Zusammenfassung
Studierende sind der erste öffentliche Adressat in der Lehre, so verkündete es Michael Burawoy in seiner Rede For Public Sociology! im Jahre 2004 vor der American Sociological Association (ASA). Darin referiert Burawoy, dass soziologische Bildung zu einer Reihe von Dialogen werde – Dialoge zwischen Lehrenden und Studierenden, ein Selbstgespräch von Studierenden mit ihren eigenen Erfahrungen, sowie zwischen Studierenden und schließlich Dialoge von Studierenden mit Öffentlichkeiten und Bürger∗innen außerhalb der Universität (Burawoy 2005, S. 9). Dieses Buch ist das Ergebnis eines Experiments, welches diese vielfältigen Dialogformen ernstnimmt und konsequent zulässt. Das Gespräch zwischen Lehrenden und Studierenden, zwischen Studierenden untereinander und mit sich selbst und zwischen Studierenden und Öffentlichkeiten: All das war Teil eines umfassenden und vielschichtigen zweisemestrigen Forschungsprojekts. Im Rahmen einer Lehrforschung mit dem Titel „Gemeinsam Gesellschaft gestalten. Performative Soziologie als öffentliche Aktionsforschung“, die im Wintersemester 2018/2019 und Sommersemester 2019 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattfand, begleitete ein Forscher∗innenkollektiv aus Studierenden und einem Dozierenden – Wir – den „ersten internationalen Echtzeitarchitekturwettbewerb der Welt“. Vom 2. Bis 5. Mai 2019 war die 72 Hour Urban Action zu Gast in der Jenaer Plattenbausiedlung Lobeda West.
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Notes
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In einer Lehrforschung, auch als forschendes Lernen oder lernendes Forschen bezeichnet, sollen Studierende praktische Erfahrungen mit überlieferten Methoden und Theorien eines Faches sammeln. Im Seminarraum oder im Vorlesungssaal gelehrtes disziplinäres Wissen soll projektbezogen durchgespielt werden, um ‚Soziologie als Handwerk‘ (vgl. Schulze 2019) kennenzulernen.
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www.72stundenlobeda.de (zuletzt aufgerufen am 15.04.20).
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Dass dies freilich Distanzierungsschwierigkeiten bis hin zum puren Aktivismus mit sich bringen kann und die Grenzen der Wissenschaftlichkeit weit gedehnt werden können, muss reflektiert werden. Mit der Reflexivität wird die Praxis öffentlich-performativer Soziologie auch zu einer wissenschaftlichen, da eine Selbstbeurteilung eingezogen ist, die stets Experimente auch in ihrem Scheitern aufzeigt. Das letzte Kapitel des Buches versucht eine solche Reflexion anzustrengen.
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Wenn zum Beispiel das Gesundheitswesen nach ökonomischen Maßgaben organisiert wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ökonomische Zwänge sich der Fabrikation von Gesundheit bedienen. Dann wird Pflege in Zeiteinheiten übersetzt, die wiederum kostenkalkulatorisch in die Tabellen der Betriebswirtschaftler*innen eingetragen werden können. Pflege lässt sich dann in Geldeinheit pro Sekunde ausdrücken – die Dominanz eines Prinzips über ein diesem ganz fernen Prinzip: Wieviel Geld kostet Menschlichkeit?
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Das gilt nicht nur für diejenigen, die gemeinhin für solche Subjekte gehalten werden, wie zum Beispiel Rechts-/Linksextremisten, Salafisten, Verschwörungstheoretiker etc. Was ein fest gefügtes Weltbild angeht, finden sich solche Subjekte zahlreich in den Wissenschaften, der Politik, der Wirtschaft usw. Die wirklichkeitsfernen Theorien immer noch führender Wirtschaftswissenschaftler*innen halten sich seit Jahrzehnten, trotz offensichtlicher Mängel und katastrophaler Auswirkungen. Es gibt genügend rationale Gründe für die Aussetzung und Überarbeitung irreführender Theoriegrundlagen, doch es ist einfach geiler, mit Yachten, bezahlten Frauen und Champagner über das Meer zu segeln, nach Ägypten ins All-Inclusive-Hotel zu fliegen, mit 200 km/h über die Autobahn zu brettern; aber auch billiges Antibiotikafleisch und Chips zu essen, fernzusehen oder sich alle zwei Jahre ein neues Mobiltelefon zuzulegen. Politik und Wirtschaft sind keine rationalen Angelegenheiten, sondern fundamental leiblich und libidinös verankert.
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Es gibt jedoch paradigmatisch entzogene Bereiche, die sich einer rationalen Diskussion entziehen. So sind etwa Prinzipien wie „Wachstum“, „Marktwirtschaft“ oder „Arbeit“ geradezu heilige Kühe, die – zumindest im Feld der Politik – keiner vernünftigen öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht werden können. Deshalb finden solche Diskussionen auch medial nicht statt, was wiederum zur Folge hat, dass andere Prinzipien für ‚die gesellschaftliche Mitte‘ unvorstellbar bleiben. Wurde eigentlich jemals darüber beraten und abgestimmt, dass das unbedingte menschliche Bedürfnis nach Wohnraum zu einer Spekulationsware an der Börse gemacht werden sollte?
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Deutsch: https://tinyurl.com/vs6mvpv https://www.soziologie.uni-jena.de/sozmedia/arbeitsbereiche/ab+arbeits-_+industrie-+und+wirtschaftssoziologie/aktuelles/190430_fanzine_lobeda_de.pdf (zuletzt aufgerufen am 15.04.20), Englisch: https://tinyurl.com/qvvlnnj https://www.soziologie.uni-jena.de/sozmedia/arbeitsbereiche/ab+arbeits-_+industrie-+und+wirtschaftssoziologie/aktuelles/190430_fanzine_lobeda_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 15.04.20).
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Jende, R. (2020). Soziologie: Öffentlich und performativ. In: Jende, R. (eds) Öffentliche Soziologie in Aktion. Öffentliche Wissenschaft und gesellschaftlicher Wandel. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28049-9_1
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