezu auf. Den Gerichten obliegt im Common Law nicht nur die Anwendung der Rechtsregeln, sondern auch deren Ausformung. Es handelt sich also primär um Richterrecht, das an Einzelfällen wächst (Case Law). Dabei gilt im Grundsatz das Gebot der Bindung an die Vorentscheidung der höherrangigen Gerichte, allerdings wird dem Urteil eines Gerichts bzw. Richters auch seitens der gleichrangigen Gerichte bzw. Richter besondere Bedeutung beigemessen. Das erklärt, warum etwa in den USA der Einsatz von Legal Tech im Bereich der juristischen Recherche weit vorangeschritten ist, während Möglichkeiten der automatisierten Entscheidungsfindung weniger Beachtung geschenkt wird.

In den Jurisdiktionen des römisch-germanischen Rechtskreises, also in Deutschland und anderen kontinentaleuropäischen Staaten, steht hingegen das Gesetz an oberster Stelle. Dieses wird von den Gerichten angewendet bzw. ausgelegt, nicht aber ausgeformt. Vorentscheidungen höherer Gerichte sind zwar für die Auslegung des Gesetzes wichtig, ersetzen dieses aber nicht. In Jurisdiktionen mit solchen Gesetzes-dominierten Rechtssystemen lassen sich regelbasierte Algorithmen zur Entscheidungsfindung tendenziell leichter einsetzen als in Common-Law-Jurisdiktionen. Sie können dort dem Richter jedenfalls die Lösung vorgeben, zu der das Gesetz bei schematischer Anwendung führen würde. Der Richter müsste dann „nur“ noch prüfen, ob wertende Gesichtspunkte aus seiner Sicht ein anderes Ergebnis geboten erscheinen lassen.

4.4.3 Rechtspolitische Fragen

Die Nutzung von Legal Tech in Justiz und Verwaltung wirft schwierige rechtspolitische Fragen auf. Das gilt namentlich für die Anwendung von Legal Tech bei der eigentlichen Entscheidungsfindung.

Es erscheint kaum realistisch, dass man sich längerfristig dem Einzug von Legal Tech, einschließlich der Nutzung Künstlicher Intelligenz, im Rahmen der Entscheidungsfindung von Gerichten und Behörden erwehren kann. Die Digitalisierung ist eine Entwicklung, die alle Lebensbereiche erfasst und zugleich die gesellschaftliche Akzeptanz herkömmlicher, analoger Techniken zu verringern droht. Umso wichtiger ist eine rechtzeitige und breite gesellschaftliche Diskussion über den Wert des menschlichen Faktors in Justiz und Verwaltung. Es ist das feingliedrige menschliche Urteilsvermögen, das eine dynamische, Zweck- und Kontext-bezogene Entscheidung erlaubt, bei der womöglich auch Raum für Zuversicht und Angst, Mitleid und Entsetzen, Verständnis und Unverständnis, Genugtuung, Versöhnung oder Gnade ist. Es sind diese menschlichen Faktoren, die in Verbindung mit der dem einzelnen Entscheidungsträger gewährten Handlungsfreiheit wesentliche Treiber für die Fortentwicklung des Rechts darstellen.

Außerdem resultiert aus der dem einzelnen Entscheidungsträger gewährten Handlungsfreiheit zugleich dessen Verantwortung. Umgekehrt gilt: Verantwortung setzt menschliches Handeln und die Entscheidungsfreiheit des handelnden Menschen voraus. Nur Menschen, nicht Maschinen können Verantwortung übernehmen und Verantwortung tragen. Bei der Nutzung von Legal Tech im Rahmen der Entscheidungsfindung von Gerichten und Behörden ist deshalb zu klären, wo und wie hierbei die Verantwortlichkeiten begründet und ausgestaltet werden sollen.

Das Thema Verantwortung führt schließlich zu einem weiteren wichtigen Aspekt, nämlich dem Vertrauen der Betroffenen in Justiz und Verwaltung. Dabei geht es um die Frage, ob man Maschinen sein Vertrauen schenken kann oder ob der vom Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg Thomas Dickert im Zusammenhang mit Legal Tech geprägte Satz zutrifft: „Menschen schenken Menschen Vertrauen, nicht Maschinen.“

Vor dem Hintergrund all dieser Aspekte stellt sich gleichwohl die Frage, ob tatsächlich in jedem beim Gericht anhängigen Einzelfall ein Richter bzw. Spruchkörper eine individuelle Entscheidung treffen und damit eine auf den Einzelfall bezogene Handlung vornehmen muss, für die er verantwortlich ist. Aufweichungen dieses Grundprinzips gibt es schon heute. So hat der Gesetzgeber etwa mit der Musterfeststellungsklage auf die Besonderheiten im Verbraucherrecht reagiert, wo es zu Massen an gleichgelagerten Fällen kommen kann. Genügt es – noch einen Schritt weiter gehend – auch, dass ein Richter einen Fall entscheidet und ein KI-System diesen Fall samt Entscheidung als „Blaupause“ nutzt, um andere gleichgelagerte Fälle automatisiert zu entscheiden, oder dass ein Richter einen einzelnen Baustein in einem regelbasierten Algorithmus „verantwortet“, der in zahlreichen Fällen automatisiert entscheidet?

Die Nutzung von Algorithmen bei der Entscheidungsfindung birgt jedenfalls eine Reihe negativer Effekte (vgl. allgemein Eidenmüller und Wagner G 2018):

  • Mannipulationsgefahr: Im herkömmlichen Justiz- und Verwaltungsapparat besteht keine Gewissheit, dass nicht der einzelne Richter befangen ist, sich von außen unter Druck setzen lässt oder sonst eine unsachliche Entscheidung trifft. Der Einsatz von Algorithmen führt aber zu neuen Angriffspotentialen, weil sich ein einzelner unzulässiger Eingriff von außen, auf eine große Zahl von durch den Algorithmus getroffenen Entscheidungen auswirken kann.

  • Missbrauchsgefahr: Zentralisiert entwickelte und eingesetzte Algorithmen könnten zudem von politischen Akteuren missbraucht werden. Insbesondere die Anwendung von Regelungen zum Schutz von Minderheiten könnte eingeschränkt werden.

  • Ungewollte Diskriminierung: Nutzt der Algorithmus historische Daten, besteht die Gefahr, dass er hierauf aufbauend in der Vergangenheit bestehende Ungleichheiten in der Zukunft verstärkt. Besondere Problemfelder sind dabei die Nutzung von Künstlicher Intelligenz im Rahmen von Entscheidungen über die Anordnung einer Untersuchungshaft oder die Strafzumessung und -vollstreckung (z. B. bei Bewährungsentscheidungen). Die Entwicklung diskriminierungsfreier Algorithmen ist schon heute ein wichtiger Forschungsbereich.

  • Falsche Gewichtung oder mangelnde Identifikation relevanter Parameter bei Abwägungsentscheidungen und sonstigen Wertungen: Insbesondere unterbleibt in der Praxis mitunter die Einbeziehung und Gewichtung fundamentaler menschlicher Werte in eine Entscheidungsfindung, weil sie in der Regel eine schwer zu beziffernde Größe darstellen (vgl. Calabresi und Bobbitt 1978).

  • Geringer Differenzierungsgrad: Gleich ob der Algorithmus lernfähig ist oder nicht, in allen Fällen besteht die Gefahr, dass Algorithmen deutlich schematischere, weniger ausdifferenzierte Entscheidungen treffen als menschliche Richter, die aufgrund der Lebenserfahrung und auch aufgrund des weiter oben erörterten menschlichen Faktors Nuancen besser erkennen.

  • Zementierung der Werteordnung: Nutzt der Algorithmus historische Daten, besteht ferner die Gefahr, dass die bestehende Werteordnung nicht weiterentwickelt wird. Es fehlt dann der weiter oben erörterte menschliche Faktor, der eine Anpassung der Rechtsprechung an sich ändernde Werte auslösen könnte. Zudem besteht die Gefahr, dass sich eine Gesellschaft in ihrem Verhalten an die in einem Algorithmus vorgegebenen Muster anpasst mit der Folge, dass der Wertewandel in der Gesellschaft auch tatsächlich ausbleibt oder zumindest ausgebremst wird.

Der Nutzen des Einsatzes von Legal Tech im Bereich von Justiz und Verwaltung könnte andererseits enorm groß sein und dem Recht neue Möglichkeiten bieten. Das gilt insbesondere dann, wenn man die Digitalisierung dazu nutzt, Rechtsverstöße schon im Vornherein zu vermeiden. So könnte eine Common Legal Platform (dazu Abschn. 2.1.8), auf der Verträge abgeschlossen werden, so ausgestaltet sein, dass sie unzulässige Vertragsinhalte, auch solche, die nicht nach dem Gesetzeswortlaut, wohl aber nach der Rechtsprechung unzulässig sind, ausschließt. Justiz und Verwaltung könnten ihre Ressourcen dort zur Anwendung bringen, wo sich Rechtsverstöße und -streitigkeiten noch vermeiden lassen, und nicht lediglich dann, wenn der Rechtsverstoß bereits erfolgt oder der Rechtsstreit schon entstanden ist. Das würde die Effizienz des Rechtsstaats erhöhen, jedoch zugleich auch neue Probleme mit sich bringen. Beispielsweise bestünde dann die Gefahr, dass rechtliche Grenzen nicht mehr ausgelotet werden können. Werden Justiz und Verwaltung nicht effizienter, besteht umgekehrt in einzelnen Bereichen die Gefahr, dass Entscheidungen von ihnen weg, hin zu privaten Institutionen verlagert werden und der Rechtsstaat sozusagen das Heft aus der Hand gibt.

Die Lösung liegt vielleicht darin, Justiz und Verwaltung in differenzierter Weise auf den stärkeren Einsatz von Legal Tech auszurichten: Dort wo es um Verbraucherstreitigkeiten oder sonstige massenhaften gleichgerichteten Verfahren geht, bei denen ausschließlich finanzielle Aspekte im Vordergrund stehen, kann der menschliche Faktor zugunsten der Effektivität zurücktreten. Auch erscheint es hier denkbar, zunächst eine Streitentscheidung mittels schematisch arbeitender Legal-Tech-Lösungen anzubieten, bevor ein mit Menschen besetztes Gericht zur Entscheidung angerufen werden kann. Dort wo es um nichtfinanzielle Aspekte geht, bleibt es beim menschlichen Richter.

4.5 Auswirkungen auf den Gesetzgeber

4.5.1 Status quo und Perspektive

Legal Tech hat Auswirkungen auf den Gesetzgeber , die über eine Anpassung gesetzlicher Rahmenbedingungen für die Berufsausübung, wie sie insbesondere das Rechtsdienstleistungsgesetz enthält, weit hinausgehen. So müssen die wesentlichen Weichenstellungen mit Blick auf die Nutzung von Legal Tech in Justiz und Verwaltung vom Gesetzgeber getroffen werden, und der Gesetzgeber muss Antworten auf die sich dabei stellenden rechtspolitischen Fragen finden (dazu Abschn. 4.4.3). Auch die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Maschinen eine eigenständige Rechtspersönlichkeit zuerkannt werden sollte, wird den Gesetzgeber zunehmend beschäftigen, wie die Überlegungen des Europäischen Parlaments zur „elektronischen Rechtspersönlichkeit“ zeigen. Letztlich können sämtliche rechtlichen Implikationen, die Legal Tech hat (dazu nachfolgend Kap. 5), auch vom Gesetzgeber aufgegriffen werden. Das sind aus seiner Sicht dann aber im Grundsatz Sachthemen wie andere auch.

Neben derartigen Sachthemen stellt sich für den Gesetzgeber die Frage, ob es IT-Anwendungen gibt, die im Rahmen der Gesetzgebung selbst, genauer: bei Ausarbeitung der Gesetze, genutzt werden können. Da die meisten Gesetze in den Deutschen Bundestag als Regierungsentwürfe eingebracht werden, erfolgt die Ausarbeitung der Gesetze des Bundes zumeist in den Ministerien. Auf dieser Ebene hat es bereits Pilotversuche gegeben, in denen digitale Werkzeuge zur Strukturierung von Gesetzestexten genutzt wurden, und es lässt sich durchaus größeres Potenzial für den Einsatz von Legal Tech im gesetzgeberischen Umfeld – vom Konzeptionierungs-Werkzeug bis hin zur digitalisierten Beteiligung der Öffentlichkeit – erkennen (umfassend Breidenbach und Schmid 2018, S. 173 ff.).

Der Gesetzgeber steht allerdings darüber hinaus vor noch weitreichenderen Fragen, die unmittelbar die Gestaltung, Struktur und Anwendung von Gesetzen betreffen. Sollen Gesetzestexte künftig so geschrieben und strukturiert werden, dass sie sich leicht in einen Algorithmus überführen lassen oder zumindest leichter von einem Algorithmus verstanden werden können? Ist es denkbar, Gesetze im Sinne eines Computable Law gleich als Programmcode zu verabschieden oder zumindest parallele Code-Ausgaben eines Gesetzes zu schaffen, die dann von den Gerichten genutzt werden können? Die Frage nach der Code-ifikation des Rechts ist längst gestellt und wer hierauf nach einer Antwort sucht, muss auch einen Blick auf die möglichen künftigen Ziele der Gesetzgebung werfen (vgl. Kar et al. 2019). Soll es bei generellen Verhaltensregeln bleiben oder sollen sich Gesetze und Verordnungen nach ihrem Inkrafttreten mittels automatisierter (Einzelfall-)Entscheidungen an die individuelle Situation der Rechtssubjekte anpassen können? Schon heute werden derartige Tendenzen in Richtung eines sogenannten Granular Law erkannt und die Wahrscheinlichkeit erscheint hoch, dass Künstliche Intelligenz und insbesondere Maschinelles Lernen sowie mithilfe dieser Techniken ermöglichte Entscheidungsautomatisation die Gestaltung, Struktur und Anwendung von Gesetzen tiefgreifend verändern werden (Kaeseberg 2019, S. 107 und 110).

4.5.2 Technische Möglichkeiten

Es ist nicht nur möglich , Gesetze im Sinne eines Computable Law für Maschinen leichter verarbeitbar zu machen, sondern es gibt zunehmend auch neue Möglichkeiten, technische Elemente in die staatlichen Regelsetzung dergestalt zu integrieren, dass die vom Bürger in einer konkreten Situation zu beachtenden Regeln automatisiert geändert bzw. angepasst werden können. Die staatliche Regelsetzung, insbesondere die Entscheidung darüber, welcher Regelungsinhalt aus einem vorbestimmten Kreis an möglichen Regelungsinhalten in einer konkreten Situation gilt, erfolgt dann automatisiert und gegebenenfalls unter Nutzung Künstlicher Intelligenz.

Ein bekanntes Beispiel, das in diese Richtung geht, sind etwa die auf unseren Autobahnen anzutreffenden Verkehrsleitsysteme, bei denen die sogenannten Wechselverkehrszeichen zum Teil automatisch geschaltet werden, etwa in Anpassung an gemessene Wetterbedingungen oder das gemessene Verkehrsaufkommen. Ein Teil der Schaltungen erfolgt dabei jedoch heute noch manuell aus einer Verkehrsleitzentrale heraus, und der automatisierte Teil folgt zuvor fest einprogrammierten Vorgaben. Die US-amerikanische Stadt Pittsburgh hat dagegen 2012 ein mittels Künstlicher Intelligenz gesteuertes Ampelsystem eingeführt (Scalable Urban Traffic Control System – SURTRAC), das je nach Verkehrslage selbst entscheidet, ob eine Ampel rot oder grün anzeigt – eine Art Legal Robot im öffentlich-rechtlichen Bereich. Zahlreiche Ampeln, Kameras und Messsysteme sind dabei miteinander vernetzt und das System lernt, den Verkehr so zu steuern, dass es in Summe zu möglichst wenigen Standzeiten für die Fahrzeuge kommt.

Weitere neuartige gesetzgeberische Aspekte eröffnen sich dort, wo von Unternehmen für wirtschaftliche Entscheidungen eingesetzte lernende Algorithmen auch lernen können, sich bei ihrer originären Aufgabenerfüllung rechtmäßig zu verhalten. Beispielsweise ist es technisch denkbar, dass sogenannte Pricing-Algorithmen, wie sie etwa von manchen Fluggesellschaften auf ihren Online-Buchungsportalen eingesetzt werden, lernen, sich wettbewerbsrechtlich korrekt zu verhalten und keine kartellrechtswidrigen Strategien zu nutzen (Kaeseberg 2019, S. 108).

Technisch umsetzbar (nicht jedoch ohne weiteres rechtlich zulässig) wäre es, wenn der Gesetzgeber Private dazu verpflichtet, in durch Software gesteuerte Produkte solche Software einzubauen, die zugleich die Einhaltung von Gesetzen sicherstellt oder die automatisierte Rechtsanwendung ermöglicht. So könnte in Autos mit automatischen Bremssystemen Software installiert werden, die beispielsweise ein Verkehrszeichen, das eine Geschwindigkeitsbegrenzung anordnet, erkennt und erforderlichenfalls automatisch die Geschwindigkeit des Fahrzeugs reduziert. Die Rechtsregeln könnten an das einzelne Rechtssubjekt angepasst werden. Es könnte etwa vorgesehen werden, dass das Fahrzeug bei jungen, unerfahrenen Autofahrern oder bei Personen, die ein Fahrzeug nur selten benutzen, stärker abgebremst wird. Ferner könnte der Gesetzgeber beispielsweise (jedenfalls technisch, nicht unbedingt auch rechtlich) die verpflichtende Eintragung von Führungskräften börsennotierter Unternehmen in ein Register regeln, das einen Datenaustausch mit den Handelssystemen einer Börse zulässt, und eine technische Sperrmöglichkeit in den Handelssystemen verlangen, die sicherstellt, dass Transaktionsaufträge von in dem Register eingetragenen Personen automatisch gelöscht werden, soweit sie während eines nach der Marktmissbrauchsverordnung (MAR) gesperrten Zeitraums (vgl. Art. 19 Abs. 11 MAR) erteilt wurden. Man denke auch an die diversen technischen Möglichkeiten rund um die automatisierte Abführung von Steuern durch ein Kreditinstitut oder andere Unternehmen.

Erste tatsächliche Überlegungen in diese Richtung gibt es im Bereich des Verbraucherrechts , namentlich bei Fluggastrechten sowie bei Fahrgastrechten von Bahnkunden. Der Bundesrat (BR-Drucks. 571/18) fasste bereits am 14.12.2018 eine Entschließung, wonach die Bundesregierung prüfen solle, ob „durch gesetzliche Maßnahmen – etwa hinsichtlich der Automatisierung des Entschädigungsverfahrens – echte Verbesserungen des Verbraucherschutzes bei den Fahrgastrechten erreicht werden können.“ Konkret geht es darum, die Luft- und Bahnverkehrsunternehmen zu automatisierten Entschädigungszahlungen zu verpflichten (dazu Fries 2019, S. 901 ff.).

Wie man an den Beispielen sieht, erlaubt die Technik ein gewisses Verschmelzen von Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Man mag einwenden, dass es sich bei den betreffenden Techniken nicht mehr um Legal Tech im eigentlichen Sinne handelt. Allerdings stellen die dem Gesetzgeber zunehmend zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten das Rechtswesen allgemein, aber eben auch Legal Tech vor neue Chancen und Herausforderungen. Die Digitalisierung der Gesetze und ihres Vollzugs bzw. ihrer Anwendung werden vermutlich irgendwann eine weitere Digitalisierungswelle im Rechtswesen auslösen und Legal Tech wird dann eine ganz neue Dimension erreichen.

Abschließend sei noch auf einen Forschungsbereich hingewiesen, der von erheblicher Bedeutung gerade für die Anwendung von Künstlicher Intelligenz im Bereich staatlicher Regelsetzung ist: Die Transparenz der mittels Künstlicher Intelligenz getroffenen Entscheidungen. Gerade wenn Künstliche Intelligenz seitens des Staates eingesetzt wird, erscheint es wichtig, die von ihr getroffenen Entscheidungen im Nachhinein, etwa in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren, nachvollziehen zu können. Theoretisch können, sofern der Algorithmus keine Zufallsgeneratoren einsetzt, sämtliche von einem Algorithmus getroffenen Entscheidungen im Nachhinein nachvollzogen werden, da es sich letztlich um mathematische Operationen handelt. Praktisch ist das allerdings gerade im Fall des Deep Learning schwierig. Außerdem können wir Menschen aus der mathematischen Operation nicht zwingend eine Nachvollziehbarkeit im Sinne einer rechtlichen Begründung herleiten. Es gibt hier jedoch bereits erste Ansätze und durchaus schon Fortschritte in Richtung erklärbare und interpretierbare Künstliche Intelligenz (ausführlicher dazu Waltl und Vogl 2018).

4.5.3 Rechtspolitische und gesellschaftliche Fragen

Dass Computable Law ein Gewinn für die Gesellschaft sein kann , dürfte in einer Zeit zunehmender Digitalisierung außer Frage stehen. Dabei wird man abzuwägen haben, ob der Umstand der maschinellen Verarbeitbarkeit etwaige Einbußen bei der Einzelfallgerechtigkeit rechtfertigt.

Zu den schwierigeren Fragen zählt, ob wir als Gesellschaft eine Entwicklung hin zu einem Granular Law und einer zunehmenden Verschmelzung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung unter Nutzung Künstlicher Intelligenz tatsächlich wollen. Auf der einen Seite kann hierdurch so zielgerichtet agiert werden, dass überschießende Reglementierung vermieden wird, und zugleich können der Grad der Rechtsbefolgung und die Rechtssicherheit erhöht werden. Auf der anderen Seite ist aber eine höhere Granularität der Rechtsregeln mit Herausforderungen bei Gleichbehandlung und Fairness verbunden und die Verschmelzung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung birgt die Gefahr, dass so die persönliche Freiheit des Einzelnen unangemessen eingeschränkt werden kann. Letzteres unter anderem deshalb, weil derartige staatliche Micro-Eingriffe für den Einzelnen weniger gut vorhersehbar sind und der Rechtsschutz gegen solche Eingriffe tendenziell nur ex post erfolgen kann. Daneben bestehen die bekannten (siehe unter Abschn. 4.4.3) Herausforderungen im Hinblick auf Missbrauchs- und Manipulationsgefahren, Transparenz der Entscheidungsfindung und algorithmischer Diskriminierung (zu alldem Kaeseberg 2019, S. 110).

Eine der fundamentalen ethischen Debatten ist, zu welchem Grad die technischen Möglichkeiten, wenn sie der Gesetzgeber einsetzt, zu einer Entmenschlichung des Rechts führen (vgl. allgemein Frischmann und Selinger 2018). Die entscheidende Frage ist hierbei, was davon ein angemessener Weg zur Regelung menschlicher Beziehungen ist und welchen technischen Möglichkeiten zur Regelung unseres Gemeinwesens wir bzw. der Gesetzgeber widerstehen sollten (Kaeseberg 2019, S. 110).

Bereiche, in denen vor allem Computable Law sinnvoll erscheint, sind Bereiche, in denen zwei Dinge zusammen kommen: starke Regulierung und Massengeschäfte. Beispielsweise sind im Bereich der Kapitalmärkte die regulatorischen Anforderungen derart umfangreich und komplex geworden, dass es vielfach gar nicht möglich ist, deren Einhaltung allein durch Menschen zu gewährleisten. Hier könnte Computable Law vor allem deshalb eine gesellschaftlich akzeptable Lösung sein, weil in der Regel allen Seiten eine kosteneffiziente Umsetzung der regulatorischen Anforderungen wichtig ist, während Einzelfallgerechtigkeit kein derart relevanter Aspekt ist.

Futuristisch mutet die Frage an, ob wir uns vorstellen können, in einer Welt zu leben, in der die staatlichen Regeln, jedenfalls in ihrer konkreten Ausgestaltung, durch Künstliche Intelligenz geschaffen werden, ohne dass für uns immer nachvollziehbar ist, wie die konkrete Entscheidung erfolgt ist. Ist das Ampelsystem in Pittsburgh Vorbild, weil es hilft unnötige CO2-Emissionen zu vermeiden, oder ist es der Anfang einer gefährlichen Entwicklung, weil sich der Mensch den Entscheidungen von Maschinen (und deren Programmierern) unterordnet, ohne diese in der Praxis im Einzelnen hinterfragen zu können?