Die in diesem Kapitel zu beantwortende Frage lautet, was die Rolle religiöser Rituale für die moderne Gesellschaft ist. Inwiefern kann davon die Rede sein, dass sie dieses Ganze des Sozialen (siehe Abschn. 2.8.2.1) strukturieren? Die Gesellschaft, von der dabei die Rede ist, wird als moderne Gesellschaft verstanden. In einem ersten Schritt muss es deshalb darum gehen, die Charakteristiken von Moderne zu diskutieren. Darauf wird zwei Theoriesträngen nachgegangen, die den Zusammenhang zwischen religiösen Ritualen und moderner Gesellschaft je unterschiedlich thematisieren: Im ersten wird Gesellschaft in Analogie zur Gemeinschaft thematisiert, was es möglich macht, Annahmen über die konstitutiven Folgen von Ritualen für Gemeinschaften auch auf die moderne Gesellschaft anzuwenden. Im zweiten wird moderne Gesellschaft als über das Individuum geprägt gesehen, was ganz andere Konzeptionen zur Analyse des besagten Zusammenhangs notwendig macht.

5.1 Gesellschaft und Moderne

Soziale Ordnungen sind als historisch spezifische Konfigurationen zu verstehen. Entsprechend wird hier die Differenzierung zwischen Interaktion und Gesellschaft (siehe Abschn. 2.8.2) oder die Form der Gemeinschaft (siehe Abschn. 4.3.2) als geschichtlich konstituierte Form des Sozialen gesehen. Der übergreifende soziale Kontext und Gegenstand dieses Kapitels ist die Gesellschaft und dies in einer historischen Form, die als Moderne bezeichnet werden kann. Gesellschaftstheorie geht dabei untrennbar mit einem Blick auf Geschichte einher. Eine solche Historisierung des Gegenstandes und der Anschluss an Modernisierungstheorien liegt typischerweise nicht im Zentrum von Praxistheorien. Ein Ansatz wie die Systemtheorie Luhmanns berücksichtigt Geschichte weit stärker, weshalb im Folgenden darauf zurückgegriffen werden soll.

Die sozialwissenschaftliche Rede von der Moderne ist Gegenstand unterschiedlicher Kritiken: Es finden sich Absagen an die Einheitlichkeit von Moderne, wie in Konzepten von „multiple modernities“ (vgl. Eisenstadt 1999).Footnote 1 Auch im Plural „modernities“ ist jedoch noch die Zuweisung der Diversität der Formen zu einer bestimmten Klasse vorhanden. Dementsprechend soll im Folgenden moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft gesehen werden, in der sich durchaus umfassende Strukturen, die in dieser Kombination spezifisch modern sind, erkennen lassen. In unterschiedlichen sozialen Ordnungen innerhalb dieser Weltgesellschaft, z. B. in Religionsgemeinschaften oder Staaten, dürften diese unterschiedliche Konsequenzen zeitigen, für deren Diversität auch eine modernisierungstheoretisch informierte Perspektive offen zu sein hat. Angesichts solcher spezifischer Konfigurationen jedoch auf unterschiedliche Modernen zu schliessen, wäre ein Ebenenfehler: Die Rede von der modernen Gesellschaft, dabei insbesondere ihrer Differenzierung, bezieht sich auf die Weltgesellschaft. Ordnungen wie Nationalstaaten, die darin mehr oder weniger stark abgegrenzt bestehen, können sich auch gemeinschaftlich organisieren und als solche Differenzierungen der Weltgesellschaft intern aufheben oder verändern. Das heisst jedoch nicht, dass die Gesellschaft weniger oder gar nicht modern ist oder dass es mehrere Modernen gibt. Es bedeutet nur, dass die Moderne auf verschiedene Subsysteme der Gesellschaft wie Gemeinschaften, Organisation oder Interaktionen unterschiedliche Auswirkungen hat.

5.1.1 Durkheim und die Ordnung der Moderne

In seiner Besprechung von Tönnies’ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ weist Durkheim darauf hin, dass eine Rezension für eine angemessene Diskussion der Thematik nicht ausreiche und er selbst ein Buch schreiben müsste, um den Typus der Gesellschaft richtig – und das heisse auch besser als Tönnies – zu charakterisieren. Dieses Buch, so Lukes (1975a: 146), wurde die Division (siehe zur Division Abschn. 2.1.1). Darin legt Durkheim eine Charakterisierung dessen vor, was heute als moderne Gesellschaft bezeichnet wird, nämlich gesteigerte Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung und berufliche Spezialisierung (vgl. Müller und Schmid 1992: 511). Diese Charakteristiken stellen, das sieht Durkheim ähnlich wie andere Beobachter der Moderne, eine Herausforderung für die Möglichkeit sozialer Ordnung dar (vgl. Rawls 2004: 70). Die Partizipation an einer sozialen Praxis, die für den Menschen als soziales Wesen und die Herstellung sozialer Ordnung konstitutiv ist, scheint in der modernen Gesellschaft nicht mehr so ohne Weiteres gegeben zu sein, wie sie es für den soziologischen Betrachter in gemeinschaftlichen Zusammenhängen war. Damit stellt sich für ihn die Frage danach, wie unter solchen Bedingungen Solidarität möglich ist.

Unmissverständlich ist Durkheim in der Identifikation dessen, was organische Solidarität nicht mehr ausmacht: Während Religion in Gesellschaften mit starkem Kollektivbewusstsein, das heisst mechanischer Solidarität, als selbstverständlich gilt und verschiedenste gesellschaftliche Sphären durchdringt, nimmt diese Intensität in durch organische Solidarität geprägten Verhältnissen ab (vgl. z. B. Durkheim 1992: 193, 112; siehe auch Abschn. 2.1.1). Religion verliert damit an Einfluss, das schwache Kollektivbewusstsein bringt keine starken Glaubensvorstellungen hervor. Gerade die Arbeitsteilung sei es, die nun unter modernen Bedingungen Solidarität hervorbringe, da sie zu starker Interdependenz der verschiedenen Teile der Gesellschaft führe, was notwendigerweise Kontakt und Kooperation mit sich bringe. Damit war Durkheim optimistisch hinsichtlich des Funktionierens moderner Gesellschaft. Während beispielsweise Marx feststellt, dass mit der „Teilung der Arbeit“ Widersprüche auf verschiedensten Ebenen gegeben seien, die nur durch die Aufhebung der Arbeitsteilung wieder verschwinden könnten (vgl. Marx und Engels 1978a: 32), sind bei Durkheim kaum Zweifel am Funktionieren moderner Gesellschaft zu finden. Marxistische Forderungen nach einer Revolution zur Wiederherstellung einer tragfähigen Ordnung liegen ihm fern (vgl. Müller und Schmid 1992: 507; Lukes 1975a: 167).

Diesen Optimismus, der sich fast durchs gesamte Werk durchziehtFootnote 2, kritisieren Tönnies oder, viel später, auch Gouldner (vgl. 1970: 119). Auf jeden Fall erhöht der Optimismus den Druck auf die Erklärung, wie denn moderne Gesellschaft funktioniert, da ein Verweis darauf, dass sie dies eben nicht tue, nicht mehr möglich ist. Auch von zeitgenössischen und Durkheim wohlgesonnenen Autoren wird Durkheims Annahme, Arbeitsteilung wirke nun in jedem Fall integrativ, als zu schlicht beurteilt, um theoretisch Bestand zu haben (vgl. Müller und Schmid 1992: 514). Die Kausalkette von Arbeitsteilung, Interdependenz der Funktionen, wachsendem Austausch, Kontaktsteigerung und Kooperation, die zu Solidarität führen soll, scheint nicht zwingend. Beispielsweise setzt sie eine auf allen Seiten bestehende Einsicht in den Nutzen eines funktionierenden Arrangements und eine Übereinstimmung bezüglich der Mittel, die dazu notwendig sind, voraus. Damit könnte eine Form eines rationalen Sozialvertrages nötig sein, den Durkheim eigentlich als Antwort auf die Ordnungsfrage ablehnte.

Durkheim dürfte wohl selbst nicht der Meinung gewesen sein, bereits mit seinem Frühwerk eine Antwort auf die Frage nach sozialer Ordnung unter modernen Bedingungen gefunden zu haben. Aber auch das hier relevante Spätwerk, die Formes, bietet, so hält Parsons (1967: 32) wohl nicht zu Unrecht fest, eher eine Analyse der Erzeugung mechanischer Solidarität als eine Erklärung organischer Solidarität. Während der Ertrag für das Verstehen des Zusammenhanges zwischen Ritualen und sozialer Ordnung in gemeinschaftlichen Zusammenhängen leicht ersichtlich sei, habe Durkheim, so Parsons (1967: 32), die Frage nach der Herstellung von Solidarität in differenzierten sozialen Verhältnissen „obscured rather than illuminated“. Dies liegt auch daran, dass Durkheim seine Ausführungen in den Formes nicht an seiner Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarität ausrichtet, gleichzeitig aber durchaus an einer Auffassung fortschreitender Differenzierung festzuhalten scheint (vgl. z. B. Durkheim 1994: 560, 598). Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der sozialen Ordnung moderner Gesellschaft bleibt Durkheim nicht nur in der Division und den Formes, sondern auch über sein Gesamtwerk hin gesehen, schuldig.

Immerhin lassen sich über sein Werk hinweg, neben der Annahme der Division einer sich einspielenden Koordination ungleicher Teile, verschiedene Ansätze zu einer Antwort finden. Dies führt zu grossen Freiheiten in der Beantwortung der Frage, wie denn aus einer Durkheim folgenden Perspektive soziale Ordnung moderner Gesellschaft hergestellt wird und welche Rolle religiöse Rituale dabei spielen. Einige Antworten, die in diesem Kapitel besonders von Belang sind, sollen her kurz erwähnt werden:

Wertgeneralisierung

In der Division und den Formes hält Durkheim fest, dass sich im Verlauf von sozialer Differenzierung religiöse Symbole entwickelten, die zunehmend transzendent sind, das heisst, sich von der konkreten Verhaftung an Gegenstände ablösen und an Allgemeinheit und Abstraktheit gewinnen. Das bedeutet, dass eine stark verallgemeinerte religiöse Symbolik sich an die Diversität der modernen Gesellschaft anpassen und Religion, verbunden mit inklusiven Ritualen, wie in den von Durkheim beobachteten „primitiven“ Verhältnissen funktionieren könnte.

Kult des Individuums

Durkheim geht von einer grösseren Bedeutung und Freiheit des Individuums im Verlauf zunehmender Arbeitsteilung aus, betont aber auch, dass Religion diese Bewegung mitvollzieht (z. B. Durkheim 1994: 544 f., 581). Religion passt sich also den sich wandelnden sozialen Verhältnissen an und könnte in dem Fall im Rahmen eines „Kultes des Individuums“ weiterhin konstitutiv für soziale Ordnung sein, nun aber nicht mehr für eine gemeinschaftlich konstituierte, sondern eine individualisierte Gesellschaft.

Diskontinuität

Durkheim und der strukturfunktionalistischen Tradition wird vorgeworfen, sie würden sich auf nicht-konfliktive Verhältnisse konzentrieren, die sich allenfalls langsam verändern (Evolution), aber nicht auf Verhältnisse, die, wie sie in marxistischen Ansätzen oft im Zentrum stehen, durch Diskontinuitäten geprägt sind (Revolution).Footnote 3 Es finden sich in den Formes (z. B. Durkheim 1994: 294, 305) jedoch Ausführungen zur französischen Revolution und Ausführungen dazu, dass Religion mit ihren Ritualen, Symbolen und Emotionen in Phasen des Umbruchs eine verstärkte Bedeutung erhielte. Das heisst, dass unter normalen modernen Bedingungen ein starkes Kollektivbewusstsein abwesend sein mag, in Phasen verschärften Wandels aber an Relevanz gewinnt, sei es zur Bestätigung der bestehenden oder Begründung einer neuen Ordnung. Moderne Gesellschaft könnte damit als Abfolge friedlicher und konfliktiver Phasen gesehen werden, wobei letztere in Durkheims Sinne dem Bereich des „Heiligen“ zuzurechnen sind und die Rekonstitution der Gesellschaft ermöglichen.

Funktionale Äquivalente

Verschiedenen Äusserungen Durkheims lässt sich die Einschätzung entnehmen, dass Religion ihre umfassende konstitutive Funktion für die Gesellschaft eingebüsst habe und diese Aufgabe nun auch oder ausschliesslich von anderen Strukturen wahrgenommen werde. So schreibt Durkheim (1994: 561, 598), praktisch alle grossen sozialen Institutionen seien aus der Religion entstanden – daraus lässt sich schliessen, dass in einer funktionalistischen Perspektive diese Institutionen Funktionen wahrnehmen, die vorher von Religion erfüllt wurden. Für die religiöse Solidarität überhaupt scheint er in den Formes keine direkten Nachfolger zu sehen, auch Wissenschaft könne diese Funktion nicht übernehmen. Andernorts nennt er aber Institutionen wie Berufsgruppen als Äquivalente, so im Vorwort zur zweiten Auflage der Division, oder sieht, wie bereits erwähnt, die Arbeitsteilung selbst als Prinzip, das Solidarität auch ohne hohes Kollektivbewusstsein generiert.

Diese Ansätze und daran anschliessende Vorschläge werden sich weiter unten wieder finden. Zunächst gilt es jedoch, die Eigenschaften der sozialen Ordnung moderner Gesellschaft, also das Explanandum dieses Kapitels, näher zu charakterisieren: Was sind überhaupt die Charakteristiken dieser sozialen Ordnung? Dies soll, mit Bezug auf die eben genannten Ansätze bei Durkheim, aber auch im Anschluss an aktuellere Autoren, über die Begrifflichkeiten der Differenzierung sowie der Rationalisierung diskutiert werden.

5.1.2 Differenzierung

Der Autor, auf den Durkheim in der Division zur Diskussion der sozialen Ordnung unter Bedingungen organischer Solidarität am häufigsten verweist, ist der englische Soziologie Herbert Spencer. Dabei dienen diese Verweise meist der Kritik und Abgrenzung. Hinsichtlich der zentralen Frage, wie eine Gesellschaft unter Bedingungen der Arbeitsteilung bzw. sozialer Differenzierung funktionieren soll, unterscheidet sich Durkheim gezielt von Spencer.Footnote 4 Trotzdem stand seine Charakterisierung der organischen Solidarität als durch eine „division du travail social“ gekennzeichnet, dem, was Spencer und andere als „Differenzierung“ bezeichneten, nahe (vgl. Rüschemeyer 1985: 176). Spencer wiederum hatte seinen Differenzierungsbegriff von der Biologie übernommen, worauf Wagner (1996) kritisch hinweist: Letztlich bestimme über diesen Begriff eine biologische Metapher des 19. Jahrhunderts den modernisierungstheoretischen Diskurs der Soziologie. Denn Differenzierung stellte nicht nur über die Begrifflichkeit von Durkheims Arbeitsteilung, sondern auch im Denken von Max Weber und Georg Simmel eine wichtige Denkfigur zur Charakterisierung moderner Gesellschaft dar.Footnote 5

Das Differenzierungsverständnis der Division hat Durkheim selbst in späteren Werken nicht mehr systematisch weiterentwickelt und nahm nur noch wenig Bezug darauf. An ihn und andere Klassiker anschliessend wurden in den letzten 120 Jahren aber unterschiedliche Differenzierungsverständnisse entwickelt. Differenzierung wurde dabei mit verschiedenen Adjektiven ergänzt, so ist beispielsweise die Rede von „struktureller Differenzierung“ oder „funktionaler Differenzierung“. Ein gemeinsamer Nenner, der auch auf Durkheims Konzept zutrifft, lässt sich trotz dieser Unterschiede identifizieren: Differenzierung wird als interne Auseinanderdividierung eines sozialen Ganzen in unterschiedliche soziale Teile gesehen, was eine Erhöhung der Komplexität mit sich bringt. Diese Komplexität wiederum verschärft für den soziologischen Beobachter die Frage nach sozialer Ordnung bezüglich der Gesamtheit der Gesellschaft (vgl. Colomy 1990: 483). Entsprechend sind Differenzierungskonzepte insbesondere in Gesellschaftstheorien durkheimianischen Zuschnitts von zentraler Bedeutung, die die Gesellschaft als Ganzes zum Gegenstand haben. Dabei stehen sie in der Nähe eines historisch argumentierenden Funktionalismus, wodurch sie auch zur Zielscheibe der an diesem geübten Kritik wurden (siehe Abschn. 2.4.2): Entsprechende Ansätze, so die Kritik, seien konservativ und unfähig, sozialen Wandel zu erklären. Während „Funktionalismus“ und „Funktion“ in der Folge dieser Kritik zumindest als Bezeichnungen in entsprechenden Theorien in den Hintergrund traten, wurde am Konzept der Differenzierung jedoch festgehalten. Auf die Kritik wird von verschiedenen Differenzierungstheoretikern jedoch insofern reagiert, dass nicht mehr von einer konfliktfreien Zwangsläufigkeit und funktionaler Überlegenheit einer differenzierten Gesellschaft entlang eines „societal need explanatory frameworks“ (Colomy 1990: 467) ausgegangen wird. Des Weiteren wurde daran gearbeitet, das als abstrakt kritisierte Konzept durch historische und empirische Studien zu füllen und zu modifizieren. Für die hier folgende Charakterisierung von moderner Gesellschaft als differenziert ist dabei entscheidend, dass im Rahmen dieser Anpassungen zunehmend auch die Auffassung präsent wird, dass sich auch in der modernen Gesellschaft verschiedene Differenzierungsformen kombiniert fänden, wie Colomy (1990: 469) in seiner Bestandesaufnahme verschiedener Untersuchungen vom Ende der 1980er Jahre schliesst.

Für eine theoretisch trennscharfe Unterscheidung der Differenzierungsformen und die Frage nach ihrer Konfiguration in der Moderne bietet sich der Rückgriff auf Luhmann an. Seine Position lässt sich einerseits in einer Kontinuität mit gesellschaftstheoretischen Differenzierungstheorien in der Linie von Durkheim und Parsons sehen, wie die Einfügung in die Beiträge im genannten Band von Colomy zeigt und auch ein kritischer Beobachter wie Wagner (1996: 100) festhält.Footnote 6 Andererseits unterscheidet sich sein Ansatz aber auch in einigen Punkten, die im Folgenden fruchtbar gemacht werden können, von der genannten Traditionslinie: So lehnt er beispielsweise Vorstellungen wie die Idee der Differenzierung als Konzept des Verhältnisses von Ganzem und Teilen ab, was gerade für den Umgang mit der Funktionalismuskritik wichtig wird. Zudem verfolgt Luhmann ein im Vergleich zu den amerikanischen post-parsonsianischen Ansätzen stark theoretisch ausgelegtes Programm, wie Colomy (1990: 491) bemerkt. Die sich daraus ergebende theoretische Trennschärfe ist insbesondere für die Unterscheidung verschiedener Differenzierungsformen wichtig. Luhmann (1998: 615) geht dabei nicht bloss von einer im Verlauf der Geschichte zunehmenden Differenzierung aus, sondern stellt verschiedene einander ablösende Differenzierungsformen fest. Moderne Gesellschaft werde durch funktionale Differenzierung geprägt, was jedoch nicht heisst, dass dies die einzige Differenzierungsform in diesem sozialen Zusammenhang darstelle. Dies soll im Folgenden berücksichtigt werden: Zuerst wird das für die Moderne charakteristische Differenzierungsprinzip der funktionalen Differenzierung thematisiert und dann das so gewonnene Bild durch weitere für die moderne Gesellschaft relevante Formen der Differenzierung ergänzt.

5.1.2.1 Funktionale Differenzierung

Funktionale Differenzierung sei, so Luhmann (1998: 611), deshalb als die bestimmende Differenzierungsform der Moderne zu bezeichnen, weil sie die „Evolutionsmöglichkeiten des Systems bestimmt und auf die Bildung von Normen, weiteren Differenzierungen, Selbstbeschreibungen des Systems usw. Einfluss nimmt.“ Die Charakterisierung der Gesellschaft anhand der Differenzierung ihrer Teilsysteme nach funktionalen Gesichtspunkten findet sich, wie z. B. bereits im Abschn. 2.4.1.3 besprochen, in Talcott Parsons’ AGIL-Schema. Niklas Luhmanns Konzept funktionaler Differenzierung wurde zwar davon beeinflusst, unterscheidet sich aber grundlegend davon: Im Gegensatz zu Parsons definiert Luhmann nicht a priori bestimmte Bestandsvoraussetzungen des Gesamtsystems als zu erfüllende Funktionen: Die Gesellschaft sei nicht „strukturdeterminiert“, weshalb die zu erfüllenden Funktionen historisch variabel seien, das heisst durch die Veränderungen des Systems selbst bestimmt werden (vgl. Luhmann 1998: 746).

„Funktional“ sind diese Teilsysteme der Gesellschaft insofern, als sie je exklusive Konsequenzen für die Gesellschaft zeitigen (vgl. Luhmann 1998: 745). Luhmann spricht bei Konsequenzen dann von Funktionen, wenn ein gesellschaftliches Teilsystem der Fortsetzung der Autopoiesis des Gesellschaftssystems dienlich ist. Neben ihrer Funktion sind Systeme insbesondere an dem für sie spezifischen Code erkennbar, einer zweiwertigen Unterscheidung, mit der in der Kommunikation des Systems operiert wird und der zur Selbstbeobachtung des Systems, aber auch zur Beobachtung der Umwelt des Systems beigezogen werden kann. Die Codes sind wie die Funktion ihrerseits das Resultat historischer Veränderungen. Diese Betonung der Geschichtlichkeit der Codes findet ihre Entsprechung auch in der Historizität der von Luhmann identifizierten Teilsysteme: Während Parsons die Funktionssysteme als Felder einer analytisch begründeten Vierfeldertabelle sieht, handelt es sich bei ihnen für Luhmann um real existierende Konsequenzen einer Geschichte, die von der Soziologie bloss rekonstruiert werden kann.

Die Ausdifferenzierung eigener Schematismen wie den Codes gibt den Teilsystemen Selektionsinstrumente an die Hand, mittels welcher die Orientierung an Themen ihrer sozialen Umwelt gesteuert werden kann (vgl. Luhmann 1980: 48). Das heisst, dass die Systeme zwar nicht unabhängig von ihrer Umwelt sind, jedoch selber Kriterien entwickeln, was von der Umwelt wie im System berücksichtigt werden soll. Sie befolgen also kein übergreifendes, in der Gesellschaft als ganzes angelegtes Gerüst, das beispielsweise bestimmte Funktionen für bestimmte Teilsysteme vorsieht, und orientieren sich auch nicht einfach an den „Leistungen“, die andere Teilsysteme von ihnen erwarten. Durch diese Eigenständigkeit der Teilsysteme und den Verzicht auf wechselseitige Bestimmung erhöht sich die gesellschaftliche Komplexität.

Vor der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft waren gemäss Luhmann – und hier folgt er der soziologischen Tradition – zuerst segmentäre und dann stratifikatorische Differenzierung massgeblich. Segmentäre Differenzierung ist durch gleichrangige und gleichartige Systeme geprägt, wie Klane oder Stämme, die nebeneinander bestehen und ähnlich aufgebaut sind. Stratifikatorische Differenzierung führt dagegen zu ungleichartigen und ungleichrangigen Systemen, wie z. B. einer Unterscheidung in Klassen. Diese früheren Differenzierungsformen verschwinden in der modernen Gesellschaft nicht vollständig. Die moderne Gesellschaft ist in ihrer Komplexität jedoch auf den Redundanzverzicht funktional differenzierter Systeme angewiesen (vgl. Luhmann 1998: 761). Wissenschaft, Politik oder Religion könnten in der Komplexität, in der sie in der modernen Gesellschaft vorhanden sind und verschiedentlich in Anspruch genommen werden, nicht bestehen, wenn sich diese Systeme an Stammesgrenzen (segmentäre Differenzierung) oder an Klassengrenzen (stratifikatorische Differenzierung) ausrichten müssten. Entsprechende Unterscheidungen verlieren aufgrund zunehmender Komplexität durch funktionale Differenzierung an strukturbildender Kraft und so lässt sich moderne Gesellschaft vor allem mit dem Blick auf funktionale Differenzierung verstehen.

Für die vorliegende Thematik ist diese Theorie einerseits wichtig für den Religionsbegriff. Die hier verwendete Definition (siehe Abschn. 2.7) orientiert sich an Luhmanns Ausführungen zur Ausdifferenzierung von Religion. Andererseits ist sie wichtig für das Verständnis der sich verändernden Rolle des Individuums: Frühere Differenzierungsformen haben den Menschen als Ganzes den Systemen zugeordnet. Individuen wurden über ihre Zugehörigkeit zu Klan oder Klasse definiert und ihr Leben richtete sich an dieser Zugehörigkeit aus. Funktionale Teilsysteme greifen dagegen nur selektiv auf Individuen zu. Diese stehen höchst unterschiedlichen Teilsystemen zur Verfügung.Footnote 7 Das heisst, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe den Menschen nicht umfassend bestimmen kann, wie es für Gemeinschaften typisch ist. Wenn funktionale Differenzierung massgeblich wird, bestimmen Gemeinschaften nicht mehr die Struktur einer Gesellschaft, bilden keinen „Baldachin“ über der Gesellschaft, aber auch nicht über dem Leben der Individuen, die sich in verschiedenen funktional differenzierten Zusammenhängen und über sie hinweg bewegen müssen. Die Differenzierung führt dazu, dass die Individuen im Vergleich zueinander höchst unterschiedliche Konfigurationen der Involviertheit in Systemen aufweisen, das heisst, dass eine grosse Ungleichheit der Lebensführung besteht.

Religion kann genauso wenig wie andere Systeme als übergeordnetes Teilsystem der Gesellschaft fungieren: Weder kann sie beispielsweise über die Definition oder Legitimation einer eindimensionalen Differenzierung wie der Stratifikation Gesellschaft in übergeordneter Weise bestimmen, noch kann sie Leben und Handeln der in einer segmentär vom Rest der Gesellschaft abgesonderten Gesellschaft lebenden Individuen umfassend bestimmen. Diese Einschränkung von Religion in der Moderne stellt den wichtigsten Faktor davon dar, was Luhmann unter Säkularisierung versteht, wie in Abschn. 5.1.4.3 noch näher ausgeführt wird.

5.1.2.2 Differenzierung Interaktion-Gesellschaft

Die Ausdifferenzierung von Interaktion und Gesellschaft wurde im Anschluss an Luhmann bereits in Abschn. 2.8.2 diskutiert; Luhmann zählt sie nicht zu den eigenen Differenzierungsformen neben der funktionalen, der stratifikatorischen und der segmentären Differenzierung. Vielmehr gehe sie mit der funktionalen Differenzierung einher, ist aber gerade hinsichtlich der Rolle von Ritualen bedeutsam, weshalb ihr hier noch einmal gesonderte Aufmerksamkeit zuteil werden soll.

Gesellschaft ist für Luhmann Weltgesellschaft, genauso handelt es sich bei den funktionalen Teilsystemen um globale Systeme, da sich Systeme wie Recht, Wirtschaft, Religion und Politik nicht an die Grenzen von Nationalstaaten halten. Auch Kollokalität kann diese Systeme nicht umfassend bestimmen. Es gibt (oder vielleicht eher: gab) beispielsweise systemspezifische „Weltkongresse“, gerade im Teilsystem Religion, doch diese sind nicht konstitutiv für das Teilsystem. Weder könnte alles, was für das Teilsystem wichtig wird, bei solchen Gelegenheiten ausgehandelt und entschieden werden, noch liessen sich entsprechende Entscheidungen jenseits der Situation durchsetzen. Beispielsweise werden Preise im Wirtschaftssystem durch einen nicht lokalisierbaren Weltmarkt, nicht mehr in Interaktionssituationen festgelegt, und wissenschaftliche Wahrheit wird kaum mehr in Diskussionen unter Bedingungen von Kopräsenz festgelegt, sondern über Publikationen und Gegenpublikationen. Aufgrund dieser Veränderungen könne Gesellschaft, so Luhmann (1984: 584), immer weniger als Tausch, Tanz, Vertrag, Theater oder Diskurs begriffen werden.

Interaktionen finden zwar weiterhin statt, sind aber meist nicht mehr folgenschwer für die Reproduktion des Teilsystems. Damit werden Interaktionen ihrerseits unabhängiger von den Aufgaben des Teilsystems: Zusammenkünfte von Wissenschaftlern an Tagungen verlieren beispielsweise an Stellenwert für den wissenschaftlichen Fortschritt, andererseits werden sie auch davon entlastet und können zur nicht-wissenschaftlichen Kommunikation zwischen Wissenschaftlern dienen, was für manche zur Pflege der Motivation oder zum Knüpfen von Kontakten beitragen mag.

Mit einer solchen Auffassung von Differenzierung von Luhmann kann an Durkheims in der Division zu findenden Ausführungen über die geringere Intensität des Kollektivbewusstseins bei grossen Gruppen angeschlossen werden (siehe Abschn. 2.1.1). Ein weiterer Bezug lässt sich zur ethnologischen Diskussion um „scale“ herstellen: So verweist Luhmann auf den Ethnologen Berreman, der zwischen „small scale“ und „large scale“ Gesellschaften unterscheidet. Damit bezieht er das, was Luhmann mit der Differenzierung zwischen Interaktion und Gesellschaft bezeichnet hat, auf einen Unterschied der „scale“. Mit grösserem scale bezeichnet er dabei, ganz im Sinne Luhmanns, einen Anstieg an Komplexität, der meist mit steigender Grösse des sozialen Ganzen einher gehe (vgl. Berreman 1978: 50). In small-scale Beziehungen, das heisst sozialen Ordnungen, die interaktionsnah aufgebaut sind, fallen verschiedene Konstituenten sozialer Organisation zusammen: Rolle, Status, Persönlichkeit, formelle und informelle Beziehungen, expressive und instrumentelle Aktivitäten, Kollektiv- und Selbstorientierung, ascription und achievement, Ökonomie mit Politik, sozialen Beziehungen und Religion usw. (vgl. Berreman 1978: 71). Wie Goffman (1961: 37) beobachtet, ist bei solchen kleinen Gruppen die Interaktion (encounter) ein Test für die Beziehungen, die die Gruppe konstituieren, so beispielsweise bei Liebesbeziehungen, in denen dem Geschlechtsverkehr hohe konstitutive und beziehungsdiagnostische Bedeutung zukommen kann. Grosse Gesellschaften sind dagegen situational und temporal fragmentiert und die einzelnen Bestandteile stehen nicht mehr in einer bestimmten Beziehung zueinander (vgl. Berreman 1978: 71). Soziale Beziehungen, so lässt sich mit Giddens (1994: 85) daran anschliessen, lösen sich von der Abhängigkeit von Situationen und erstrecken sich in der Moderne über grosse räumliche und zeitliche Distanzen hinweg. Gerade das „stretching“ von sozialen Beziehungen über Raum und Zeit hinweg wird so zum Explanandum für die Soziologie, wie Giddens (1986: 35) bemerkt.

Durch diese Entkopplung von Interaktion sowohl von der Gesellschaft als auch von einzelnen Teilsystemen sind die Verhältnisse komplexer geworden: Beispielsweise ist direkte Demokratie, die situativ ausgehandelt werden kann, weniger komplex und für die Beteiligten und den wissenschaftlichen Beobachter leichter fassbar als ein politisches System, das über verschiedene Formen von Vertretung und verschriftlichter Kommunikation funktioniert.

Wenn die These einer zunehmenden Differenzierung zwischen Interaktion und Gesellschaft zutrifft, legt dies Schlussfolgerungen für die Rolle von Ritualen für die soziale Ordnung Gesellschaft nahe: Interaktionen haben aufgrund der hohen Komplexität dieser sozialen Ordnung nicht mehr die Kapazität, gesellschaftliche Differenzierung aufzunehmen und zu bearbeiten. Je komplexer die Umwelt, desto pauschaler muss in der Interaktion Absolution dafür erteilt werden; die Differenzen, die in der Gesellschaft vorhanden sind, können in der Interaktion nicht bearbeitet werden, weshalb diese eine Unempfindlichkeit gegenüber Diversität aufweisen muss, um bestehen zu können (vgl. Luhmann 1984: 572). Auch aufgrund dieser Unempfindlichkeit ist mit Luhmann ein Rückgang in der rituellen Bearbeitbarkeit von Gesellschaft zu erwarten: So zeige der letztlich erfolglose Versuch, nach der französischen Revolution Solidarität durch Revolutionsfeste zu erzeugen, dass unter komplexen Bedingungen Interaktion die konfliktive Situation so nicht kontrollieren könne und die Gesellschaft ihre Systembildung von den Möglichkeiten der Interaktion getrennt habe (vgl. Luhmann 1984: 578).

5.1.2.3 Segmentäre Differenzierung

Eine letzte Form der Differenzierung gilt es zu erwähnen, da sie unter Bezeichnungen wie „Diversität“ innerhalb und ausserhalb der Wissenschaft zur Beschreibung moderner Gesellschaft verwendet wird. Auf den ersten Blick scheint Luhmann diesen Aspekt nicht zu berücksichtigen: Über die Religionsdefinition und die Theorie funktionaler Differenzierung wird Religion auf Einheit hin gedacht, was dem Eindruck, den die moderne Gesellschaft ausübt, nämlich dass Religion in einer Vielzahl von Traditionen vorhanden ist, entgegen stehen könnte. Auch in einer systemtheoretischen Sicht kann religiöse Diversität jedoch berücksichtigt werden. Selbst wenn Religion die Form eines globalen Funktionssystems „Religion“ annimmt, in dem sich Religionen gegenseitig anhand ihres Codes als Religion erkennen (siehe die Religionsdefinition Luhmanns im Abschn. 2.7), ist sie intern ausdifferenziert: Code und Funktion werden zwar innerhalb des Religionssystems geteilt, die Art und Weise, wie kommuniziert und organisiert wird, ist jedoch unterschiedlich. So wie es unterschiedliche Staaten im politischen System gibt, gibt es auch unterschiedliche religiöse Traditionen im Religionssystem. „Das konstitutive Prinzip“, schreibt Luhmann (2000: 273) mit Blick auf Religion gar, „ist nicht Einheit, sondern Differenz.“

Damit ist von einer segmentären Differenzierung innerhalb des Teilsystems Religion zu sprechen, was bedeutet, dass die Differenzierungsform, die in segmentären Gesellschaften das soziale Ganze entscheidend geprägt hat, in der funktional differenzierten Moderne weiterhin Einheiten definiert. Diese Einheiten können als Gemeinschaften bezeichnet werden. Die Bedingungen für diese Gemeinschaften haben sich im Rahmen funktionaler Differenzierung jedoch geändert: Die grössere soziale Ordnung ist nicht entlang segmentärer Gesichtspunkte strukturiert, und die Individuen, mit denen es Gemeinschaften zu tun haben, werden von verschiedenen Teilsystemen beansprucht, die jenseits von Gemeinschaft liegen. In kommunaler Form kann versucht werden, Differenzierungen wie diejenigen von Wirtschaft, Politik und Religion in gemeinschaftlicher Einheit aufzuheben, aber diese ist, da sie damit der primären Differenzierungsform von Gesellschaft entgegen steht, stets prekär und notwendigerweise marginal (siehe Abschn. 4.2.2). Andererseits dürften, da Religion im Rahmen funktionaler Differenzierung nicht mehr an andere Systeme wie z. B. die Politik gebunden ist und systemfremde Festlegungen damit zurückgehen, diese segmentären Differenzierungen an Dynamik gewinnen.

Die Rede von religiöser Diversität bringt allerdings Schwierigkeiten mit sich: So weist der Religionssoziologe James Beckford (2003) darauf hin, dass die blosse Anzahl unterschiedlicher religiöser Gruppen oder Traditionen nicht als einziges Kriterium dafür dienen kann, sondern dass die Grösse dieser Gruppierungen und die tatsächliche Partizipation an diesem vielfältigen Angebot weitere Dimensionen religiöser Diversität darstellen. Diese Mehrdimensionalität wird auch von quantitativen Indizes wie dem sogenannten „Diversitätsindex“ zu berücksichtigen versucht (vgl. Wolf 2012: 21). Zudem dürfte Diversität nicht notwendigerweise auf Zugehörigkeiten beruhen, sondern auch auf dem Vorhandensein verschiedener religiöser Vorstellungen und Praktiken in einem sozialen Zusammenhang. Und schliesslich wäre, wie Wolf (2012: 30) zu bedenken gibt, auch zu fragen, ob und wie die religiöse Nähe der verschiedenen Gruppen zueinander zu gewichten wäre und anhand welcher Kriterien überhaupt die Grenze zwischen zwei Einheiten zu ziehen ist: Gilt der römische Katholizismus trotz seiner internen Diversität als ein einheitliches Ganzes und dagegen zwei protestantische Freikirchen, ungeachtet ihrer möglicherweise grossen theologischen Nähe, als zwei verschiedene Einheiten, die durch ihr gleichzeitiges Vorhandensein die Diversität erhöhen?

Die Diskussion des eng mit Diversität verwandten Konzepts des Pluralismus durch den Soziologen James Beckford weist auf weitere Probleme hin. So zeigt Beckford (2003: 79), dass Pluralismus kein bloss deskriptives Mass für wissenschaftliche Beobachter ist, sondern auch auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes beobachtet, bewertet und reguliert wird: Entsprechend kann die Möglichkeit der Individuen, Zugehörigkeiten zu wechseln, Gegenstand von Wertvorstellungen, Motivationen, Sanktionen usw. und damit wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher gemacht werden. Dasselbe gilt für die Möglichkeit, dass Individuen sich gleichzeitig in verschiedenen religiösen Traditionen involvieren, also dem zuordnen, was Wolf (2012: 21) als „intrapersonelle religiöse Pluralität“ bezeichnet. Damit verknüpft ist auch die Frage, ob es einen Markt gibt, auf dem die verschiedenen Segmente aufeinander stossen (vgl. dazu bereits Durkheim 1992: 438, 361) oder ob sie aufgrund der dauerhaften Bindung der Individuen gar nicht in einem Verhältnis der Konkurrenz nebeneinander stehen.

Das blosse Vorhandensein verschiedener religiöser Gruppierungen muss also nicht das bedeuten, was mit „religiöser Diversität“ gemeinhin gemeint ist. Auch um aus wissenschaftlicher Perspektive von Diversität zu sprechen, scheint es wenig sinnvoll, Diversität auf segmentäre Zugehörigkeit zu beschränken, und es scheint auch von Belang zu sein, dass Gruppierungen auch tatsächlich eine gewisse relative Grösse erreichen. Genauere Operationalisierungen können hier nicht vorgenommen werdenFootnote 8, doch soll religiöse Diversität als mehrdimensionales Merkmal einer sozialen Ordnung gesehen werden, das sich aus dem Vorhandensein einer Vielzahl von religiösen Gruppierungen und einer Vielfalt religiöser Vorstellungen und Praktiken zusammensetzt. Dabei sind die Zugehörigkeiten zahlenmässig gleichmässig verteilt und die Partizipation an Praktiken und die Übernahme von Vorstellungen über die Segmente hinweg breit gestreut.

In diesem Sinne kann vorsichtig geschlossen werden, dass Diversität in der modernen Gesellschaft zumindest in Europa und Nordamerika im Vergleich zu vormodernen Zeiten gewachsen sein dürfte. Es ist vielerorts nicht mehr der Fall, dass innerhalb einer politischen Ordnung eine oder zwei Kirchen einen Grossteil der Bevölkerung zu ihren Mitgliedern zählen und nicht-christliche religiöse Traditionen nur in Form kleiner Minderheiten vorhanden sind. Die zunehmende Zahl religiöser Gemeinschaften und Traditionen stellt dabei auch tatsächlich eine Vermehrung der religiösen Optionen dar. Diese Vielfalt basiert jedoch nicht nur auf gemeinschaftlichen Formen von Religion: Die Diversität ist auch insofern gestiegen, als dass entsprechende Vorstellungen und Praktiken aus den Gemeinschaften in die breitere Gesellschaft diffundiert und dort leichter zugänglich sind (siehe Abschn. 4.3.2.3; vgl. Lüddeckens und Walthert 2010). Eine solche Diversität ist mit dem Begriff der „segmentären Differenzierung“, wenn dabei an die Zugehörigkeit zu stammesähnlichen Vereinigungen gedacht wird, nicht gut zu fassen.

5.1.3 Rationalität und Reflexivität

Neben der Differenzierung wird Rationalisierung oft als Aspekt von Modernisierung und wie diese oft als Faktor eines Rückgangs von Religion und Ritual gesehen. David Cheal fasst entsprechende Positionen wie folgt zusammen:

„The triumph of reason, or more precisely of reasoned discourse, entails the historic defeat of ritual.“ (Cheal 1992: 365).

Auch bei Durkheim findet sich die Diskussion, ob Wissenschaft das funktionale und rationale Äquivalent zu Religion darstellen könnte. Ein rationalistisches Selbstverständnis ist mit dem aufklärerischen Ausgangspunkt der Soziologie von Beginn weg einhergegangen, so auch bei Durkheim und Weber (vgl. Robertson 1977: 288). Gleichzeitig kommen die Klassiker nicht zu eindeutigen Schlüssen, was Rationalisierung angeht, und fassen auch das Konzept selbst unterschiedlich.

Aufgrund dieser Relevanz für die Konstitution der wissenschaftlichen Perspektive, der Charakterisierung der Moderne und der Frage nach dem Bestehen von Religion und Ritual sollen verschiedene Rationalitätsverständnisse aufgezeigt werden und als Alternative ein Konzept von Reflexivität entwickelt werden.

5.1.3.1 Durkheim: Loslösung vom Konkreten

Durch Durkheims Werk hindurch zieht sich die Auffassung, dass Konzepte an Abstraktheit und Allgemeinheit gewinnen und sich vom Konkreten ablösen. Konzeptionelles Denken (pensée conceptuelle), so Durkheim (1994: 586, 626) in den Formes, macht den Menschen überhaupt erst zu einem sozialen Wesen. Dies kontrastiert Durkheim mit den individuellen Wahrnehmungen, auf welche reduziert der Mensch nicht vom Tier unterschieden werden könne. Konzeptionell zu denken heisst nicht nur, die Dinge zu benennen, sondern das Individuelle in das Soziale einzuordnen, „es heisst, das Veränderliche dem Beständigen unterzuordnen, das Individuelle dem Sozialen“ (Durkheim 1994: 587, 627). An Konzepten zu partizipieren heisst also am Sozialen zu partizipieren.

Die Allgemeinheit von Konzepten sieht Durkheim als Gegenstand historischer Veränderungen, was er am Beispiel der Religion thematisiert. In der Division vertritt er die Auffassung, dass durch die Entwicklung von Symbolen, wie beispielsweise einem zunehmend abstrakten Verständnis von „Gott“, eine Loslösung vom Konkreten möglich ist, so „(\(\ldots \)) wird der Begriff der Gottheit allgemeiner und abstrakter, denn er formt sich nicht mehr aus sinnlichen Empfindungen, wie am Anfang, sondern aus Ideen.“ (Durkheim 1992: 350, 274)

Mit diesen abstrakten Konzepten können allgemeine Zusammenhänge erfasst werden, die Kommunikation kann sich von der Verhaftung in unmittelbar gegebenen Situationen, Dingen und Erfahrungen lösen, wobei ein rationaler, das heisst begrifflicher, vernunftgesteuerter Zugriff auf die Welt möglich wird.Footnote 9

Je abstrakter die Kategorien, desto unabhängiger der Verstand, je näher die conscience commune an den Dingen, desto weniger ist sie intelligibel, fährt Durkheim fort. Mehr Abstraktion und die erhöhte Beanspruchung des individuellen Verstandes führt zu weniger selbstverständlichem Einverständnis: „Was den Verstand auf Abwege führt [im Original “Ce qui déroute l’entendement”, Anm. RW], das ist das Besondere und das Konkrete.“ (Durkheim 1992: 351, 275). Auch Religion verliert dabei an gemeinschaftlich gegebener Selbstverständlichkeit. Im Zuge dieser Entwicklung verschwindet sie nicht, sie nimmt aber neue Formen an, so in der „individualistischen Moral“, die Durkheim als einzige mögliche Religion der Menschheit ansieht:

„Dieser Kult des Menschen kennt als oberstes Dogma die Autonomie der Vernunft und als obersten Ritus die freie Prüfung.“ (Durkheim 1986b: 60, 17)Footnote 10

Im eben zitierten Text „Individualismus und die Intellektuellen“ bezeichnet Durkheim Rituale entsprechend als „oberflächlichen Teil“ und „äusseren Apparat“. Riten, so Durkheim (1986b: 21, 63) weiter, würden, wie Vorurteile, vom Lauf der Dinge wegerodiert. Diesen Lauf der Dinge sieht er, ganz im modernisierungstheoretischen Sinne, als Individualisierung der Persönlichkeiten, fortschreitende Arbeitsteilung und als Aspekt gesellschaftlicher Differenzierung.

Dieser Argumentation folgend schliesst Durkheim nicht auf den Rückgang von Religion, wohl aber auf die abnehmende Bedeutung von Ritualen, was einer Rationalisierungsthese entsprechen würde, wie sie auch anhand anderer Autoren wie Weber und Habermas formuliert werden kann. Geschichte stellt darin ein Fortschreiten der Rationalisierung auf Kosten von Ritualen dar. Während diese als ganz spezifische und konkrete Abläufe, die durch intensives Kollektivbewusstsein gekennzeichnet sind, zurückgehen, sieht Durkheim nicht-rituell begründete Bereiche der Gesellschaft, so die Wissenschaft als für die neue organische Solidarität paradigmatischen Fall in der Division.

Im Unterschied zu diesen Akzenten legt der Durkheim der Formes neues Gewicht auf die Bedeutung des emotionalen Vollzugs unter Bedingungen der Kopräsenz. Damit verbunden ist auch eine neue Betonung von Religion: Der rationalisierende Blick des Beobachters, so betont Durkheim (1994: 557, 594) in seinen Schlussbemerkungen explizit, würde Religion als „Ideensystem“ sehen – entsprechend würde sie in Konkurrenz mit wissenschaftlichen Konzeptionen der Welt stehen. Seine Absage an eine solche rationalistische Perspektive auf soziale Zusammenhänge und eine davon bestimmte und sie mitbestimmende Religion ist unmissverständlich: Religion funktioniert nicht als System von Zeichen, sondern basiert auf einer Aktivität der Reproduktion, in der Intellektualität und Emotionalität miteinander verknüpft sind. Damit fordert Durkheim ein Religionsverständnis, das anerkennt, dass es den religiösen Menschen nicht um Konzepte gehe, sondern um eine hochgradig emotionale und nicht mittels intellektueller Konzeptionen vermittelte Praxis. Der Kult sei kein „System von Zeichen, durch die sich der Glaube äussert“ (Durkheim 1994: 559, 596), sondern vor allem entscheidend für die Erzeugung von Emotionen.

Zudem sei die Ursache von Religion die Gesellschaft und die würde auch in modernen Verhältnissen zu ihr führen und gleichzeitig auf sie angewiesen sein:

„Die Gesellschaft kann ihren Einfluss nicht fühlbar machen, ausser sie ist in Aktion; und dies ist sie nur, wenn die Individuen, die sie bilden, versammelt sind und gemeinsam handeln.“ (Durkheim 1994: 560, 598)

Dies geschieht bei den von Durkheim beschriebenen Aborigines rituell, wobei er davon ausgeht, dass es sich dabei um einen universalen Tatbestand handelt und die elementaren Formen das in aller Klarheit zeigten, was überall der Fall sei. Die Intensität des „Geisteszustandes“ (Durkheim 1994: 286, 297) sei generell für die Übernahme und Plausibilität von Vorstellungen notwendig. Dies gilt, wie Durkheim betont, auch für wissenschaftliche Aussagen (Durkheim 1994: 287, 298). Auch dieser scheinbar am stärksten rationalisierte, in seiner Form auf dem propositionalen Gehalt sprachlicher Aussagen und der Wahrheit ihrer Beschreibungen der Gegenstände beruhende Bereich der Gesellschaft funktionierte genauso über emotionale Involvierung in eine Praxis wie die von Durkheim beobachteten Rituale der Aborigines.

Daraus lässt sich einerseits schliessen, dass Religion gemäss dem späten Durkheim hinsichtlich Rationalität nicht in einem Kontrast zur Wissenschaft oder anderen Bereichen der Gesellschaft steht. Damit dürfte sie nicht so leicht das Opfer von Rationalisierungen werden. Andererseits lassen sich daraus aber nicht Rückschlüsse auf Religion als funktionales Erfordernis zur Implementierung von gesellschaftlicher Solidarität ziehen.

5.1.3.2 Parsons: Rationality for what?

Ein Beispiel für eine an Durkheim und Weber orientierte Konzeption von Religion als rationaler Angelegenheit findet sich bei Talcott Parsons. Im Anschluss an Max Weber stellte er eine zunehmende Rationalisierung von Religion durch Glaubensvorstellungen fest, wobei er Anschlüsse bei Durkheim mit dem Einbezug von Max Weber zusammenbrachte.Footnote 11 Interessant sind jedoch insbesondere seine kritischen Ausführungen zum Verständnis von Rationalisierung. Wie im Abschn. 2.6.2.1 ausgeführt, identifiziert er Werte als unabdingbare Komponente von Handlungen. Und diesem rationalen Kern von Handlungen, der auf Werten basiert, die wiederum in Symbolsystemen rational organisiert sind, galt Parsons’ Interesse (vgl. Parsons 1977a: 73). Entsprechend sieht er im Rahmen von Religion Glaubensvorstellungen als zentral an: „It is not possible to have a system of spontaneous sentiments which are not regulated by the cognitive discipline of beliefs.“ (Parsons 1974b: 220). Angesichts der Zentralität von Glaubensvorstellungen ist Religion in so einer Konzeption nicht nur von Rationalität begleitet, sondern ihrerseits ein rationaler Umgang mit Problemen (siehe Abschn. 2.4.1.3). Dabei stellte Parsons die Schwierigkeit fest, von einer einheitlichen Rationalität zu sprechen: So setzten Utilitaristen Konsumbedürfnisse als gegeben, Freud und die Psychiatrie dagegen die Gesundheit. Angesichts der Verschiedenheit der Ziele, auf die hin rationalisiert wird, sei es „(\(\ldots \)) reasonable to raise the question (\(\ldots \)): ‘Rationality for what?’“ (Parsons 1977a: 72).

Für problematisch hält es Parsons auch, die Kriterien der Rationalität von Handlungen als externer Beobachter festzulegen. Weiche der Handelnde davon ab, gelte das für den entsprechenden Beobachter fälschlicherweise als irrational und werde einer soziologisch nicht erklärbaren Residualkategorie zugeordnet (vgl. Holmwood 1996: 60). Stattdessen unterstellte Parsons eine „intrinsic rationality of means-end relation“, das heisst entlang kultureller Werte orientiertes, durch informierte Entscheidungen gesteuertes Handeln. Die Rationalität dieses Zusammenhanges gelte es für den wissenschaftlichen Beobachter zu entschlüsseln. Die Frage stellt sich, ob Parsons das tatsächlich einlöste und faktisch nicht doch eine „oversocialized conception of man“ vertrat, in der die kulturellen Werte letztlich determinierend gedacht sind (siehe Abschn. 2.6.2.6). Aus einer praxistheoretischen Perspektive wäre wiederum das Bild einer über informierte Selektionen mit den objektiven Bedingungen umgehenden Subjekts zu hinterfragen (vgl. ähnlich: Holmwood 1996: 60).

5.1.3.3 Habermas: Kommunikatives Handeln

Bei Jürgen Habermas findet sich eine etwas anders gelagerte Auseinandersetzung mit Rationalität und Rationalisierung. Gerade durch seine Diskussion von Durkheims Formes wird sie für die Frage nach dem Status von Ritualen und sozialer Ordnung in der Moderne höchst relevant.

Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (1981c, b) lässt sich als Fortführung einer Rationalisierungstheorie in der Folge Webers verstehen. Gleichzeitig führt er dabei Parsons Annahme einer normativen Integration der Gesellschaft fort und dynamisiert sie über ein Konzept des kommunikativen Handelns. Für Habermas eher ungewöhnlich ist der Anschluss an Durkheim. Mit seinen Annahmen über rituelle Grundlagen gesellschaftlicher Solidarität und sakrale Grundlagen der Moral schliesse dieser, so Habermas, eine Lücke. Im Gegensatz zu Durkheim sieht Habermas (1981b: 10) nun nicht mehr Rituale als Grundlage von Solidarität, sondern Sprache. Es geht ihm um eine „Versprachlichung dieses rituell gesicherten normativen Grundeinverständnisses“. Mit Rückgriff auf George Herbert Mead will Habermas (1981b: 74) dabei Engführungen und Unterlassungen bei Durkheim überschreiten: So habe dieser nicht zwischen rituell-praktischer und sprachlich erzeugter Intersubjektivität unterschieden, immerhin entspreche aber „die rituelle Praxis (\(\ldots \)) einer kommunikativ vollzogenen Kommunion“ (Habermas 1981b: 84). Die sakral verwurzelte Normgeltung, also die von Durkheim beobachtete Herstellung von Werten und Normen in religiösen Ritualen, konnte damit ein Anknüpfungspunkt „für die Entwicklung von der symbolisch vermittelten Interaktion zur Sprache“ (Habermas 1981b: 118) darstellen. Damit kommt Habermas zur Hypothese, dass

„(\(\ldots \)) die sozialintegrativen und expressiven Funktionen, die zunächst von der rituellen Praxis erfüllt werden, auf das kollektive Handeln übergehen, wobei die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird. Das bedeutet eine Freisetzung des kommunikativen Handelns von sakral geschützten normativen Kontexten. Die Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs vollzieht sich auf dem Wege einer Versprachlichung des rituell gesicherten normativen Grundeinverständnisses; und damit geht die Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials einher.“ (Habermas 1981b: 118–119; Hervorhebungen im Original)

Dieser Wandel weg von religiös-ritueller zu einer versprachlicht-rationalisierten Herstellung von Solidarität zeigt sich darin, dass dem Heiligen keine per se geltende Autorität mehr zukommt, sondern Begründungsleistungen gefragt sind. „Weltbilder“ müssten fähig sein, eine Diversität von Erfahrungen einzubeziehen und auf sich verändernde Handlungssituationen mit Spezifizierung reagieren zu können. Bestimmte Rollen und Regelungen widmeten sich solchen Fragen, die Interpretationsleistungen verselbständigten sich auf ihrer Basis (vgl. Habermas 1981b: 137).Footnote 12

Der öffentliche, vernünftige Diskurs und nicht etwa andere Bereiche der Gesellschaft, wie z. B. Wissenschaft, treten hier die Nachfolge von religiösen Ritualen in der Herstellung von Solidarität an. Weder Wissenschaft (durch Diskussion gesicherte Objektivität) noch Kunst (Subjekt, freigesetztes Ich), sondern „(\(\ldots \)) allein die zur Diskursethik entfaltete, kommunikativ verflüssigte Moral kann in dieser Hinsicht die Autorität des Heiligen substitutieren. In ihr hat sich der archaische Kern des Normativen aufgelöst, mit ihr entfaltet sich der rationale Sinn von normativer Geltung.“ (Habermas 1981b: 140; Hervorhebung im OriginalFootnote 13).

Der Kontext des kommunikativen Handelns ist die Lebenswelt, zu der Habermas Kultur, Gesellschaft und die Person zählt. Diese und die je dazugehörenden Vorgänge kultureller Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation, treten gemäss Habermas (1981b: 427) im eben beschriebenen Prozess der Rationalisierung auseinander, der religiöse Grundkonsens, der sie nahe beieinander gehalten hatte, wird „kommunikativ verflüssigt“. So ist es fortan die Aufgabe des kommunikativen Handelns, die genannten Bereiche und Vorgänge sicherzustellen und miteinander zu vermitteln.

Dabei wird Rationalisierung des kommunikativen Handelns von Habermas als positiv, der institutionalisierte Rationalismus von Wirtschaft und Politik negativ bewertet (vgl. Giddens 1985: 108). Das „System“ hat Habermas (1981b: 422) dabei im Verdacht, auf die „Lebenswelt“ überzugreifen, dies, wenn ökonomische und administrative Rationalität Zugriff auf Bereiche der Lebenswelt erhalten, da sie einer kommunikativen Rationalität folgen.Footnote 14 Die Frage wäre, ob einer solchen Analyse entsprechend ritualisierte Praxis nicht mehr in der Lebenswelt, sondern in den institutionell rationalisierten Systemen zu erwarten wäre, die nicht derart von kommunikativer Rationalität durchdrungen und möglicherweise auf routinisiertes, unhinterfragtes Handeln angewiesen sind.Footnote 15 Und ob Religion in ritueller Form ebenfalls diesem Bereich zuzuordnen wäre oder ob es nun auch auf der Handlungsebene rationalisierte, das heisst diskursiv aufgeklärte und ritualfreie Religion gibt, die der Lebenswelt zuzuordnen ist.

Habermas (1981b: 422) argumentiert mit seiner Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt gegen Parsons, der diese „Paradigmenkonkurrenz“ nicht erfasst habe, so die Rationalisierung der Lebenswelt mit steigender Systemkomplexität gleichschalten musste und dabei entstehende Probleme nicht in den Blick habe nehmen können. Eine praxistheoretische Position würde wohl ihrerseits auf die System-Lebenswelt-Unterscheidung verzichten. Wenn kommunikatives Handeln als Praxis im hier verwendeten Sinne verstanden wird, wäre es schwierig, die Lebenswelt prinzipiell vom Rest der Gesellschaft abzusondern, da die Vernunft, Informiertheit und Freiheit für keinen Bereich des Lebens einfach unterstellt werden könnten. Habermas positioniert sich in seiner These der Rationalisierung also diametral entgegengesetzt zum hier verwendeten Ansatz.

5.1.3.4 Weber: Rationalisierung und Standpunkt

Weber ist Ausgangspunkt für die Rationalisierungsverständnisse von Parsons und Habermas. Folgt nun der Blick auf Webers eigenes Verständnis, soll dies geschehen, um eine weitere mit der Rede von Rationalisierung verbundene Schwierigkeit aufzuzeigen: nämlich die Frage, ob es nur eine oder gar mehrere Rationalitäten gibt.

Einerseits zeichnet Weber, so betont Lichtblau (2011: 35), einen gerichteten Vorgang der Rationalisierung nach. So sieht er eine zunehmende Ablösung von affektuellem und traditionalem hin zu wert- und zweckrationalem Handeln. Rationalisierung sei dabei, so Lichtblau, Synonym mit Vergesellschaftung. Wie in seinen Ausführungen zur Entzauberung des Protestantismus deutlich wird, ist dabei Religion genauso Ausgangs- wie Endpunkt einer Rationalisierung, der über verschiedene gesellschaftliche Sphären hinweg „Irrationalitäten“ entgegenwirkt (vgl. Müller 2011: 53–54).

Andererseits weist Weber darauf hin, man könne „unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten ‘rationalisieren’, und was von einem aus ‘rational’ ist, kann, vom andern aus betrachtet, ‘irrational’ sein.“ (Weber 1988b: 11–12). Rationalisierung scheint also für Weber keine einheitliche Angelegenheit zu sein.Footnote 16 Es habe sie, so fährt Weber an der eben zitierten Stelle weiter, „auf den verschiedenen Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kulturkreisen gegeben“, wobei jeweils charakteristisch sei, welche Bereiche der Gesellschaft in welche Richtung rationalisiert worden seien. Folgt man diesen Ausführungen, so dürfte es auch innerhalb eines „Kulturkreises“ wenig sinnvoll sein, von Rationalisierung in einer Hinsicht, z. B. einer Ausdifferenzierung von Wissenschaft, auf entsprechende Folgen in allen Bereichen der Gesellschaft, z. B. die Rationalisierung von Religion, zu schliessen. Es dürften jeweils unterschiedliche Gesichtspunkte am Werk sein. Solche Verbindungen sind, das zeigt Webers Werk, im Detail zu untersuchen.Footnote 17

Ein weiterer für das hier Folgende wichtiger Gedanke findet sich ebenfalls bei Weber: Die Rationalisierung der gesellschaftlichen Ordnung bedeute nicht, so Weber (vgl. 1982b: 449), dass die Individuen zweckrational handelten oder informiert über die ökonomischen und sozialen Bedingungen seien. Angesichts institutionalisierter Ordnungen sind Zweckabwägungen im Alltag oft entbehrlich, das Individuum muss nicht noch einmal nachrechnen. Auch „Wertrationalität (\(\ldots \)) gerät vollends zum Luxus.“ (Müller 2011: 51). Während Durkheim betonte, dass wir uns gegenüber den sozialen Tatsachen verhielten wie Wilde, hält Weber sogar fest: „Der ‚Wilde‘ weiß von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr als der im üblichen Sinn ‚Zivilisierte‘.“ (Weber 1982b: 449). Rationalisierung auf der gesellschaftlichen Ebene scheint also dem Individuum die Rationalität abzunehmen und ihm die rationale Einsicht in die Ordnung, in der er lebt, zu erschweren.

5.1.3.5 Rationalisierung und Praxis

Die Schwierigkeiten der Konzepte Rationalität und Rationalisierung sind damit genannt. Wie bei Durkheim, aber auch bei Habermas deutlich wird, können diese Konzepte zu einem Teil der Aufklärungsarbeit von Soziologen werden, in der Modernisierungsoptimismus (bei Habermas die Rationalisierung der Lebenswelt durch kommunikatives Handeln) und -skepsis (Rationalisierung der Lebenswelt durch „Systeme“) miteinander verknüpft werden. Dies zeigt die normative Komponente des Konzeptes. Webers Ausführungen zu den unterschiedlichen Gesichtspunkten, unter denen etwas als „rational“ bezeichnet werden kann, weisen auf die Selektivität entsprechender Positionen hin.

Gerade aus praxistheoretischer Sicht ist zu fragen, ob mit einem wissenschaftlichen Massstab der Rationalität nicht ein intellektualistisches Bild von Handlung verknüpft ist.Footnote 18 Die Annahme, dass Rationalisierung eine Entwicklung hin zu mehr Vernunft darstellt, scheint ein entsprechendes Konzept auf die ganze Gesellschaft auszuweiten. Schliesslich ist die historisch angelegte Rationalisierungsthese einer Praxistheorie insofern fremd, als Praxis nicht ein bestimmter Handlungstypus innerhalb einer Typologie neben anderen ist, dessen Relevanz zurückgehen kann, sondern ein Universalbegriff ohne historische Bezüge. Im Gegensatz beispielsweise zu Webers traditionalem Handeln, das durch Rationalisierung zu wertrationalem Handeln werden kann, ist nicht vorgesehen, dass im Rahmen eines historischen Vorganges Praxis abgelöst wird. Diese Ahistorizität ist Ausgangspunkt für Kritik an Praxistheorien: So weist Margaret Archer, eine Kritikerin sowohl von Giddens als auch von Bourdieu, darauf hin, dass Bourdieus Konzept der Praxis anhand eines spezifischen ethnographischen Gegenstandes, den Kabylen, entwickelt worden sei und viel zu sorglos auf andere Gegenstände angewandt werde. Dabei werde sein Konzept von traditionellen, gemeinschaftlichen Verhältnissen, auf die moderne Gesellschaft übertragen: „The validity of projecting the metaphor forwards into modernity, onwards into high modernity, and, perhaps, beyond that, is really what is at issue.“ (Archer 2010a: 295).Footnote 19 Damit werde der Historizität des Gegenstandes nicht genügend Rechnung getragen.

In der vorliegenden Untersuchung wird dagegen ein Verständnis von moderner Gesellschaft verwendet, das es unabdingbar macht, Geschichte zu berücksichtigen. Beispielsweise geht das verwendete Verständnis von Differenzierung von Veränderungen der Reproduktion von Gesellschaft und ihren Teilbereichen aus, die mit neuen Formen des Selbstbezugs einhergehen, die auch ein praxistheoretisch orientierter Ansatz erfassen können muss. Die soeben vorgestellten Rationalisierungskonzepte scheinen mit Praxistheorien geradezu inkompatibel, so im Fall des Verständnisses von Habermas, bzw. weisen auf Probleme hin, wie dasjenige der Perspektivität durch Weber und Parsons, die die Rede von Rationalisierung grundsätzlich schwierig machen. Ein Weg, der modernisierungstheoretischen Historizität gerecht zu werden und gleichzeitig diese Probleme in praxistheoretisch kompatibler Weise anzugehen, bietet Anthony Giddens mit seinem Konzept von Reflexivität.

5.1.3.6 Giddens: Reflexivität

Reflexivität nimmt in Giddens’ Auseinandersetzung mit Praxis von Beginn weg eine zentrale Rolle ein und er betont sie stärker als Bourdieu. Dabei ist Reflexivität Teil eines Modernisierungsverständnisses, in dessen Zentrum Konzepte wie „disembedding“ oder „de-traditionalization“ stehen:Footnote 20

In Giddens’ Bild einer post-traditionalen Gesellschaft wird die Gegebenheit von Bestehendem hinterfragt: An einen bestimmten Ort bzw. bestimmte Personen gebundene, aufgrund von Gewohnheit geltende Bedeutungen und Autoritäten werden Gegenstand diskursiver Infragestellung. Wissen wird von Experten mit ihren spezifischen, überpersönlichen und stetig revidierbaren Kompetenzen verwaltet und angewandt, nicht von Personen, denen aufgrund ihrer persönlichen Qualitäten umfassende Weisheit zugeschrieben wird (vgl. Giddens 1994: 82–91). Vertrauen besteht nicht in persönliche Autoritäten, sondern in abstrakte Systeme, zu deren Repräsentanten kein persönlicher Kontakt bestehe (vgl. Giddens 1994: 90).

Wissen ist nicht einfach mehr unhinterfragt gegeben – „formelhafte Wahrheit“ (formulaic truth) habe es schwer (vgl. Giddens 1994: 104). In einem Zeitalter der Kritik und der Skepsis habe dabei auch die Wissenschaft an Autorität eingebüsst (vgl. Giddens 1994: 88) – genauso wie Autoritäten in anderen Bereichen der Gesellschaft. Expertensysteme klammerten, so Giddens (1991: 18), Raum und Zeit ein, „deploying modes of technical knowledge which have validity independent of the practitioners and clients who make use of them.“ Diese Loslösung der Genese und Geltung von Wissen von lokalen raum-zeitlichen Zusammenhängen ist ein Aspekt des „disembedding“, der Entkopplung sozialer Beziehungen von lokalen Bindungen, das Giddens (1994: 82–91) ebenfalls als Merkmal moderner Ordnungen sieht. Für dieses disembedding spielt das, was mit Luhmann als funktionale Differenzierung bezeichnet werden kann, eine grosse Rolle: „a person’s status within one abstract system is likely to be completely beside the point within another.“ (Giddens 1994: 89). Personen oder anderweitigen Akteuren werden keine generalisierten, teilsystemübergreifenden Kompetenzen zugeschrieben.

Bereits vor diesen modernisierungstheoretischen Arbeiten findet sich bei Giddens ein Konzept von Reflexivität: Er fasste dabei Reflexivität nicht einfach als „Selbstbewusstheit“ (self-consciousness) sondern als „the monitored character of the ongoing flow of social life. To be a human being is to be a purposive agent, who both has reasons for his or her activities and is able, if asked, to elaborate discursively upon those reasons (including lying about them).“ (Giddens 1986: 3). Das heisst Reflexivität ist der Bezug des Handelnden auf sich selbst und auf seine Handlungen als solche und das Herstellen von Bezügen auf den Handlungskontext.

Reflexivität ist ein stets vorhandenes Merkmal alltäglichen Handelns, sie kann jedoch mehr oder weniger ausgeprägt sein, denn Handlungen können Gegenstand eines stärker diskursiven, das heisst verbalisierten Bewusstseins werden, im impliziten praktischen Bewusstsein begründet sein oder gänzlich unbewusst ablaufen (vgl. Giddens 1986: 4–6). Je nachdem ist der reflexive Bezug, Giddens spricht von „reflexive monitoring of action“, stärker oder schwächer ausgeprägt. Typischerweise ist Handeln und das dafür notwendige Wissen, diesbezüglich ist Giddens (1986: 26) ganz Praxistheoretiker, stärker im praktischen als im diskursiven Bewusstsein begründet.

In „The Constitution of Society“ bezieht Giddens 1986 den Begriff der Reflexivität aber ausschliesslich auf Handeln, wendet ihn nicht gesellschaftstheoretisch und stellt ihn auch nicht in einen historischen Zusammenhang. Die theoretisch darin vorgesehene Möglichkeit für Reflexivität gewinnt, so Giddens’ modernisierungstheoretische Arbeiten, unter modernen Verhältnissen die bereits beschriebene Prominenz.Footnote 21 Traditionen sind dabei den genannten Vorgängen unterworfen: Konzepte, Handlungsweisen und Repräsentanten können hinterfragt werden, auch soziale Beziehungen müssen „gemacht“ werden, sie sind nicht einfach gegeben (vgl. Giddens 1994: 107).

Die Kritik an Giddens sieht dessen Verständnis von Reflexivität als nicht mit den stärker praxistheoretischen Überlegungen zur „duality of structure“ kompatibel. Giddens habe, so betonen Kritiker wie Bagguley (2003), u. a. in seiner „Constitution of Society“ den Dualismus von agency und structure abgelehnt und in ein Bild von zwei Seiten einer Medaille umformuliert, im Rahmen dessen Handlung immer Struktur und Struktur immer Handlung sei. Die Trennung des Subjekts vom Objekt, die eine Bedingung für Reflexivität auch im von Giddens formulierten Sinne darstelle, sei damit nicht denkbar. Auch Konflikt – diese Kritik erinnert an diejenige an Durkheim und am Funktionalismus – könne im Rahmen einer solchen Entsprechung nicht gedacht werden (vgl. Bagguley 2003: 137). Es brauche letztlich, hier folgt Bagguley (2003: 143) in seiner Kritik Margaret ArcherFootnote 22, ein Verständnis von structure und agency, das diese als unabhängige Angelegenheiten verstehe, um überhaupt erfassen zu können, wie beispielsweise Veränderungen von Handlungen durch Veränderungen der Struktur verursacht sein könnten, ohne in Tautologien zu verfallen. Gerade die Differenz eines „Dualismus“, nicht die untrennbare Verknüpfung der „Dualität“ sei nötig, damit so etwas wie Reflexivität überhaupt gedacht werden könne.Footnote 23

Diese Kritik betrifft nicht nur Giddens, sondern generell die praxistheoretische anti-dualistische, in Archers Worten konflationistische, Begriffsstrategie. Die Annahme, nur mit einem Bild der Unabhängigkeit von agency und structure Wandel erfassen zu können, ist jedoch wenig plausibel: Wandel kann als Resultat von Wechselwirkungen verschiedener nebeneinander existierender sozialer Systeme, die je als structure/agency-Gebilde zu verstehen sind, gesehen werden. Diese Wechselwirkungen würden sich nur dann nicht einstellen, wenn alle sozialen Systeme harmonisch oder zumindest ohne Spielraum in einem Raster von Struktur und Handeln eingefügt wären. Auch der Vorwurf, dass Giddens für eine reflexive Moderne nur ein „under-determined concept of action“ (Bagguley 2003: 144; im Original alles kursiv) anzubieten habe, das Reflexivität nicht genügend fassen könne, ist wenig plausibel: Reflexivität ist kein Merkmal „individueller Freiheit“ auf der Seite von agency. So wird sie, worauf bereits mit Weber hingewiesen wurde, nicht einfach auf der Seite der Handelnden vollzogen, sondern auch gewissermassen delegiert, so z. B. von Flugzeugpassagieren an den Flugzeughersteller. Deren Bereitstellung von Expertise und das Vertrauen darin wären, wenn man die Unterscheidung von structure und agency mit Archer vollzieht, genauso Merkmal von structure. Das heisst, dass keine structure/agency-Unterscheidung notwendig ist, um Reflexivität zu fassen, und diese nichts mit einem „starken“ Konzept von agency zu tun haben muss.

Giddens spricht von einer „institutionalisierten Reflexivität“, dabei gehe es um „the institutionalization of an investigative and calculative attitude towards generalized conditions of system reproduction“ (Giddens 1993: 6). Damit handelt es sich genauso um einen Wandel auf der Seite der Struktur wie auf derjenigen des Handelns und es scheint nicht hinderlich, diese zwei Aspekte praxistheoretisch eng beieinander zu sehen. Gerade moderne Reflexivität scheint keine besonders starke agency nahe zu legen. Weniger denn je kann die soziale Welt als durchschaubare Aneinanderkettung der überlegten Handlungen frei entscheidender Individuen verstanden werden. Noch weniger als ein Flugzeug sind beispielsweise im Bereich der Politik demokratische Prozesse durch ein sich darin eine freie Meinung bildendes und partizipativ eingebundenes Individuum gänzlich durchschau-, geschweige denn steuerbar.Footnote 24

Eine weitere Kritik am Reflexivitätsverständnis von Anthony Giddens stammt von Scott Lash, der in einem gemeinsam mit Beck und Giddens veröffentlichten Band darauf hinweist, dass seine Mitherausgeber eine szientistische Wahrnehmung von Moderne hätten. Ausgehend von einer rationalistischen Betonung würde ihr Verständnis von Reflexivität eine technisch-wissenschaftliche Version der Moderne generalisieren; deshalb fordert Lash (1994: 200) einen „hermeneutisch informierteren Blick“, das heisst den Einbezug der „kulturellen Dimension“ im Blick auf die reflexive Moderne. Tatsächlich behandelt Giddens kaum Gegenstände, die typischerweise dem Bereich der „Kultur“ zugeschrieben werden, wie beispielsweise Religion oder Kunst. Andererseits ist aus einer praxistheoretischen Perspektive die Unterscheidung zwischen Struktur/Kultur bzw. sozialen und kulturellen Systemen generell abzulehnen (siehe dazu Abschn. 2.6.5), was eine Kritik wie diejenige Lashs wenig nahe legt oder zumindest als wenig grundsätzlich erscheinen lässt. Auch mit Blick auf Webers Ausführungen zum Rationalismus ist fraglich, inwiefern dieser nur auf die Wissenschaft beschränkt sein soll, bzw. in der Wissenschaft so anders beschaffen sein sollte, dass diese nicht als Vergleichsfall oder Ausgangspunkt für Überlegungen zu Reflexivität in anderen Bereichen der Gesellschaft dienen könnte.

5.1.4 Säkularisierung

Die Konsequenzen der eben beschriebenen Aspekte eines Vorganges der Modernisierung für Religion werden oft als „Säkularisierung“ verstanden. Mit Säkularisierung wird wiederum Unterschiedliches bezeichnet: Beispielsweise wird sie als verbreitetes Verschwinden von Religiosität bei Individuen gesehen oder als Vorgang, der die Relevanz von Religion auf gesellschaftlicher Ebene einschränkt. Da es in diesem Abschnitt um die soziale Ordnung „Gesellschaft“ geht, wird nach Letzterem gefragt. Entsprechend geht es im Folgenden nicht um die meist quantitativ-statistisch behandelte Frage nach Religiositätsverlust bei Individuen, sondern um die Diskussion eines möglichen Wandels des Bezugs von Religion zur Ordnung moderner Gesellschaft.

Für die entsprechende Frage kann zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Ansätzen unterschieden werden (vgl. Seidman 1985: 111):

  1. 1.

    Ansätze, die mit Blick auf die funktionale Notwendigkeit von Religion Säkularisierung im Sinne eines grundlegenden Verlustes des Einflusses von Religion auf die Gesellschaft nicht für möglich halten.

  2. 2.

    Ansätze, die Religion keine unentbehrliche Funktion zuschreiben und beispielsweise aufgrund von Differenzierung oder Rationalisierung von einer Säkularisierung der Gesellschaft ausgehen, im Rahmen derer Religion generell an Bedeutung verliert.

Die erste Position ist dabei oft durkheimianisch und gesellschaftstheoretisch geprägt, letztere stärker weberianisch und handlungstheoretisch. Im Folgenden geht es darum, diese zwei Argumentationsfiguren zu diskutieren und davon ausgehend ein für die vorliegende Untersuchung anschlussfähiges Verständnis von Säkularisierung zu erarbeiten.

5.1.4.1 Funktionale Notwendigkeit von Religion

Wird Religion eine für das Bestehen von sozialer Ordnung unentbehrliche Funktion zugeschrieben, ist ihr Relevanzverlust schwer vorstellbar bzw. nur verbunden mit einer Krisendiagnose möglich. Wie im Abschn. 2.4.1 gezeigt, stellt Durkheim eine wichtige Referenz für entsprechende Positionen dar.

Müller (1988: 143) fasst Durkheims religionssoziologische Erkenntnisabsicht als Versuch zusammen, die Bildung, Rolle und funktionale Konsequenz von Religion in kognitiver, evaluativer und expressiver Hinsicht zu erfassen. Entscheidend für die Frage nach Säkularisierung sei dabei, dass Religion möglicherweise den „kognitiven Symbolismus“ an die Wissenschaft und den „expressiven Symbolismus“ an die Kunst abgibt, die, wie alle grundlegenden Institutionen gemäss Durkheim (1994: 560 f., 598), sich aus der Religion ausdifferenziert haben. Für den „evaluativen Symbolismus“ bleibt Religion gemäss Durkheim jedoch unentbehrlich. So könne die Wissenschaft, auch wenn sie kritische kognitive Anfragen an Religion stelle, nicht ihrerseits Garantin für soziale Ordnung sein – dafür sei weiterhin Religion notwendig.

Auch wenn das Recht ebenfalls eine Funktion in diesem Bereich wahrnimmt, ist mit den Formes darauf zu schliessen, dass moralische Regeln für ihre Plausibilität weiterhin eine religiös-rituelle Grundlage benötigen. Durkheim sieht das grundlegendste Problem, das die religiöse Moral löst, als eine religiöse Angelegenheit: Sie macht aus dem egoistischen, durch seine unmittelbaren Bedürfnisse angeleiteten Individuum ein soziales und das heisst immer: moralisches Wesen. In seiner Schrift über den „Individualismus und die Intellektuellen“ findet sich geradezu ein Plädoyer für die Notwendigkeit von Religion auch in der Moderne. Durkheim konzipiert „Individualismus“ als Religion, als eine „Religion der Menschheit“, die alles habe, „(\(\ldots \)) was nötig ist, um zu ihren Gläubigen in einem nicht minder imperativen Ton zu sprechen wie die Religionen, die sie ersetzt.“ (Durkheim 1986b: 59, 15). Der Individualismus, so Durkheim an dieser Stelle weiter, weist „(\(\ldots \)) ein Ideal zu, das unendlich weit über die Natur hinausgeht.“ Damit handelt es sich also nicht um eine biologisch egoistisch verhaftete, sondern eine moralische Angelegenheit, in deren idealem Zentrum der Mensch und die Sympathie für ihn steht. Oberstes Dogma sei, wie bereits in den Ausführungen zur Rationalität zitiert, die Autonomie der Vernunft und oberster Ritus die freie Prüfung (vgl. Durkheim 1986b: 60, 17). Diese letzte mögliche „Religion der Menschheit“ ist auch unter hochgradig differenzierten Verhältnissen möglich, da sie sich auf das einzige Gemeinsame zu stützen wisse, was noch bliebe, nämlich die „Eigenschaft als Mensch“ (Durkheim 1986b: 63, 21).

Durkheim hat letztlich, so Müllers (1988: 145) Einschätzung, nicht eindeutig gezeigt, wie dieser moralische Individualismus implementiert werden könnte – immerhin lieferte er Ansätze dazu: So sieh er im zweiten Vorwort zur Division die Berufsgruppen als Träger, die gerade entlang der arbeitsteiligen Differenzierung Solidarität erzeugen.Footnote 25 In einem späten Text sieh er die Schule als Ort der Vermittlung einer Individualismus und Solidarität garantierenden Moral (vgl. Wallace 1977: 289).

Mit verschiedenen Rezipienten, wie z. B. Seidman (1985), lässt sich schliessen, dass Durkheim über sein Werk hinweg einerseits von einer Differenzierung der Gesellschaft ausging, andererseits der Religion auch nach diesen Differenzierungsvorgängen eine unentbehrliche Grundfunktion zuschrieb. Über die gesamte Gesellschaft hinweg gesehen ist die Religiosität jedoch gemäss Durkheim nicht immer gleich stark. So attestierte Durkheim seiner Gegenwart eine Zeit der moralischen Mittelmässigkeit, erwartete aber neue kreative Efferveszenzen, die das religiöse Niveau wieder anheben würden (vgl. Durkheim 1994: 572, 610; Seidman 1985: 118).Footnote 26

Für die Rezeption im Hinblick auf die Annahme einer funktionalen Notwendigkeit von Religion ist Talcott Parsons’ Position paradigmatisch (siehe Abschn. 2.4.1.3): Sein Verständnis der Funktion von Religion ist weniger radikal als dasjenige Durkheims, „Gott“ und „Gesellschaft“ auch nur rhetorisch gleichzusetzen lag ihm fern. Doch da für ihn jegliche Formen des Sozialen auf Werten beruhen und diese Werte wiederum auf letzten Werten, die als Religion zu bezeichnen sind, überrascht es wenig, dass auch er eine Vorstellung von Säkularisierung als umfassendem Verlust von Religion ablehnt. Sakralisierung ist für Parsons eine evolutionäre Universalie. So betont er: „the instrumental apparatus of modern society could not function without a generous component of this kind of evaluation“ (Parsons 1974b: 221), wobei er mit dem „instrumental apparatus“ die rationalisierte Wirtschaft bezeichnet, die nicht, wie er gegen Daniel Bell argumentiert, Religion gänzlich hinter sich gelassen habe. Das heisst, nicht einmal die Wirtschaft, geschweige denn die ganze Gesellschaft, könne ohne Religion funktionieren.

Die Relevanz von Religion wird dabei nicht einfach auf das Individuum oder abgesonderte Gemeinschaften verlagert: Sie passe sich den wechselnden Bedingungen der Gesellschaft wie z. B. der steigenden Diversität an und erhalte dabei die Form einer stark generalisierten, offenen religiösen Bewegung. Diese sei nichttheistisch und „this-worldly“, legitimiere aber nicht bloss den Status Quo, sondern werde gerade von Personen der „Gegenkultur“ getragen (vgl. Parsons 1974b: 211–212).

Analog zu Parsons’ Position findet sich die Verbindung eines Durkheimbezugs mit der Auffassung, dass religiösen Traditionen ein wichtiges, ja unentbehrliches Legitimations- und Emanzipationspotenzial in der modernen Welt zukomme, auch bei anderen prominenten Autoren, so z. B. Robert Bellah (siehe Abschn. 5.2.1), Danièle Hervieu-Léger Hervieu-Léger (2000)Footnote 27 oder dem späten Jürgen Habermas (vgl. dazu Dillon 2010: 144). Ob Religion als notwendigerweise vorhanden gesetzt wird oder, wie bei Hervieu-Léger, Defizite der Gesellschaft auf den Verlust der Religion zurückgeführt werden: Im Kern steht eine Funktionszuschreibung, die Religion für die Gesellschaft oder das Individuum als unabdingbar sieht. Bei aller Diversität der Rezeption scheint eine solche Funktionszuschreibung und das Vertreten der Notwendigkeit eines evaluativen Symbolismus mit heiliger Qualität ein breit geteiltes Erbe Durkheims zu sein.

5.1.4.2 Historisch bedingter Rückgang der Relevanz von Religion

In Kontrast dazu stehen Säkularisierungstheorien, die einen umfassenden Relevanzverlust von Religion in der Moderne feststellen. Entsprechende Theorien sind, wie die Argumentationen ihrer bedeutendsten religionssoziologischen Vertreter Bryan Wilson und Steve Bruce zeigen, typischerweise gerade nicht an Emile Durkheim und funktionaler Gesellschaftstheorie orientiert, sondern eher an Max Weber und seinem Fokus auf Handeln, Rationalisierung und Autorität. Dieser verwendete seinerseits den Begriff der „Säkularisation“ bereits in seinem Aufsatz zur protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus. Damit bezeichnet er das zunehmende Verschwinden der religiösen Ursprünge des rationalen kapitalistischen Handelns, hält Säkularisation aber darüber hinaus auch für ein allgemeines Schicksal von „aus religiösen Konzeptionen geborene[n] Erscheinungen in moderner Zeit“ (Weber 1988a: 212). Der Argumentation Steve Bruces (2002) folgend, lassen sich die Faktoren von Säkularisierung wie folgt zusammenfassen:

Differenzierung

Einerseits spricht Bruce (2002: 8) von „structural and functional differentiation“, worunter er mit Verweis auf Parsons die Fragmentierung des Lebens in Rollen und Institutionen versteht. Während in früheren Zeiten Aufgaben wie Erziehung, Wohlfahrt und Gesundheit von Religion ausgeübt worden seien, würden sich unterdessen spezialisierte Institutionen diesen Aufgaben widmen. Unterschiedliche Autoren schreiben dabei unterschiedlichen Teilsystemen die Übernahme einst religiös bestimmter Bereiche zu: So stellt beispielsweise Bourdieu fest, dass in hochdifferenzierten Gesellschaften politische Macht und die Institution des Staates keiner Deckung durch von Religion bereitgestellte symbolische Macht mehr bedürfe und die „Sakralisierung“ der Ordnung selbst vornehmen könne (vgl. Engler 2003). Andere weisen darauf hin, dass die Wirtschaft über Angebote zur Freizeitgestaltung Religion aus dem Leben der Menschen drängt (vgl. Schwinn 2013: 413). Neben solchen Verschiebungen auf der Gesellschaftsebene, die er als „structural differentiation“ bezeichnet, spricht Bruce (2002: 8) auch von „social differentiation“, womit er mit Blick auf die Lebensführung von Individuen die zunehmende Vielfalt der Ordnungen beschreibt, in denen diese stattfindet. Diese Diversität könne nicht mehr durch eine Religion als übergreifendes Dach abgedeckt werden, womit sich diese Ordnungen und Religion nicht mehr wechselseitig plausibilisieren könnten. Dies führt auch zu dem noch zu erwähnenden Relativismus.

Vergesellschaftung

Wie in Abschn. 4.3.2 ausgeführt, wird darunter mit Verweis auf Modernisierungstheorie und klassische Positionen in der Soziologie der Gemeinschaft die Ablösung von gemeinschaftlichen durch gesellschaftliche soziale Beziehungen bezeichnet. Durch diesen Vorgang gewinnen beispielsweise ökonomische Unternehmen an Macht, die über Medien wie Geld genau solche Beziehungen pflegen. Religion, die ihre soziale Basis in der Form von Gemeinschaft hat, verliert, so argumentieren Säkularisierungstheoretiker wie Bryan Wilson (1982: 155) und Steve Bruce (2002: 12–14), an Relevanz für die Individuen.

Rationalisierung

Doch nicht nur veränderte strukturelle Konfigurationen schmälerten diese Plausibilität für Individuen: Einen weiteren Faktor stelle die Rationalisierung dar, wobei für die entsprechende Argumentation Weber eine wichtige Rolle spielt (vgl. Bruce 2002: 29). Rationalisierung entwickle dabei weniger eine Wirkung durch das Entstehen eines frontalen Gegensatzes zwischen religiöser und wissenschaftlicher Weltanschauung, als vielmehr durch die wissenschaftlich ermöglichte Einführung von Technologien. Bruce (2002: 27) nennt als Beispiel die Einführung chemischer Mittel gegen Ungeziefer, das Schafe befällt. Die Effizienz einer solchen Technologie mache es letztlich unnötig, göttliche Hilfe gegen dieses Ungeziefer zu erbitten. Immerhin blieben, so Bruce, letzte Probleme wie der individuelle Tod auch durch solche Technologien ungelöst (vgl. dazu auch: Dobbelaere 1993). Rationalisierung wird auch angesichts der durch sie ausgelösten Hinterfragung religiöser Autorität als säkularisierend gesehen, da diese dadurch an Selbstverständlichkeit und Einfluss verliert (vgl. Luhmann 2000: 292 ff.; Chaves 1994).

Relativismus

Als einen der wichtigsten Faktoren in der Schmälerung der Plausibilität von Religion sieht Bruce (2002: 29) Diversität, erzeugt durch Mobilität und nationalstaatliche Expansion: Der Ausschliesslichkeitsanspruch religiöser Gemeinschaften ist in Frage gestellt. An die Stelle von religiöser Autorität würden Gebote der Toleranz und der Gleichstellung treten. Darunter wiederum leide die Plausibilität religiöser Wahrheiten.

Autoren wie Chaves (1994: 757) und Dobbelaere (1999: 232) betonen die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen, auf denen Säkularisierung stattfinde. Beide differenzieren im Anschluss an herkömmliche Unterscheidungen von Mikro-Meso-Makro zwischen den Ebenen „Individuum“, „Organisation“ und „Gesellschaft“. Auch wenn in der vorliegenden Arbeit eine andere Differenzierung vorgezogen wird (siehe Abschn. 2.8), ist anzuerkennen, dass die entsprechende Unterscheidung gerade für die Frage der empirischen Überprüfung von Säkularisierungsannahmen wichtig ist: Beispielsweise sagt das blosse Vorhandensein von Religiosität auf der Ebene des Individuums noch nichts über die gesellschaftliche Relevanz von Religion aus.

Dies führt zu einer wichtigen Qualifizierung: In der säkularisierungstheoretischen Perspektive geht es nicht darum, das vollständige Verschwinden von Religion festzustellen, sondern die Einschränkung ihrer sozialen Relevanz, also um die „diminution of the social significance of religion“ (Wilson 1982: 149). So sieht Bruce, gemeinsam mit David Voas (2007), individualisierte Religion, die oft mit Begriffen wie „alternative Spiritualität“ oder, enger, „New Age“ gefasst wird und beispielsweise in der Nachfolge Luckmanns als Manifestation einer neuen Sozialform von Religion gesehen wird, als marginales Phänomen an: Es spreche nur einen Bruchteil der früher kirchlich religiösen Menschen an und zeitige kaum soziale Konsequenzen: Ohne gemeinschaftlichen Hintergrund und durch das Ausbleiben einer Einbettung in Institutionen habe diese Form von Religion kaum soziale Relevanz (vgl. Bruce 2002: 59).Footnote 28

5.1.4.3 Luhmann: Funktionale Differenzierung und Reflexivität

Die religionssoziologische Diskussion um Säkularisierung wurde bisher offensichtlich weder von Daten noch über Theorien entschieden: Auf relativ gut messbare Beobachtungen wie diejenige einer Entkirchlichung kann mit dem Verweis auf schwierig quantifizierbare Formen von Religion oder die offensichtliche Bedeutung von Religion als Thema in der Öffentlichkeit geantwortet werden. Gerade wenn es um „gesellschaftliche Relevanz“ geht, ist die Quantifizierbarkeit noch weit weniger gegeben, als wenn man sich damit begnügt, die Religiosität von Individuen zu messen.

Luhmann (2000: 284–285) lenkt die Aufmerksamkeit weg von der Frage des Bestehens oder Verschwindens der Religion und charakterisiert gesellschaftstheoretisch die Bedingungen von Säkularisierung, um dann fragen zu können, wie Religion damit umgeht.

Funktionale Differenzierung

Gemeinsamer Nenner der säkularisierungstheoretischen Position wie auch ihrer Gegenpositionen ist die Annahme einer Differenzierung. Im Hinblick auf Religion sieht Luhmann (2000: 285; siehe auch Abschn. 2.7.2) funktionale Differenzierung als zentralen Faktor von Säkularisierung: Religiöse Kommunikation wird dadurch zum Spezialfall von Kommunikation. Mit Ausnahme des Teilsystems der Religion macht es für alle anderen funktional ausdifferenzierten Teilsysteme wenig Sinn, sich auf Religion zu beziehen, ihre Codes, ihre Probleme und ihre Funktionen liegen in anderen Bereichen. Die Entsprechung zwischen Religion und Gesellschaft, die einmal sehr gross war – „Ihre ursprüngliche Sicherheit hatte die Religion in der Gesellschaft selbst.“ (Luhmann 1989a: 259) – wird durch Differenzierung aufgehoben. Entsprechend bedeutet Säkularisierung für Luhmann die Einschränkung von Religion auf ihr funktionales Teilsystem, das heisst, Religion stellt kein „Dach“ über die gesamte soziale Ordnung dar, sondern behandelt bloss ein spezifisches Problem. Diese Einschränkung bedeutet aber keine Abwertung gegenüber anderen Funktionssystemen: Den anderen Systemen gehe es genauso. Die jeweilige Funktion hat Priorität im jeweiligen Funktionssystem und kann per definitionem nicht von anderen Teilsystemen übernommen werden (vgl. Luhmann 1998: 747). Funktionale Differenzierung bedeutet gleichzeitig eine Spezifizierung als auch eine Beschränkung von Zuständigkeit. Der Religionssoziologe Dobbelaere (1999: 231) folgt Luhmann, wenn er schliesst: „secularization is only the particularization of the general process of functional differentiation in the religious subsystem“. Mit Krech (2013: 105) könnte sogar geschlossen werden, dass diese eindeutige Zuschreibung von Zuständigkeit die Position von Religion in der Gesellschaft auch stärkt.

Kultur

Zweiter Aspekt ist die zunehmende Identifikation von Religion als „Kultur“. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommt, so Luhmann, ein neuer Begriff von „Kultur“ auf. Entscheidend dafür war die Ausdehnung räumlicher und zeitlicher Horizonte und das Registrieren zahlreicher Verschiedenheiten, die nicht mehr mit einfachen Unterscheidungen wie Christen-Heiden, Zivilisierte-Wilde usw. gefasst werden konnten. Regionale und historische Vergleiche treten an ihre Stelle. „Kultur“ bezieht sich damit auf sich selbst und wird als menschheitsuniversales Phänomen gesehen, von dem ausgehend alles betrachtet wird und in einen Vergleich überführt werden kann. Wird nun Religion als „Kultur“ gesehen, verliert sie den Charakter des unbedingt Gegebenen und kann als Produkt des menschlichen Lebens thematisiert werden. Eisenstadt bringt eine ähnliche Beobachtung mit Reflexivität in Zusammenhang und verortet sie im Kern des Programmes der Moderne:

„The reflexivity that developed in the modern program focused not only on the possibility of different interpretations of transcendental visions and basic ontological conceptions prevalent in a society or societies but came to question the very givenness of such visions and of the institutional patterns related to them.“ (Eisenstadt 2006: 9)

Mit Luhmann lässt sich dabei auch die Forderung Lashs aufgreifen, Reflexivität nicht nur auf Wissenschaft und Politik anzuwenden, sie wird über „Kultur“ auch auf Religion angewandt. Gerade diese Möglichkeit der Wiederbeschreibung von Beschreibungen führten dabei:

„(\(\ldots \)) zu einem mühsamen Kult der Unmittelbarkeit, der Authentizität, der Echtheit, der Identität, die ihre eigenen Versprechungen nicht einlösen können, weil sie wiederum nur Kulturbegriffe sind.“ (Luhmann 2000: 311)

Diese Reflexivität hat auch Folgen für die Zugehörigkeit der Individuen zu religiösen Gemeinschaften:Footnote 29 Religion wird zur Option und auch das ist wiederum erkennbar. Die Vorstellungen der Individuen von der Welt werden nicht mehr notwendigerweise von Religion bestimmt. Das führt nicht ausschliesslich zu einer Verringerung von Religiosität, sondern kann auch zu einer verstärkten Betonungen von Religion führen. Individuelles Erleben und individuelle Überzeugungen werden für Religion umso entscheidender – aus „Bindung ist ‘commitment’ geworden“, schliesst Luhmann (2000: 292).

5.1.5 Rituale und Moderne

Die wissenschaftliche Erfassung der Gesellschaft als moderne Gesellschaft ist für die Konstitution der Soziologie entscheidend. Die Frage nach sozialer Ordnung wird angesichts moderner Verhältnisse, die diese Problematik triftig machten, überhaupt erst gestellt (vgl. Seidman 1985: 109). Ein sich auf Bourdieu einerseits und philosophische Autoren andererseits stützender praxistheoretischer Ansatz steht der modernisierungstheoretischen Diskussion aber eher fern. Mit entsprechenden Anschlüssen wird die um einen ahistorischen Typus wie Praxis angelegte Theorie um ein diachron argumentierendes Konzept erweitert.

Die als Kernelemente von Modernisierung identifizierten Vorgänge der Differenzierung und Rationalisierung führen dazu, dass die Gesamtheit der Ordnung moderner Gesellschaft nicht mehr von einem Korpus religiöser Rituale und Glaubensvorstellungen bestimmt wird, wie es in Durkheims Formes der Fall war. Auch eine temporäre Herstellung einer die soziale Ordnung „Gesellschaft“ abdeckenden Einheit durch Rituale scheint fraglich. Differenzierung und Diversität führen andererseits aber auch dazu, dass nicht zu erwarten ist, dass religiöse Rituale universal verschwinden. So finden sich, wie im Kap. 4 zu den Gemeinschaften gesehen, innerhalb der Gesellschaft unterschiedliche soziale Ordnungen, die durchaus religiös-rituell bestimmt sein können.

Auch ein Theoretiker, der wie Giddens eine Praxistheorie mit Modernisierungstheorie verbindet, sieht unter modernen – er spricht von „spätmodernen“ – Bedingungen Tradition und Rituale fortbestehen: Traditionen könnten diskursiv artikuliert und gegen reflexive Herausforderungen verteidigt werden. Und unhinterfragte, „formulaic truth“ kann beschworen werden, wenn eine Vergangenheit für die Inszenierung von Tradition bemüht wird – eine Inszenierung, die insbesondere auch rituell geschehen kann (vgl. Giddens 1994: 103). So ist auch mit Jeffrey Alexander (2006: 51) gegen ein Rationalisierungsverständnis, wie es sich bei Habermas findet, einzuwenden, dass Moderne nicht von einem entzaubernden und entzauberten Diskurs bestimmt werde. Gerade in Phasen verstärkten Wandels sei, so betont David Cheal (1992: 366), eine Reritualisierung des sozialen Lebens zu beobachten. Rituale können damit Bedeutungen erzeugen oder verstärken, so z. B. die Unterscheidung in Feiertage und Alltag (vgl. Cheal 1992: 367). Auch personale und soziale Identitäten würden weiterhin aus Ritualen geschöpft.

Nicht nur in der Ausseralltäglichkeit öffentlicher Debatten oder spektakulärer Grossereignisse kann weiterhin mit Ritualen gerechnet werden: Daneben erwartet Giddens auch, dass Ritualisierung zur Standardisierung von sozialen Interaktionen (z. B. bei Begrüssungen) wichtig ist und Rollen stabilisiert (vgl. Giddens 1994: 103). Auch mit Bourdieu (1987a: 321, 351) ist in modernen Verhältnissen mit einer Ritualisierung des Alltags zu rechnen. Gerade alltägliche bürgerliche Zusammenhänge seien ritualisiert (formelles Essen, Anzug, Luxusgefährt).

Die Ausführungen zur Modernisierung bieten die Ausgangslage dafür, die Spezifität der sozialen Ordnung moderne Gesellschaft zu fassen. Während sie einerseits eine Einschränkung der Relevanz von religiösen Ritualen vermuten lassen, so doch andererseits nicht ihr Verschwinden. Die Frage bleibt, inwiefern diese Rituale die soziale Ordnung moderner Gesellschaft bestimmen. Zwei Argumentationslinien, die religiösen Ritualen einen Einfluss auf moderne Gesellschaft zuschreiben, sollen im Folgenden diskutiert werden: In der ersten, der sich Abschn. 5.2 widmet, wird Gesellschaft als gemeinschaftsähnlich thematisiert und in entsprechender Analogie auch die Rolle von Religion und Ritual gesehen. Der zweite, in Abschn. 5.3 verfolgte Argumentationsstrang, sieht die Sozialform der Gesellschaft nicht mehr als derjenigen der Gemeinschaft ähnlich. Konstitutiv für die soziale Ordnung sei vielmehr das Individuum; entsprechend wird nach der Rolle von religiösen Ritualen in der Disziplinierung und Pflege des Individuums gefragt.

5.2 Gesellschaft als Gemeinschaft

Die erste Erklärung für den Zusammenhang zwischen religiösen Ritualen und der sozialen Ordnung der Gesellschaft wendet Durkheim für die gemeinschaftlichen Zusammenhänge bei den Aborigines entwickelte Argumentation der Formes auf das Explanandum an: Das Zusammenspiel von Glaubensvorstellungen und Ritualen erzeuge auch für die Gesellschaft Gleichheit und Solidarität. Eine entsprechende Positionierung findet sich am prominentesten im Verständnis von Zivilreligion, das Robert N. Bellah formuliert hat. Dieses gilt es in einem ersten Schritt zu rekonstruieren und dann, da es Gesellschaft über den Nationalstaat fasst, auf ein darüber hinaus gehendes Verständnis von Gesellschaft als Weltgesellschaft hin zu erweitern. Solche Erklärungsmuster, die Gesellschaft gewissermassen als Gemeinschaft fassen, werden in einem weiteren Schritt kritisch diskutiert.

5.2.1 Strukturfunktionalismus und Zivilreligion

5.2.1.1 Religion de l’humanité bei Durkheim

Das Konzept der Zivilreligion wird meist mit Robert N. Bellah in Verbindung gebracht, dessen Position sich als Fortsetzung einer durkheimianisch angeleiteten Thematisierung der Frage nach gesellschaftlicher Ordnung unter modernen Bedingungen verstehen lässt. Bellah verweist in seinem ersten Text zu Zivilreligion, aber auch in späteren Beiträgen, wiederholt auf Durkheim und bezeichnet ihn sogar als „high priest and theologian of the civil religion of the Third Republic“ (Bellah 1973: x).Footnote 30 Dabei weist er darauf hin, dass Durkheim bei dieser Thematik nicht bei der Analyse stehen blieb, sondern eigene Vorschläge für diese Zivilreligion machte, also religionsproduktiv wurde. Auch darin tat es Bellah ihm gleich.

Durkheim spricht nicht von „religion civile“, einem Ausdruck, der auf Rousseau zurückgeführt werden kann, sondern beispielsweise von „religion de l’humanité“ oder „culte de l’homme“. Was Durkheim dabei genau unter diesen Bezeichnungen verstand und einforderte, ist umstritten, gerade unter sozialphilosophischen oder theologischen Gesichtspunkten (vgl. z. B. die Diskussion bei Prades 1993). In soziologischer Hinsicht lassen sich jedoch einigermassen klare Konzepte identifizieren, die für die Analyse der Zivilreligion bei ihm und seinen Nachfolgern wichtig wurden.

Zunächst ist dies das bereits ausführlich diskutierte funktionale Verständnis von Gesellschaft, das sowohl die normative als auch die soziologisch-deskriptive Perspektive prägt: Wie in der Diskussion um Säkularisierung bereits erwähnt, sakralisieren sich gemäss Durkheim auch in der Moderne soziale Ordnungen via Symbole und Riten. Dieser seiner Meinung nach ubiquitäre Vorgang kann jedoch, genauso wie die soziale Ordnung, die ihn hervorbringt und auf die er sich bezieht, verschiedene Formen annehmen.

Zentral für die Art und Weise, wie Religion für Durkheim und Neodurkheimianer wie Bellah in einer in verschiedener Hinsicht differenzierten Gesellschaft funktionieren kann, ist die Idee einer zunehmenden Transzendenz religiöser Symbole, die bereits im Abschnitt zur Rationalisierung erwähnt wurde und die sich in der Division wie auch in den Formes findet: In Letzteren weist Durkheim (1994: 570, 609) auf die soziale Generalisierung der Vorstellung von Göttern hin. So sei der Kontakt zwischen verschiedenen australischen Stämmen von der Entstehung allgemeiner Gottheiten begleitet, die nicht einem einzelnen Stamm zuzuordnen sind. Mit dem Wandel sozialer Beziehungen verändern sich also auch die religiösen Symbole. Und zwar werden sie umso allgemeiner, je stärker sich die Beziehungen von der lokalen Gemeinschaft lösen. Die Symbole lösen sich dabei in arbeitsteiligen Gesellschaften auch immer mehr von konkreten Gegenständen und anderen Verankerungen ans Diesseits (vgl. Durkheim 1992: 349 f., 273).

Nicht immer klar ist bei Durkheims Ausführungen, auf was für eine Art soziale Ordnung sie sich beziehen: Durkheim bezeichnet die von Religion zu integrierende Ordnung jeweils als „société“, also Gesellschaft, schreibt diesem Begriff jedoch unterschiedliche Reichweite zu. So sind es bei den Aborigines in den Formes eher „Stammesgesellschaften“, anderswo meint er modernere Zusammenhänge:

„(\(\ldots \)) there is much fluidity in Durkheim’s work with respect to the concept of ‘society.’ At times he clearly used the term to refer to concrete, territorially-based societies, at other times he employed the concept to refer generically to human society (a distinction of which Rousseau had been particularly fond).“ (Robertson 1977: 289)

Auch hinsichtlich der Grenzen von Gesellschaft und ihrer Religion unter modernen Bedingungen finden sich bei Durkheim unterschiedliche Verständnisse: Er spricht von einer nationalen Zivilreligion wie auch von einem nicht-exklusiven Patriotismus, der nicht einer bestimmten Nation verpflichtet ist. Dabei sei er zwar davon ausgegangen, darauf weist Wallace (1977: 289) hin, dass der auf die Nation bezogene Patriotismus schliesslich von einer internationalen „religion de l’humanité“ abgelöst würde. So schreibt er in den Formes (Durkheim 1994: 391, 413), dass die religiösen Vorstellungen die Tendenz hätten, sich nicht nur auf eine politisch definierte Gesellschaft zu beschränken, sondern sich zu internationalisieren. Schliesslich habe er aber weit mehr über nationale als über universale Werte geschrieben, was, so die einleuchtende Vermutung von Wallace, auf die hohe Prominenz von Nation im Europa vor und während des Ersten Weltkrieges zurückzuführen sei.

5.2.1.2 Zivilreligion in den USA

Parsons und die Civic Religion

An Durkheim zumindest erinnernde Annahmen wurden schon früh integraler Bestandteil des Parsonsianischen Strukturfunktionalismus – so auch im für ein funktionalistisches Differenzierungsverständnis paradigmatischen und höchst einflussreichen Text der Parsons-Schüler Kingsley Davis und Wilbert E. Moore (1945: 246):Footnote 31

„Even in a secularized society some system must exist for the integration of ultimate values, for their ritualistic expression, and for the emotional adjustments required by disappointment, death, and disaster.“

Talcott Parsons führt eine entsprechende Konzeption in seiner Auffassung zur Funktion der Religion weiter (siehe Abschn. 2.4.1.3). Bemerkenswert ist, dass Parsons es zu vermeiden versucht, gemeinschaftliche Einheit vorschnell als Heilmittel gegen gesellschaftliche Differenzierung zu sehen:

„There is a distressing tendency among today’s intellectuals to posit return to a relatively primitive level of Gemeinschaft as the only remedy for what are so widely held to be the malaises and the moral evils of contemporary society.“ (Parsons 1977a: 58; Hervorhebungen im Original)Footnote 32

Parsons sucht deshalb sowohl das utopische Gemeinschaftsideal des 19. Jahrhunderts als auch das skeptische Bild von Modernisierungstheorien des 20. Jahrhunderts zu überschreiten und gleichzeitig der neodurkheimianischen Notwendigkeit gesellschaftlicher Integration durch „ultimate values“ gerecht zu werden (vgl. Gerhardt 2001: 178). Gesellschaft ist zwar differenziert und insofern keine Gemeinschaft, aber gleichzeitig über geteilte Werte und Normen und Rollen integriert, weshalb Parsons von einer „gesellschaftlichen Gemeinschaft“ (societal community) spricht. Wie in den Ausführungen im Abschn. 2.6.2.3 gesehen, dienen Begriffe wie „Integration“ oder „Internalisierung“ dazu, die Vermittlung der Differenzierung der sozialen Welt in Richtung Einheit fassen zu können. Das psychische System des Individuums, aber auch kollektive Akteure müssten unter Bedingungen differenzierter sozialer Systeme normative Gesichtspunkte, die im kulturellen System organisiert sind, übernehmen.Footnote 33

Im Rahmen einer Kontrollhierarchie sind alle gesellschaftlichen Rollen und Interaktionen einem gemeinsamen Dach von Werten unterstellt. Hinsichtlich der Letztbegründung solcher Werte kommt dabei notwendigerweise Religion ins Spiel, wie auf Abschn. 2.6.2.2 gezeigt wurde. In „primitiven Gesellschaften“ sei Religion dabei noch mit anderen Aspekten von Gesellschaft eng verbunden gewesen, diese enge Verknüpfung habe sich aber in modernen Gesellschaften zu komplexen Verbindungen und Spezialisierungen gewandelt. Auch unter diesen Bedingungen, die durch die gegenseitige Ausdifferenzierung des kulturellen und des sozialen Systems geprägt seien, behalte Religion ihre konstitutive Funktion für die Gesellschaft, betont Parsons (1975: 23). Wie das soziale System durchlaufe auch das kulturelle einen Differenzierungsprozess, und diese Differenzierung sieht Parsons (1974b: 223) nicht als weiteres Problem für die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung, sondern als Weg dahin: Eine diversifizierte religiöse Landschaft sei eine Bedingung dafür, dass Religion überhaupt dem strukturellen Pluralismus und Individualismus der amerikanischen Gesellschaft gerecht wird:

„This religious pluralism, or extended ecumenism, if the term is appropriate, seems to me the only possible system that would be congruent with the structural pluralism of American society and the relation of that to its emerging pattern of individualism.“ (Parsons 1974b: 223).

Dass Parsons „Pluralismus“ mit „Ökumene“ bezeichnet, weist darauf hin, dass ihm ein ziemlich einträchtiges Nebeneinander verschiedener religiöser Traditionen vorschwebte. Dabei denkt er jedoch nicht an eine übergreifende Organisation und auch nicht an gänzlich individualisierte Verhältnisse einer gänzlich vergesellschafteten Gesellschaft, sondern an relativ offene religiöse Assoziationen, die Teil einer breiteren Bewegung sind. Diese Bewegung, Parsons nennt sie „the new religion of love“, müsse dabei, im Gegensatz zu entsprechenden marxistischen Erwartungen, auch nicht auf Individualismus verzichten. Dem Individuum werde in struktureller und semantischer Hinsicht Selbständigkeit zugesprochen, Beruf, Ehepartner, aber auch Religion können frei gewählt werden. Die jeweiligen Institutionen sind durch voluntaristische Verbindungen in Form freiwilliger Assoziationen geprägt.Footnote 34 Die Individuen institutionalisieren im Rahmen dieser Assoziationen die dahinter stehenden allgemeinen Werte und werden so zu moralischen Instanzen, die die Moralität der Gesellschaft gewährleisten.

Das auf Durkheim rückführbare und bereits in den 1950er Jahren von Parsons stark gemachte Konzept der Wertgeneralisierung steckt im Kern dieses Modells. Dass er es in seinen späten Texten nicht nur mit einer Systemtheorie, sondern auch einer Theorie der Interaktionsmedien, das heisst den „Einflussmitteln“, verknüpfte, trug zu seiner Komplexität bei und blieb möglicherweise auch deswegen wenig beachtet. Dabei halten einige KommentatorInnen die Lösung von Parsons für besonders gelungen, da sie Einheit und Differenzierung zusammen bringe:

„This long underestimated theory fits the triad of capitalism, political freedom, and ethnic identity that is the hallmark of today’s transitions in world society.“ (Gerhardt 2001: 178)

Hinsichtlich dieser Komplexität des Zusammenspiels von Religion, Werten, Individuen und verschiedenen gesellschaftlichen Sphären scheint die Zivilreligionstheorie von Bellah ein Rückschritt zu sein, der eher an den Parsons der frühen fünfziger Jahre und ein relativ basales Konzept von „Wertgeneralisierung“ erinnert. Sie wurde jedoch, im Gegensatz zu Parsons’ eigenem Konzept, höchst einflussreich.

Bellahs frühe Theorie der Zivilreligion

Den bekanntesten Beitrag zur Frage nach gesellschaftlichem Zusammenhalt in durkheimianischer und normativ funktionalistischer Tradition stellt der 1967 erschienene Text „Civil Religion in America“ von Robert N. Bellah dar. Am Anfang seiner Entstehung, so schreibt Bellah (2005: 137), stand Parsons, der ihn, eigentlich Experte für Japan, zu einem Beitrag für eine Konferenz zur Rolle von Religion in den USA aufgefordert hat. Die Grundidee dafür sei schon 1961, kurz nach der Amtseinführungsrede John F. Kennedys entstanden, wobei die Veröffentlichung von 1967 zusätzlich von den Diskussionen um den von Bellah kritisch beurteilten Vietnamkrieg beeinflusst wurde. Auch wenn Bellah selbst und auch seine Rezipienten in den folgenden Jahrzehnten das Konzept der „Zivilreligion“ verschiedentlich modifizieren sollten, finden sich die Grundbestandteile bereits in diesem ersten Text:

  1. 1.

    Zivilreligion schliesst an eine politische Ordnung an. Zivilreligion ist jedoch nicht Politik, sondern Religion, was an Transzendenzbezügen erkennbar ist – in Bellahs Beispiel u. a. der Referenz auf „Gott“. Bellah vermutet sogar im Anschluss an Richard Niebuhr, dass die Führer der Zivilreligion auf derselben Stufe „von religiösem Verständnis“ (Bellah 1986: 31) stünden wie die Kirchenväter. Das Konzept der Zivilreligion vereine aber notwendigerweise religiöse und politische Bezüge (vgl. Cristi und Dawson 2007: 284).

  2. 2.

    Zivilreligion steht nicht in exklusiver Verbindung mit einer bestimmten institutionalisierten religiösen Tradition. Ihre Elemente können auf verschiedene Traditionen zurückgeführt werden, werden aber nicht von den Vertretern dieser Religion verwaltet.

  3. 3.

    Zivilreligion steht nicht in Konkurrenz mit anderen Formen von Religion. Dies, so Bellah (1967: 13), sei zumindest in den USA so, in Frankreich hätten dagegen antiklerikale Bewegungen versucht, eine antichristliche Zivilreligion aufzubauen, was zu einer Konfrontation mit nachhaltigen Auswirkungen führte.

Zivilreligion besteht, wie Bellah (1976: 155–156) später präzisierte, in einer „general civil religion“, die gewissermassen eine Religion des grössten gemeinsamen Nenners der bedeutenden religiösen Traditionen eines Kontextes darstelle, und aus einer „special civil religion“, die sich aus nationsspezifischen, nicht-religiösen Referenzen wie z. B. Unabhängigkeitserklärungen usw. zusammensetze.

Die Amtsantrittsrede John F. Kennedys ist das Referenzbeispiel für Bellahs frühes Verständnis von Zivilreligion. In dieser Rede wird ausführlich auf „Gott“ verwiesen (vgl. Bellah 1986: 21), ein Konzept, das fast alle Zuhörer akzeptieren konnten. Weiter ist darin von einem auserwählten Volk die Rede, das einen Bund (covenant) mit Gott geschlossen hat (vgl. Bellah 1986: 26), Kennedy spricht auch von einem „amerikanischen Israel“ (vgl. Bellah 1986: 32). Dabei finden sich jedoch keine Bezugnahmen auf spezifische religiöse Traditionen, also beispielsweise keine Verweise auf Jesus Christus (vgl. Bellah 1986: 26), stattdessen Referenzen auf Personen, denen in der Geschichte des Landes eine herausragende Rolle zugeschrieben wird, so insbesondere Abraham Lincoln (vgl. Bellah 1986: 29).

In der Zivilreligion spielten darüber hinaus einerseits Texte wie die Unabhängigkeitserklärung oder die Gettysburg Address eine wichtige Rolle, andererseits spezifische Orte, wie z. B. Gettysburg oder der Militärfriedhof in Arlington. Zudem gäbe es regelmässig stattfindende Rituale wie Thanksgiving, Memorial Day oder die Antrittsreden amerikanischer Präsidenten (vgl. Bellah 1986: 30), in denen diese Religion gefeiert und plausibilisiert wird.

Kontextualisierung des Konzepts

Bellahs Konzept wurde Gegenstand ausführlicher Diskussionen, wobei insbesondere die Frage danach, ob es so eine Religion tatsächlich gibt und wie sie gemessen werden könnte, im Zentrum stand (vgl. z. B. Wimberley 1979). Für die vorliegende Analyse grundsätzlicher als diese empirischen Fragen scheint diejenige danach, inwiefern ein entsprechendes Konzept hilft, die Strukturierung moderner Gesellschaft durch religiöse Rituale zu verstehen. Zudem ist die theoretische Verortung von Bellahs Verständnis von Zivilreligion zu klären.

Bellah wendet ein Konzept an, das Parsons als Wertgeneralisierung bezeichnet, und, Durkheim aufgreifend, als kulturelle Anpassung an ein immer stärker differenziertes soziales Ganzes versteht. Zivilreligiöse Symbole sind hochgradig generalisiert. Eine Allgemeinheit die, so betont Bellah (1976: 153), fast schon zur Inhaltsleere führen könne. Gleichzeitig erfüllt sie eine Bedingung dafür, dass es, wie Bellah (1976: 155) für den Fall der USA betont, nur eine Zivilreligion gibt. Auch wenn es verschiedene „public theologies“ und Parteien wie Republikaner und Demokraten gäbe, stehe letztlich dahinter eine Religion. Bellah postuliert explizit nicht, dass alle diese Religion teilen, aber doch immerhin, dass auf dieser Stufe der Allgemeinheit keine Alternativen vorhanden sind.

Schwieriger scheint die Zuordnung zum Funktionalismus: Bellah (1976: 154) weist explizit die Unterstellung von sich, er vertrete eine funktionalistische Perspektive auf Religion. Tatsächlich arbeitet er nicht mit Funktionskatalogen und scheint die Notwendigkeit von Zivilreligion auch nicht theoretisch zu deduzieren. Zudem räumt er die Möglichkeit ein, dass die bestehende Zivilreligion der USA verschwinde, interessanterweise aber lässt er darauf die nicht begründete und durchaus funktionalistisch anmutende Aussage folgen, dass in diesem Fall wohl eine andere Zivilreligion an die Stelle der alten treten würde.Footnote 35 Auf jeden Fall traut Bellah in der Folge Durkheims jedoch Religion explizit viel zu, mehr als beispielsweise Habermas (vgl. Müller 1988: 130), stellt letztlich doch eine Notwendigkeit von Zivilreligion fest und folgt der „sociological idea that all politically organized societies have some sort of civil religion“ (Bellah zitiert in Cristi und Dawson 2007: 28).

An Durkheim erinnert auch die Nähe von Analyse und normativen Vorschlägen. Bellahs Text wurde zu einem für die Zivilreligion, also ihren eigentlichen Gegenstand, konstitutiven Text und stellt einen unverhohlen normativen und seinerseits zivilreligiösen Beitrag dar.

„Whether it was praised or criticized, in a few years BCR [Bellah’s civil religion, Anm. RW] had acquired an almost totemic character as a contemporary Durkheimian description of America’s sacred common values.“ (Bortolini 2012: 193)

Während Bellah selbst, wie eben gezeigt, Durkheim als Theologen der Zivilreligion der Dritten Republik identifizierte, verwehrt er sich selbst gegen Unterstellungen, seine Position sei „theologisch“. Zivilreligion sei real existierend, nicht bloss ein analytisches Konzept oder eine normative Forderung (vgl. Bellah 1976: 153). Immerhin sieht es Bellah aber als wissenschaftliche Pflicht an, aus einer Analyse, die feststellt, dass die bestehende Ordnung prekär ist, Warnungen abzuleiten und damit an die Öffentlichkeit zu treten (vgl. Bellah 1976: 157). Als Vorbild dafür verweist er auf Durkheim, der in der Verletzung der Freiheit und der Rechte von Dreyfus die „civil religion of the Third Republic“ (Bellah 1976: 158) als gefährdet gesehen habe und deshalb politisch aktiv geworden sei.

Hinsichtlich der Rolle von Dissens und Konflikt sowie der positiven Einschätzung der gegenwärtigen Lage finden sich bei Bellah andere Betonungen als bei Talcott Parsons: „When I differ with Parsons about the description of basic American values it is not the categories that I challenge, but only the way they are applied“, schreibt Bellah (2005: 146). Gerade den Optimismus von Parsons, der sich nicht zuletzt in der Annahme einer Unumgänglichkeit der Erfüllung von für die soziale Ordnung unentbehrlichen Funktionen zeigt, teilt Bellah nicht. Die Feststellung einer Krise der Zivilreligion war für ihn sogar ein Ausgangspunkt der Formulierung seines Textes. Das heisst, Zivilreligion nimmt zwar eine wichtige Funktion für die Solidarität ein, ist aber nicht immer gleichermassen vorhanden, weshalb Gesellschaft entsprechend besser oder schlechter funktioniert. Deshalb ruft Bellah zu einer Reform der herrschenden Werte seiner Zeit und einer Rückbesinnung auf die Zivilreligion auf. Was an Parsons also als Konservativismus kritisiert wurde (siehe Abschn. 2.4.2), scheint bei Bellah ein Appell für Veränderung zu sein – allerdings dient auch ihm als Ideal die als althergebracht postulierte Zivilreligion.

Immerhin weist Bellah der Spannung zwischen zivilreligiösem Ideal und Realität eine grosse Bedeutung zu: Er geht nicht davon aus, dass die gesamte Bevölkerung der Zivilreligion folgt und er sieht Auseinandersetzungen um die Zivilreligion auch als Ausgangspunkt für Konflikte. Mathisen (1989: 140) charakterisiert Zivilreligion gar als „resilient, episodic, and dualistic“, was auf eine diskontinuierliche Präsenz und Wirkung von Zivilreligion in der Strukturierung sozialer Ordnung hinweist.

Grenzziehungen

Die Schwierigkeiten des Konzepts der Zivilreligion liegen auch im grundlegenden Problem begründet, dass deren Werte sehr allgemein sein müssen, um über ein durch Diversität geprägtes soziales Ganzes hinweg inklusiv zu sein. So ist beispielsweise das Verständnis von Gott sehr allgemein gehalten. Damit wird, wie auch Parsons (1964b: 293) bemerkte, die Frage nach der Geltung der Zivilreligion zentral: Der hohe Grad an Allgemeinheit führt zu einer grossen Vieldeutigkeit und so ist es fraglich, wie sich darauf eine Einheit gründen kann. Ein Weg, solche Probleme möglicherweise zu umgehen, ist es, den Blick statt auf Inhalt und Einheit auf Form und Differenz zu legen und sich dem boundary-making zuzuwenden:

Dass Präsidenten wie Lincoln und Kennedy als zentrale zivilreligiöse Symbole installiert werden konnten, obwohl die Einschätzung hinsichtlich ihrer politischen und persönlichen Qualitäten in der Bevölkerung zunächst sehr divergent war, weist darauf hin, dass die Abgrenzung von einem Akt wie dem Präsidentenmord einen gemeinsamen Nenner darstellen kann. Deshalb scheint es vielversprechend, auch Abgrenzungen, nicht nur positive Identifikationen, in den Blick zu nehmen, wenn Gesellschaft sich als Gemeinschaft zelebriert (siehe Abschn. 4.1.3). Anstatt zu schauen, wie ein religiöser Grundkonsens inhaltlich gefüllt wird, machen Edgell, Gerteis und Hartman (2006) auf eine Grenzziehung, nämlich diejenige zwischen Religion und Nicht-Religion aufmerksam, die eine hohe konsensuale Kraft in den USA habe. Den Blick auf Grenzziehung begründen sie dabei u. a. mit einem Verweis auf Durkheims Division, in der er festgehalten habe, dass Solidarität immer auf symbolischen Grenzen zwischen Innen- und Aussenseitern beruhten (vgl. Edgell et al. 2006: 229).

Dem Atheisten werde in den USA die Rolle des Aussenseiters zugewiesen, wobei er dabei keine Rolle als Interaktionspartner inne habe, sondern „as a boundary-marking cultural category“ (Edgell et al. 2006: 230) fungiere. Die zahlenmässig schwache und nicht als Einheit operierende Gruppe der Atheisten – explizit zum Atheismus bekennen sich in den USA nur 1 %, im weiteren Sinne zu den Agnostikern 7 % (vgl. Edgell et al. 2006: 214) – wird als „symbolic other“ gesehen und ihr wird von einer Mehrheit Ablehnung entgegengebracht: Weder als mögliche Präsidenten, noch als potenzielle EhepartnerInnen sind sie gerne gesehen, wobei die entsprechenden Werte, so können Edgell et al. (2006: 218) belegen, weit höher als die Ablehnung von Muslimen ist. Die Ablehnung ist dabei bei Mitgliedern religiöser Gemeinschaften noch grösser als bei Nicht-Affiliierten. Die Autoren bezeichnen diese Grenzziehung insofern als symbolisch, als sie sich nicht aus Interaktionserfahrungen speist oder direkt in diese mündet, was jedoch nicht bedeutet, dass sie weniger ernsthaft oder real sind, da sich auch daraus Konzepte von „cultural membership“ speisen (vgl. Edgell et al. 2006: 220). In zusätzlich zur quantitativen Studie durchgeführten qualitativen Interviews zeigt sich, dass mit Atheismus von manchen Amoralität, Gefährdung der Gemeinschaft und tiefer Status assoziiert wird, von anderen ein Materialismus und Elitarismus, der die gemeinsamen Werte gefährde (vgl. Edgell et al. 2006: 220).

Es findet also eine symbolische Grenzziehung statt, die sich an Religion orientiert und Ein- und Ausschluss herstellt: „Americans construct the atheist as the symbolic representation of one who rejects the basis for moral solidarity and cultural membership in American society altogether.“ (Edgell et al. 2006: 230). Die Bezeichnung von Aussenseitern, so die Autoren mit Verweis auf Anderson, sei eine notwendige Bedingung für die Herstellung einer symbolischen Grenze und diese ein wichtiger Faktor in der Herstellung von Solidarität:

„The symbolic boundaries drawn around atheists help us to understand the problem of moral solidarity in a diverse society. They point to a specific cultural content, and to a specific historical and institutional basis for the intersection of religion, morality, and models of the public and the private good. They shed light on the shared or fractured nature of cultural membership, and also on the content of the culture that is shared“ (Edgell et al. 2006: 229)

Die Autoren weisen auf den Durkheim der Division hin, bei dem sie ebenfalls die Betonung der Notwendigkeit symbolischer Grenzziehungen ausmachen, und auch auf Alexanders Charakterisierung des „citizen“ als moralische Kategorie. Diese Grenzziehung basiere auf einem Verständnis von Gesellschaft, das sie als „covenant“, also als Bund mit Gott sieht (vgl. Edgell et al. 2006: 229) – was stark an Bellahs Zivilreligion erinnert. Dabei wird dieser Bund nicht auf eine spezifische religiöse Tradition bezogen, auch wenn er sich daraus speise. Die von Edgell und ihren Mitautoren festgestellte Abgrenzung ist nicht besonders stark durch konservative Protestanten geprägt, sondern überschreitet die Grenzen religiöser Traditionen.

Das kann nicht ohne Weiteres verallgemeinert werden: Die Positionierung von Religiosität und Nicht-Religiosität unterscheidet sich von Kontext zu Kontext grundlegend, wobei die Ausgrenzung von Nicht-Religiosität sich in Indien, Südafrika und den USA findet (vgl. Wohlrab-Sahr und Kaden 2013: 191). Aber auch in den USA sei die Rolle der „Anderen“ auch schon Kommunisten, Juden oder Katholiken zugeschrieben worden (vgl. Edgell et al. 2006: 230) – das heisst, in europäischen Ländern spielen möglicherweise andere „Andere“ dieselbe Rolle, beispielsweise Muslime. Zudem zeigen neuere Daten, dass auch in den USA die Muslime als Objekt der Ausgrenzung die Atheisten eingeholt haben (vgl. Edgell et al. 2016). Das Objekt der Abgrenzung ist also austauschbar, die Frage ist, ob die Abgrenzung wie im Fall der Zivilreligion religiös ist.

Die Abgrenzung von Atheisten könnte als religiös gesehen werden, da sie eine gewisse „Grundreligiosität“, also Transzendenzbezüge von einem Mitglied der Gesellschaft einfordert. Edgell et al. (2006: 229) unterscheiden zwischen dem covenant und dem contract-Modell. Ersteres basiert auf der Idee eines Bundes mit einem „higher being“, während die zweite Idee darauf verzichtet und Moral und Solidarität in zwischenmenschlichen Beziehungen begründet sieht. Dass der covenant in den USA und bei der Ablehnung von Atheismus wichtig ist, weist auf die Religiosität der Abgrenzung hin.

Zivilreligion und Ritual

Auch wenn er in seinem Einbezug der Antrittsrede John F. Kennedys und der Gettysburg Address von Lincoln eher die Semantiken als die Ritualisierung der Kommunikation untersucht, legt Bellah eine verstärkte Berücksichtigung der rituellen Komponente von Zivilreligion nahe (vgl. z. B. Bellah 1967: 2). Er räumt in seinem Werk den rituellen Interaktionen einen höheren Stellenwert ein als Parsons. Während dieser Zivilreligion als harten Kern des kulturellen Systems sieht, sieht Bellah sie als soziales Phänomen im Sinne Durkheims und siedelte sie nicht in einem bloss logisch integrierten Reich der Symbole an (vgl. Müller 1988: 140). Der Verlust der religiösen Rituale („sacraments“), die aus der Gesellschaft hinaus marginalisiert worden seien, ist für Bellah Merkmal einer defizitären Religion, die ihren Ort nur noch im Gewissen der Individuen habe und entsprechend wenig stabil sei (vgl. Bellah 2005: 145). Tatsächlich finden sich aber die rituellen Aspekte von Zivilreligion oder vergleichbarer Phänomene bei anderen Autoren stärker berücksichtigt als bei Bellah.

Einer der ersten soziologischen Beiträge, die eine „generalized religion“ im Unterschied zur „particular religion“ ausmachten, stammt von Shils und Young (1953), die ihrerseits von Parsons und Durkheim beeinflusst wurden (vgl. Jones und Richey 1974: 4). Sie lieferten in den 1950er Jahren eine Analyse der Feierlichkeiten um die Krönung von Elisabeth II. von Windsor am 2. Juni 1953. In ihrer Argumentation sind sie nahe bei einem parsonsianischen DurkheimianismusFootnote 36, wie einige Jahre später Bellah:

„What are these moral values which restrain men’s egotism and which enable society to hold itself together?“ (Shils und Young 1953: 65)

Interessanterweise argumentieren die Autoren gegen einen intellektualistischen, die Symbole betonenden Zugang. Entscheidendes verlaufe über „sentiments“ und „practices“:

„Only philosophical intellectuals and prophets demand that conduct be guided by explicit moral standards. In the normal way, the general moral standards are manifested only in concrete judgments, and are seldom abstractly formulated.“ (Shils und Young 1953: 65).

Die Krönung steht als Ritual der Trivialität des Alltages gegenüber. Es versieht ein „common vital object of attention“ mit einem „common sentiment about it“ (Shils und Young 1953: 74). Eine Person, die Königin, werde zur Verkörperung des „value systems“ und damit zum emotional aufgeladenen Symbol. Der rituelle Ort erfährt dabei durch die Übertragung durch Massenmedien eine Ausdehnung und erlaubt landesweit den Kontakt mit der Queen, einem Symbol von Herrschaft und Macht und damit mit dem Fundament des Sozialen. Rituell erhält eine lebende Person Autorität als Verkörperung der Gesellschaft – ein Aspekt, den Bellah am Beispiel Kennedy kaum thematisierte. Allerdings wird diese für den Strukturfunktionalismus mit ihrer Betonung von Macht und Emotion eher ungewohnte Interpretation von Shils und Young in ihren späteren Arbeiten nicht weitergeführt.Footnote 37

Ebenfalls 1953 und damit ebenfalls beinahe 10 Jahre vor Bellahs ersten Ideen zur Zivilreligion findet sich eine Analyse des amerikanischen „Memorial Days“ als „American Sacred Ceremony“ von William Lloyd Warner (1974, erstmals erschienen 1953), die grosse Teile der Charakterisierung der Zivilreligion bei Bellah vorwegnahm und wie dieser als Referenz – sogar als einzige – auf Durkheims Formen verwies. Dabei zeigt Lloyd Warner, wie in einer Kleinstadt die verschiedenen involvierten Akteure durch den ritualisierten Ablauf in immer nähere körperliche Kopräsenz überführt werden, bis alle am „Elm Hill Cemetery“ zusammenkommen, wo als ritueller Höhepunkt Salutschüsse abgefeuert werden. Diese zunehmende räumliche und zeitliche Konvergenz der Aktivitäten der Beteiligten über den Verlauf der verschiedenen Phasen des Memorial Days hinweg gipfelt in einer Einheit von „Protestant, Catholic, Jewish and Greek Orthodox involved in a common ritual in a graveyard with their common dead“ (1974: 97). Die Beteiligten verkörperten „the full spiritual power of the cemetery as a sacred symbol system“ (1974: 99), in der Betonung von Einheit transzendiert die Stadt sich in periodisch wiederkehrenden Situationen über die Zeit hinweg als Gemeinschaft.

Als zentrales Symbol dieser „sacred ceremony“ identifiziert Warner Abraham Lincoln und weist auf die Transformation des Lincoln-Bildes vom „rail-splitter“ und „Man of the Prairies“ zum „man-god of the American people“ hin. Lincoln habe damit eine symbolische Bedeutung erlangt, deren Plausibilität sich für viele Amerikaner ganz unabhängig von Lincolns Biographie aus „the social structure in which, and for which, they live“ ergebe und der „each year less profane and more sacred“ werde. Ganz im Sinne Durkheims schliesst Warner (1974: 103): „In him Americans realize themselves.“

Auch Bellah weist auf die Wichtigkeit des Symbols „Lincoln“ hin, der neben George Washington einen Moses der amerikanischen Heilsgeschichte darstelle. Wie aus Lincoln eine solche Heilsgestalt wurde, das „making of a sacred symbol“, rekonstruiert Barry Schwartz (1991) anhand der Feierlichkeiten im Rahmen von Lincolns Bestattung. Dabei weist Schwartz zunächst darauf hin, dass Lincoln zu Lebzeiten kein besonders beliebter Präsident war. So wurde er am Ende des Krieges nur knapp wiedergewählt, je nach Kritiker hielt man ihn für zu kriegstreiberisch, zu zurückhaltend oder zu gnädig gegenüber den Südstaaten. Auch seine heute als zivilreligiöse Sternstunden gefeierten Reden wurden in der zeitgenössischen Presse als vage und wenig griffig verurteilt.

Diese Einschätzungen änderten sich direkt nach Lincolns Ermordung durch den Südstaatler Booth, die in eine Zeit der Euphorie aufgrund des Kriegsendes, auf den Karfreitag und damit den Beginn von Feiertagen und Osterferien fiel. Das öffentliche Leben sei zum Stillstand gekommen. Nach der Abdankungsfeier wurde der Leichnam per Zug entlang der Stationen von Lincolns Karriere gefahren, wobei sich an den einzelnen Stationen viele Leute versammelten, so in Philadelphia, wo der Sarg vor die Liberty Bell gebracht und dort geöffnet wurde, eine halbe Million. In New York sollen sich 160’000 Menschen an der Prozession des Leichenwagens beteiligt haben. In Chicago sollen 80 % der Bevölkerung in irgendeiner Art und Weise an der dortigen Prozession partizipiert haben (vgl. Schwartz 1991: 349).

Schwartz sieht eine Diskrepanz zwischen dieser hohen Beteiligung an den Ritualen und den oft sehr kritischen Vorstellungen, die die Leute eigentlich mit Lincoln verbanden, fest und spricht von einer „significant inconsistency between the rites that commemorate Lincoln and the beliefs that reveal him.“ (Schwartz 1991: 353).Footnote 38 Offensichtlich sei Lincoln nicht betrauert worden, weil er ein einigendes Symbol darstellte, er sei vielmehr ein einigendes Symbol geworden, weil er betrauert wurde. Erst der rituelle Vollzug transzendierte die spezifischen Positionen und Vorstellungen und kreierte ein Symbol, dessen Heiligkeit alle bejahen konnten. Wie Durkheim und auch analog zu den weiter oben gezogenen Schlüssen zum Fallbeispiel der evangelikalen Gemeinschaft (siehe Abschn. 4.2.1.2) schliesst Schwartz: Die Leute glauben, sie würden Lincoln verehren, tatsächlich bestätigen und verehren sie durch ihr Ritual die Gesellschaft. Liebe, Dankbarkeit und Respekt werden aber auf einen als Symbol fungierenden Menschen gerichtet. Schwartz schliesst (1991: 360), dass dieser Vorgang nicht auf geteilten Werten basiere, sondern Rituale gerade die Erzeugung von Solidarität ohne Gemeinsamkeit von Glaubensvorstellungen ermöglichten. Im Ritual wird ein Symbol erzeugt, dessen Heiligkeit schliesslich alle anerkennen und das damit einen fundamentalen Konsens verkörpern würde.

5.2.1.3 Zivilreligion und Nation

Mathisen (1989) weist darauf hin, dass das Konzept der Zivilreligion eine höchst wechselhafte Karriere aufweist, die in den 80er Jahren zu Ende ging. Danach habe es, wenn auch nicht in der Religionssoziologie, so doch in der allgemeinen soziologischen Diskussion, an Bedeutung verloren. Tatsächlich finden sich in letzterer aber Argumentationsfiguren, die Anschlüsse für eine Zivilreligionsperspektive bieten. Die soziale Ordnung, die als Explanandum dient, ist dabei meist der Nationalstaat.

Eine Möglichkeit, die Gemeinschaftlichkeit, die Zivilreligion postuliert und die gesellschaftstheoretisch schwierig einzulösen ist, für ein Verständnis der sozialen Ordnung des Nationalstaates fruchtbar zu machen, zeigt Craig Calhoun auf. Das soziale Leben, so Calhoun, verschob sich im Verlauf der Nationalstaatenentwicklung immer stärker von der Ebene der face-to-face Interaktionen auf eine Ebene, die auf mediale Vermittlung angewiesen ist, beispielsweise auf Märkte, Kommunikationstechnologien und Bürokratien. Das Bestehen von indirekten Beziehungen, die „large-scale“ sein konnten, habe Nationalismus ermöglicht: „It encouraged, for example, increasing reliance on categorical identities rather than webs of relational identities.“ (Calhoun 1994: 317). Die Ablösung von der lokalen Praxis erzeuge die Notwendigkeit, Gemeinsamkeiten in generalisierbarer Form zu konzeptionalisieren: „connections established only through markets and the commodity form were especially prone to reification and representation in categorical terms“ (Calhoun 1994: 318). Das heisst, gerade die Vergesellschaftung der sozialen Beziehungen führte gemäss Calhoun zu Gegenbewegungen, in denen die Gemeinschaftlichkeit betont wurde. Das Gefäss dafür war der Nationalstaat. Gemeinschaft scheint also in der Gesellschaft gefeiert zu werden, wobei Einheiten wie moderne Staaten, die sich eigentlich als Organisationen an einer funktional differenzierten Gesellschaft orientieren, zum Kristallisationspunkt dieser Gemeinschaftspostulate werden.

Mit Andersons (2006) bekanntem Konzept lässt sich das insofern fassen, als es sich bei diesen Nationalstaaten um Einheiten handelt, deren Gemeinschaftlichkeit, obwohl sie weit von einer primordialen Gruppe entfernt sind, von verschiedenen Akteuren, wie von Calhoun aber auch Bellah gesehen, immer wieder postuliert wird. Damit handelt es sich, in den Worten Tönnies’, um eine „Gemeinschaft des Geistes“, in den Worten Andersons um „imagined community“, wobei diese Gemeinschaftlichkeit, wie weiter unten noch diskutiert wird, für den wissenschaftlichen Beobachter als Postulat zu behandeln ist, über dessen Wirkmächtigkeit zunächst noch nichts gesagt ist.

Auch wenn es bei diesen Analysen um die Herstellung von Nation geht, können doch auch Aussagen über die Gesellschaft als Weltgesellschaft erzielt werden, da Nationen und ihre Identitäten die Elemente sind, die über Koordination und Bündnisse von Nationen zu einer grösseren, globalen Einheit werden (vgl. Calhoun 1994: 325) – so werden die Einheiten einer globalen sozialen Ordnung konstituiert. Bereits Tönnies war der Meinung, dass die Entstehung von Nationalstaaten nur „eine vorläufige Beschränkung der schrankenlosen Gesellschaft ist“ (Tönnies 1991: 203; vgl. Lichtblau 2011: 27), das heisst, dass Nationalstaaten noch keine voll vergesellschafteten, also noch gemeinschaftlich verfasste Formen des Sozialen sind. Strukturen wie die „internationale Presse“ oder eine „Weltrepublik“ würden, so Tönnies, die Loslösung von nationalen Schranken befördern.

Von Religion, auch von Bellahs Zivilreligion, sind die eben genannten, auf Politik ausgerichteten Analysen, weit entfernt. Calhoun (1994: 320) erwähnt zwar religiöse Organisationen, bezeichnet sie aber eher beiläufig als einen möglichen Faktor. Immerhin fordert Tiryakian (2011), die Rolle religiöser charismatischer Bewegungen bei der Analyse von „imagined communities“ einzubeziehen.

Wird enger an Bellah angeschlossen, wird deutlich, dass die von ihm charakterisierte Zivilreligion ihren inhaltlichen Bezug in den USA hat. Entsprechend wird sie auch als Spezifikum der USA gesehen und wird u. a. neben der kongregationalen Organisation von Religion und der Skepsis gegenüber einem Wohlfahrtsstaat als ein Aspekt des „American exceptionalism“, ja sogar als „the most distinctive feature of American life relative to its usual European comparison countries“ (Torpey 2009: 162) gesehen. Auch Müller (1988: 141) sieht Zivilreligion als eine spezifische Kombination religiöser Symbole und Praktiken. Diese seien durch eine Konfiguration von Säkularisierung, Individualisierung und Pluralismus bedingt und würden soziale Ordnung herstellen, ohne Kirche oder Staat zu sein. Dies wiederum dürfte spezifisch für eine bestimmte Phase US-amerikanischer Geschichte sein. Andererseits fordern Autoren wie Cristi und Dawson (2007: 283) eine Unabhängigkeit des Konzepts der Zivilreligion vom Fall der USA, dies nicht zuletzt aufgrund von Entwicklungen, die sie als „Globalisierung“ bezeichnen. Doch es erweist sich als nicht so einfach, Zivilreligion ausserhalb der USA zu finden.

Als Beispiel dafür kann die Suche nach Zivilreligion in Europa von Flere und Lavric (2007) dienen. Anhand einer Befragung von Studierenden in Slowenien, Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie den USA stellen sie fest, dass Zivilreligion ein universales Merkmal von „Abrahamitic religious contexts“ (Flere und Lavric 2007: 603) sei und ihr eine entsprechend universale Funktion zugeschrieben werden könne. Ein genauerer Blick auf Analyse und Operationalisierung zeigt jedoch die Verschiedenheit dieses Zivilreligionsverständnisses von demjenigen Bellahs: Mittels Hauptkomponenten- und Reliabilitätsanalyse lässt sich Zivilreligion von „General Religiosity“ und „Traditional Religiosity“ als einigermassen unabhängiger Faktor abgrenzen. Tatsächlich korreliert Zivilreligion aber weiterhin ziemlich stark mit den zwei anderen Typen von Religiosität (Korrelationskoeffizienten von 0,585 bzw. 0,733) und die Operationalisierung von Zivilreligion in den Frageitems ermöglichte es, z. B. in Serbien die Serbisch Orthodoxe Kirche als die Religion zu denken, die für die Nationszugehörigkeit als notwendig gesehen wurde, z. B. im Item „Each individual of my nationality should belong to my religion.“ (Flere und Lavric 2007: 601). Zudem wurde auch im Rahmen der „Traditional Religiosity“ und der „General Religiosity“ nicht nach religionsspezifischen Inhalten gefragt, sondern nur nach allgemeinem Gottesglauben. Damit wird der Spannweite zwischen an eine bestimmte Tradition gebundener Religiosität und allgemeiner Zivilreligiosität nicht Rechnung getragen, weshalb die Resultate letztlich nur etwas über Zivilreligion im Sinne einer Verbindung von Nation und Religion aussagen.

Wie die Autoren zu einem Schluss hinsichtlich einer „universalen Funktion“ der von ihnen diagnostizierten Zivilreligion kommen konnten, ist rätselhaft: Gefragt wurde nur nach religiösen Überzeugungen, wobei auch unter der Annahme, dass darüber aufrichtig berichtet wurde, in keinster Weise nachgewiesen wurde, inwiefern diese Überzeugungen einen Einfluss auf das Handeln zeitigen. Die Feststellung einer wirksamen Zivilreligion geschieht vorschnell.

Wird ein spezifischeres Verständnis von Zivilreligion an europäische Beispiele herangetragen, ändern sich die Schlüsse grundlegend: Hase (2001) schliesst, dass es eine Zivilreligion in Deutschland nicht gibt, dies mit dem Verweis darauf, dass Äusserungen des CDU-Politikers Wolfgang Schäuble zum Reichstag, in denen sich zivilreligiöse Elemente erkennen liessen, viel zu wenig geteilt würden. Auch der Blick auf andere Versuche, in Deutschland Zivilreligion als legitimierende oder mobilisierende Instanz zu verwenden, erweisen sich, so zeigt Hase (2001: 46–49), als wirkungslos:

„Schäuble versucht, an ein zivilreligiöses Substrat zu appellieren, das nicht aktivierbar ist, und muss daher scheitern.“ (Hase 2001: 49)

Die beiden Beispiele zeigen, dass es nicht ohne Weiteres möglich ist, Zivilreligion ausserhalb der USA festzustellen, da in anderen Ländern andere Konfigurationen von religiösen Traditionen und Politik bestehen. Während Bellah das Spezifische an Zivilreligion darin sah, dass sie verschiedene etablierte religiöse Traditionen überschritt, geht es wie bei Flere und Lavric oft eigentlich um den Zusammenhang zwischen spezifischen religiösen Traditionen und Politik. Durch diese religiöse und gleichzeitig nationale Spezifizierung deckt eine solche Form von Religion nicht die Gesellschaft ab, sondern jeweils ein einzelnes ihrer Segmente. Um dem Explanandum dieses Kapitels gerecht zu werden, soll deshalb versucht werden, das Konzept auf Gesellschaft als Weltgesellschaft auszuweiten.

5.2.2 Weltgesellschaft und Massenmedien

Die soeben eingehender betrachtete Zuspitzung auf den Nationalstaat entspricht nicht der sozialen Ordnung Gesellschaft, wie sie hier verstanden wird; bei dieser handelt es sich gerade nicht um eine territorial abgegrenzte Einheit, sondern das grosse soziale globale Ganze – Weltgesellschaft. Die Frage stellt sich, wie in der Folge von Durkheim und Bellah eine sich auf diese soziale Ordnung beziehende Zivilreligion aussehen müsste: Dafür sind zwei Dinge zu klären, nämlich erstens, wie eine entsprechende „Weltgesellschaft“ zu fassen wäre und zweitens, wie es zur medialen Vermittlung zivilreligiöser Rituale kommen könnte.

5.2.2.1 Weltgesellschaft

Was Gesellschaft umfasst, ist mit Luhmann nicht schwierig zu sagen (siehe Abschn. 2.8.2). Es handelt sich um die Menge aller Kommunikation, in ihrer Umwelt gibt es keine Kommunikation, innerhalb von ihr nichts anderes (vgl. Luhmann 1998: 150). Dabei wird Gesellschaft, verstanden als Weltgesellschaft, nicht als blosse Erweiterung von Interaktionen und nicht als blosser Zusammenschluss bestehender Einheiten wie der Nationalstaaten gesehen, vielmehr bilde sie „ihnen gegenüber eine emergente soziale Ordnungsform“ heraus (Stichweh 2008: 20). Sie ist, so Stichweh (2006: 240), durch Eigenstrukturen, das heisst durch andere Strukturen als die Gemeinschaften gekennzeichnet, mit denen es Durkheim zu tun hatte. Stichweh entwirft eine (von ihm als nicht abschliessend deklarierte) Liste von Strukturen der Weltgesellschaft:

Ausdifferenzierte Funktionssysteme

Grundlegendes Merkmal der Gesellschaft ist ihre Differenzierung in Teilsysteme (siehe Abschn. 5.1.2.1). Diese halten sich ihrerseits nicht an Landesgrenzen, weshalb beispielsweise von Weltpolitik oder Weltwirtschaft – möglicherweise, obwohl dies Stichweh nicht vorschlägt, auch von Weltreligion – die Rede sein kann.

Formale Organisationen

Die Weltgesellschaft wird des Weiteren durch formale Organisationen strukturiert, die über grenzüberschreitenden Transfer von Personal und Transfer von Wissen funktionieren. Dabei verknüpfen sie durch lokale Filialen und internationale Tätigkeit Globalität und Lokalität. Neben multinationalen Unternehmungen gehören auch staatliche und nicht staatliche internationale Organisationen zu diesem Typus (vgl. Stichweh 2006: 245).

Netzwerke

Neben formalen Organisationen, aber auch auf ihnen basierend, finden sich informelle Netzwerke von Kontaktmöglichkeiten und -kanälen, die beispielsweise die Grundlage für globale soziale Bewegungen darstellen (vgl. Stichweh 2006: 247).

Märkte

Stichweh (2006: 252) sieht Weltgesellschaft durch Märkte geprägt, die er, Harrison White folgend, in Analogie zu Spiegeln sieht, geprägt durch „unablässige wechselseitige Beobachtung aller an einem Markt Beteiligten und die operativen Folgen dieser Beobachtungen in der Form der Konkurrenz“.

Epistemische Communities

Während diese vier Strukturen in einem Gegensatz zur sozialen Ordnung der Gemeinschaft stehen, sieht Stichweh (2006: 249) dennoch weiterhin starke kognitive und normative Bindungen, die nicht durch formale Organisation bestimmt sind. Hier sieht Stichweh beispielsweise „disziplinäre Communities“ von Ärzten oder Klerikern, aber auch beispielsweise von Linux- Entwicklern, die sich um Kompetenzen und Interessen herum gruppieren.

Weltereignisse

Für die vorliegende Fragestellung relevant ist, dass Stichweh (2006: 250) eine „reflexive Konstitution von Welt“ vorsieht, die mittels Weltereignissen geschieht. Dabei handelt es sich um Ereignisse, die die genannten Strukturen – also auch funktionale Teilsysteme – überschreiten und sich in ihrer Relevanz vom Ort und nationalen Bezügen lösen. Es gibt geplante Weltereignisse, wie z. B. Weltausstellungen oder olympische Spiele und ungeplante, wie z. B. Erdbeben, wie dasjenige in Lissabon 1755, das Stichweh (2008: 29) als möglicherweise erstes Weltereignis nennt.

Eine grundlegende Differenz bei Weltereignissen sei diejenige zwischen Tragödie und Triumph, führt Morgner (2008: 179) aus. Als Tragödie erhebt sich das Ereignis aus der Normalität heraus und erhält vor dem Horizont der Welt eine symbolische Relevanz für Zuschauer, die zu Beteiligten werden, auch ohne körperlich involviert zu sein (vgl. Morgner 2008: 181–182).

Insbesondere bei geplanten Weltereignissen ist mit einem hohen Mass an Ritualisierung zu rechnen. Die Frage stellt sich, was es bedeutet, dass die Bedingung der Kopräsenz, die bei Durkheim, Goffman, Collins und Luhmann eine entscheidende Rolle spielt, für die meisten involvierten Personen nicht erfüllt wird. Die meisten verfolgen entsprechende Ereignisse von Zuhause aus. Eine Erweiterung der Theorie, die es erlaubt, die massenmediale Vermittlung von kollokalen Ereignissen einzubeziehen, ist notwendig.

5.2.2.2 Media events

Auch in den bereits angeführten Analysen von zivilreligiösen Ritualen finden sich Verweise auf die massenmedial vermittelte Kommunikation der im rituellen Zentrum stehenden Ereignisse über die Situation hinaus. So schreibt Schwartz in seinen Ausführungen zur Reise von Lincolns Leichnam:

„Not everyone could take part in this ritual, but everyone knew from newspaper accounts and word of mouth what was happening along the journey’s route.“ (Schwartz 1991: 347)

In der Nachfolge Durkheims findet sich seitens des Anthropologen Daniel Dayan und des Soziologen Elihu Katz die Theorie der „media events“, mittels derer sie sich der Frage nach der globalen massenmedialen Kommunikation von Ereignissen widmen. Dabei konzentrieren sie sich zunächst auf geplante Berichterstattungen, die sich mittels Live-Berichterstattung einem ausseralltäglichen Ereignis widmen, wie beispielsweise einem Papstbesuch oder einer königlichen Hochzeit. Der media event erreiche das Publikum in beinahe monopolistischer Art und Weise und ziehe das Publikum umfassend in seinen Bann. Dabei versetze es, so Dayan und Katz (2000: 405) mit Verweis auf Edward Shils, die Beteiligten zum „sacred center of the society“. Media events machten so Tage zu Festtagen und seien damit Teil von Zivilreligion:

„A ceremony interrupts the flow of daily life (syntactics); it deals reverently with sacred matters (semantics); and it involves the response (pragmatics) of a committed audience.“ (Dayan und Katz 2000: 409)

Erzeugt würde „social integration of the highest order“ (vgl. Dayan und Katz 2000: 410). Entsprechend stellten media events einen konstitutiven Faktor der sozialen Ordnung dar, der der differenzierten und dynamischen sozialen Realität, die der Zivilreligion zugrunde liegt, Rechnung trägt. Durkheims Formes und das Konzept von Zivilreligion stellen eine zentrale Referenz für Dayan und Katz dar. Sie betonen jedoch darüber hinaus, dass media events Neues und Unerwartetes einbeziehen könnten und damit eine Praxis darstellten, mittels welcher Zivilreligion auf die Dynamik des Geschehens eingehen könne. Zivilreligion weise damit die Kapazität auf, neue Situationen einbeziehen zu können (vgl. Dayan und Katz 1988: 182). Bei media events handle es sich um „history in the making“, zentrale Paradigmen einer Gesellschaft, so Dayan und Katz (1988: 178) mit Verweis auf Victor Turner, würden in einer subjunktiven Phase der Liminalität aktualisiert. Das heisst, dass diese Rituale dem Alltag immer auch entgegengesetzt sind und eine alternative Ordnung darstellen, aber symbolische und strukturelle Zuweisungen hervorbringen, die auch den Alltag strukturieren.

Beispiel: Olympische Spiele

Mit John J. MacAloon (1984: 267) können die olympischen Spiele als Ereignis gesehen werden, das als weltgesellschaftliches Medienereignis funktioniert. Rothenbuhlers (1989: 139) empirische Studie zum TV-Publikum in den USA zeigt, dass die olympischen Spiele über die verschiedensten sozialen Schichten hinweg relevant sind. „The broadcast games, then, achieve a unique communicative gathering of otherwise socially differentiated people around a single media text.“ (Rothenbuhler 1989: 139). Es würden, so Rothenbuhler, in Durkheims Sinne „symbolische Repräsentationen“ von Werten kommuniziert, die von den zuschauenden Individuen internalisiert und, dabei verweist er zudem auf Parsons und Alexander, ihre Motive strukturieren würden. Es fänden sich zwar durchaus verschiedene Motivationen und Interessen bei den Teilnehmern und Zuschauern, mit Verweis auf Bourdieu sieht Rothenbuhler (1989: 142) aber eine „logische Konformität“ im Spiel. Die Kategorien, mit denen die soziale Welt geordnet sei, würden gerade durch diese Verschiedenheit konstituiert. Das soziale Ganze werde als differenzierte Einheit gefestigt, indem die Werte Individuum, Nation und Menschheit gefeiert würden. Besonders betont Rothenbuhler im Anschluss an Durkheim den „Kult des Individuums“ (siehe Abschn. 5.3.1.1), da individuelle Leistung und individuelles Erleben mit im Zentrum stehen würden (vgl. Rothenbuhler 1989: 142).

Die involvierten Bedeutungen seien mehrschichtig und könnten von den Beteiligten unterschiedlich interpretiert werden. Dies betont bereits MacAloon (1984: 260), der auf Goffmans Konzept von frame (siehe Abschn. 3.2.3.2) zurückgreift, um die Polysemie von Symbolen, die im Rahmen der Spiele aktualisiert werden, fassen zu können.

Die Komplexität steigt durch die mediale Vermittlung, die noch weitere Formen der Involviertheit ermöglicht, weiter an. Anhand einer quantitativen Erhebung vor und nach den olympischen Spielen von Los Angeles im Jahr 1984 kann Rothenbuhler eine Zunahme der Bejahung von Werten wie Freundschaft oder Sportsgeist feststellen, die von den Befragten mit den Spielen in Zusammenhang gebracht werden (vgl. Rothenbuhler 1989: 149). Entsprechend schliesst er:

„(\(\ldots \)) a communication event can become a symbolically constructed festival, functionally equivalent to Durkheim’s celebrating crowds.“ (Rothenbuhler 1989: 152)

Grösse und Komplexität sowohl des Rituals als auch des zu integrierenden sozialen Ganzen seien zwar angestiegen, dennoch kann mit Rothenbuhler das Funktionieren und die Funktion des Rituals parallel zu denjenigen Praktiken, die Durkheim bei den Aborigines untersucht hat, gesehen werden.

Konflikt

Ende der 80er-Jahre und damit kurz nach der ersten Fassung von Dayan und Katz’ Theorie, wurden der Fall der Berliner Mauer, die Solidarność-Bewegung in Polen und andere Umstürze in Osteuropa Gegenstand massenmedialer Aufmerksamkeit, was kritische Rezipienten der Theorie dazu anhielt, den Fokus weg von zeremoniellen Ereignissen wie Prominenten-Hochzeiten und olympischen Spielen hin auf Konflikte, abrupten Wandel und unvorhergesehene Ereignisse zu verschieben (vgl. Rothenbuhler 2010: 35).

Auch Elihu Katz anerkennt die Wichtigkeit des Einbezuges solcher unerwarteter und konfliktiver Ereignisse (vgl. Katz und Liebes 2007: 158). Parallel dazu beobachten Katz und Liebes sogar eine abnehmende Wichtigkeit von media rituals. Das Publikum sei zunehmend fragmentiert, die Authentizität der Medien würde hinterfragt, die vorhersehbare Taktung durch Grossereignisse durch eine Serie von Unterbrüchen durch Unerwartetes in ihrer Relevanz relativiert. Der Aspekt der Einigkeit, der auch bei media events mit Wettkämpfen im Zentrum noch über geteilte Werte wie Fairness präsent gewesen sei, sei in den Hintergrund gerückt.

Stattdessen stellen sie neue Typen medialer Ereignisse fest, die ungeplant und konfliktiv sind, so Terror, Katastrophen und Krieg. Entsprechende Ereignisse würden in „disaster marathons“ – diesen Sammelbegriff verstehen Katz und Liebes als Kontrast zu den geplanten und harmonischen media rituals – Gegenstand ausgedehnter Berichterstattung.

Beim Typus des Terrors sei gerade bemerkenswert, dass die Gegner der bestehenden Ordnung sich die Medien zunutze machten, um ihre Werte einer breiten Öffentlichkeit zu kommunizieren. Andererseits würden Terroranschläge Regierungen auch ermöglichen, die Welt unter „manichäischen“ Gesichtspunkten in gut und böse aufgeteilt darzustellen (vgl. Katz und Liebes 2007: 158), was wieder auf die eine bestimmte Ordnung stabilisierenden Folgen dieser Rituale hinweist.

5.2.2.3 Social drama

Bereits bei Dayan und Katz spielte neben Durkheim die Ritualtheorie Turners eine Rolle. Diese eignet sich, um die Konflikthaftigkeit von Ereignissen und ihre Gegensätzlichkeit zur alltäglichen Ordnung zu fassen. Solange die Welt in für die Beteiligten vorhersehbaren, alltäglichen Bahnen verliefe, könne sie, gemäss Turner, als „social organization“ oder auch „social enterprises“ bezeichnet werden. Konfliktivere Abläufe, in denen Bedeutungen und Handlungsweisen umstritten seien, erfasst Turner dagegen mit dem Begriff des social drama:Footnote 39

„Social dramas (\(\ldots \)) are units of aharmonic or disharmonic process, arising in conflict situations.“ (Turner 1974: 37)

In social dramas erhielten grundlegende Aspekte der Gesellschaft dadurch, dass sie Gegenstand von Konflikten werden, „frightening prominence“ (Turner 1974: 35), die Normalität werde dramatisch problematisiert:

„Thus, if daily living is a kind of theatre, social drama is a kind of metatheatre, that is, a dramaturgical language about the language of ordinary role-playing and status-maintenance which constitutes communication in the quotidian social process.“ (Turner 1986: 76)

An Turner anschliessend entwickelt Jeffrey C. Alexander, Schüler von Talcott ParsonsFootnote 40, das Konzept von social drama als Spezialfall von Performanz weiter. Während Rituale Formen von Performanz darstellten, die von den Handelnden als „natural and necessary dimension of ongoing social life“ (Alexander 2006: 39) gesehen würden, und eine enge Einheit von Bedeutungen und Handlungen bestehe, komme es in komplexeren Zusammenhängen zu Performanz als social drama, in denen Deutungen, Akteuren und Handlungen diese Selbstverständlichkeit und gegenseitige Einbettung abhanden komme. Bedeutung, Beteiligung, Ablauf und Elemente von Performanz werden fraglich. Im Gegensatz zu Ritualen als „fused social performances“ fänden social dramas statt, wenn Performanz „de-fused“ sei (vgl. Alexander 2006: 32): Das heisst unter anderem, dass Bedeutungen unklar und bestimmende Akteure vom Publikum stark distanziert sind. Die Selbstverständlichkeit ritualisierter Handlungen macht einem Bewusstsein von Künstlichkeit und Planung Platz, Automatismen setzen aus (vgl. Alexander 2006: 45).

Für eine Refusion, also die Wieder-Etablierung einer starken, unhinterfragten Verknüpfung von Symbolen, Akteuren und Realität, einer „seamlessness“ der Welt und ihrer Erfahrung, müssen gemäss Alexander (2006: 64) mehrere Punkte erfüllt sein: Akteure müssen bestimmend werden, die in diesen Situationen vereinfacht und authentisch kommunizieren könnten, das Publikum muss vom Geschehen, das als Kampf zwischen gut und böse gesehen wird, in den Bann gezogen werden und sich mit ihm identifizieren können. Bedeutungen werden wieder eindeutig, Akteure plausibel. Das heisst, in öffentlichen Debatten, denen eine stark moralische Dimension zukommt, gewinnen bestimmte Akteure an Legitimität, die als Vertreter des Guten gesehen werden und den Fortgang der Abläufe, sowie Deutungen bestimmen. In solchen krisenhaften Vorgängen der Defusion und Refusion werden fundamentale Werte der Gesellschaft prominent diskutiert und bestätigt oder angepasst. Symboliken, Mythen und Akteure werden neu konstituiert, Solidaritäten neu arrangiert. Als Beispiele nennt Alexander Ereignisse wie die französische Revolution oder die Affäre um Watergate.

Gemäss Emirbayer (1996: 123) zeigt Alexanders Ansatz, dass auch mit einem durkheimianischen Verständnis des Sozialen die rituelle Konstitution der Gesellschaft unter integraler Berücksichtigung von Konflikten und Ungleichheiten erklärt werden könne – tatsächlich liesse sich an die Ansätze Durkheims zur Ordnung durch Diskontinuität anschliessen, die im Abschn. 5.1.1 thematisiert wurden. Alexander stellt social dramas in Kontrast zu Ritualen, wobei sich die Frage stellt, ob Vorgänge der Refusion nicht ebenfalls zu einem gewissen Grad ritualisierte Praktiken darstellen: Formen und Taktung der Berichterstattung und die Vereinfachung der Kommunikation weisen auf Ritualisierung hin. Immerhin verweist Alexander zur Illustration auf religiöse Rituale, so hinsichtlich des stattfindenden Kampfes zwischen Gut und Böse auf Geertz’ Beschreibung des Kampfes zwischen Rangda und Barong in Bali. Auf jeden Fall ist eine funktionale Äquivalenz von religiösen Ritualen und social drama feststellbar.

Dementsprechend könnte mit Edward Tiryakian (1985) eine Linie von den religiösen Ritualen Durkheims zu diesen massenmedialen Ereignissen gezogen werden: Mit Recht verweist er darauf, dass Durkheim (1994: 294 f., 305 f.) selbst die auch von Alexander angeführte französische Revolution in den Formes als Beispiel für religiös-rituelle Rekonstitution von Gesellschaft anführt: Profanes würde sakralisiert, so die Nation, Freiheit oder Vernunft, neue Dogmen und Symbole hielten Einzug. Während es ihm in der „modernisierungstheoretischen“ Division um Arbeitsteilung, also Differenzierung gegangen sei, habe der Fokus in den Formes auf der Entdifferenzierung im Ritual gelegen (vgl. Tiryakian 1985: 127). Tatsächlich sei Gesellschaft als dialektischer Prozess zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung, der Ablösung von profanen Phasen des Alltags mit heiligen Phasen von Ritualen, zu sehen, das heisst, wie in Alexanders Worten würden Phasen der Defusion über entdifferenzierende Rituale oder social dramas in Refusion und Erneuerung der Gesellschaft überführt. Mit einem funktionalen Religionsverständnis könnte so geschlossen werden:

„The religious renewal is a re-creation of the collectivity, of the society (or the societal community).“ (Tiryakian 1985: 128)

5.2.3 Kritiken

5.2.3.1 Kritik an der Theorie der media events

Die Problematiken bei der Anwendung von Ritualtheorien auf moderne, massenmediale Verhältnisse sind bekannt, denn wie Rothenbuhler (1998: 78) kritisch bemerkt: „(\(\ldots \)) anthropological ideas developed in the study of small-scale, nonindustrial societies are being applied to the production and consumption of modern, commercial media.“ Moderne Gesellschaften seien grundsätzlich von Durkheims Gegenstand in den Formes verschieden, kritisiert auch Nick Couldry (2003: 8). Fernsehereignisse könnten deshalb nicht einfach als Rückkehr zu früheren Formen sozialer Zusammenkünfte, wie sie Durkheim bei den Aborigines ausmachte, gesehen werden. Von einer Gemeinschaft, die rituell zentralisierbar ist und sich so als Einheit reproduziere, könne nicht ausgegangen werden:

„It is precisely such an idea of society’s ‘sacred centre’ on which the plausibility of classic Durkheimian and neo-Durkheimian arguments depends.“ (Couldry 2003: 42)

Von einer entsprechenden Vorstellung werde die Idee abgeleitet, dass es Massenmedien brauche, die dieses Zentrum kommunizierten. Lege man diese Vorstellung ab, verschwinde auch der Bedarf danach, so Couldry. Die Theorie der media events, so die Kritik weiter, basiere zudem auf einer Vorstellung von einheitlichen Effekten der Massenmedien. Entsprechende „unified media effects“, die Vorstellung, dass mediale Inhalte alle Mitglieder des Publikums auf die gleiche Art und Weise beeinflussten, gelten jedoch als gänzlich unplausibel, so urteilt Örnebring (2004: 175) in seiner kritischen Re-Analyse von Shils und Youngs „The Meaning of the Coronation“. Entsprechende Effekte würden in durkheimianischen Argumentationen aber vorausgesetzt, obwohl sie empirisch nur schwer festzumachen seien, schreibt auch Couldry (2003: 30). Eine Festgemeinschaft würde zwar auch bei massenmedial kommunizierten Feiern wie der Krönung Elisabeths II. entstehen, das bedeute jedoch nicht, dass damit der Wert der Nation verbunden würde (vgl. Örnebring 2004: 193). Couldry schliesst:

„Unlike religious ritual, which is usually enacted against a complex background of explicit and shared beliefs, media rituals are not played out in an even, consensual space.“ (Couldry 2003: 87)

Das heisse jedoch nicht, dass es nicht Versuche gäbe, ein gesellschaftliches Zentrum zu bilden. Die Massenmedien strebten es oft tatsächlich an, einen „unified frame of representation“ (Örnebring 2004: 176) herzustellen. Dabei hätten sie die Möglichkeit, das Ereignis, über das die Berichterstattung erfolgt, angesichts der für den Zuschauer nicht gegebenen Unmittelbarkeit entsprechend zu präsentieren oder ihrerseits Zuschauerreaktionen zwecks Verbreitung vereinheitlichend zu selegieren und zu kommunizieren.

Örnebring beobachtet eine Tendenz in den Massenmedien „to impose a unified frame of representation“ (Örnebring 2004: 176). Damit werden media events zu einer „self-fulfilling prophecy, where the media construct an event that does not necessarily correspond to the event as witnessed by physically present spectators“ (vgl. Örnebring 2004: 177). Dass diese Versuche bei einem Teil des Untersuchungsfeldes und bei der Selbstdarstellung der Massenmedien selbst tatsächlich fruchteten, heisst jedoch nicht, dass deren Deutung vom Analytiker einfach zu übernehmen ist. So zeigen Befragungen, dass die Bevölkerung gegenüber der Krönungszeremonie kritischer eingestellt war, als die Medienberichterstattung es vermuten liesse. Beispielsweise wurden die hohen Ausgaben, die mit dem Ereignis verbunden waren, kritisiert, was in der Medienberichterstattung jedoch kein Thema war. Örnebring schliesst deshalb:

„The ‘moral centre of society’ is a fleeting thing, as the dissenting audience reports quoted here show – what remains is the view of the media as privileged interpreters of social and cultural reality.“ (Örnebring 2004: 194)

Auch religiöse Rituale, selbst bei den Aborigines, dürften ihrerseits eine Einheitlichkeit zu erzeugen versucht haben, ohne sie vollständig durchzusetzen, das heisst, auch hinsichtlich dieses „Prototyps“ wäre gemäss Couldry die Idee eines Zentrums zu hinterfragen. Und schliesslich bleibe gerade die Verknüpfung dieser medialen Ereignisse mit der alltäglichen Praxis, die notwendig dafür wäre, dass sie die Gesellschaft strukturierende Folgen zeitigten, ungeklärt (vgl. Couldry 2003: 30). Die Massenmedien haben, das zeigt Örnebrings Analyse, mit ihrer Darstellung keinen ungehinderten und einheitlichen Einfluss auf die Individuen. Die Annahme eines Zentrums als Ausgangspunkt ist deshalb durch einen Blick auf die konfliktiven Versuche zu ersetzen, ein solches zu errichten (Couldry 2003: 42) – und dabei wäre den Massenmedien einiges an Selbständigkeit zuzutrauen, da sie Rituale nicht bloss wiedergeben und verstärken, sondern bestimmte Aspekte hervorheben, interpretieren und andere ausblenden können.

Diese Kritik an der Theorie der media rituals zeigt einige Parallelen zu derjenigen, die am Funktionalismus generell, aber auch an Theorien der Zivilreligion aus einer praxistheoretisch informierten Perspektive zu formulieren sind. Zu verabschieden sei, so schliesst Couldry (2003: 12) nämlich, die funktionalistische Perspektive als Ganzes: „A non-functionalist approach to rituals (including media rituals) is interested in them less for themselves as expressions of this or that idea – after all, what would that prove by itself? – than in the wider social processes of ‘ritualisation’ through which something like (media) ritual comes into being at all.“ – wobei er „ritualisation“ im Anschluss an Catherine Bell versteht. Deswegen verschiebt sich der Fokus auf „the smallest details of practice through which the media’s authority as a social ‘centre’ is reinforced.“ (vgl. Couldry 2003: 30). Damit fordert er Empirie an Stelle funktionalistischer Verallgemeinerungen. Diese grundlegende Kritik soll nun in gesellschaftstheoretischer, wie auch handlungstheoretischer Sicht aufgegriffen und differenziert werden.

5.2.3.2 Gesellschaftstheoretische Kritik: Gesellschaft als Stamm?

Die gesellschaftliche Verfassung der modernen Welt dürfte die Suche nach Gemeinschaft dringlicher machen. So vermutet Hobsbawm: „Never was the word ‘community’ used more indiscriminately and emptily than in the decades when communities in the sociological sense became hard to find in real life.“ (Hobsbawm; zitiert in Blackshaw 2010: 10).

Eine an Durkheims Formes orientierte Soziologie muss sich damit die kritische Frage gefallen lassen, ob sie dementsprechend nicht versucht, die moderne Gesellschaft anhand des paradigmatischen (und ethnologisch fragwürdigen) Falles der Aborigines zu verstehen. So kritisieren Abercrombie, Hill und Turner den Einfluss Parsons’:

„One feature of Parsonian influence over modern sociological studies has been the tendency of researchers to seek out simple correspondences or analogies between the sacral beliefs and practices of simple societies and the profane beliefs and practices of modern societies.“ (Abercrombie et al. 1980: 52)

Wie bereits Merton (1968: 25–30) kritisierte, führen oft auf Durkheim und frühe Ethnologen zurückgehende Vorstellungen grosser Geschlossenheit und Integration zu bezüglich moderner Gesellschaft kontrafaktischen Annahmen wie dem Postulat der funktionalen Einheit. Eine ihrerseits idealisierte Realität wird dabei zum Massstab für das Funktionieren moderner Gesellschaft (vgl. Turner 1991: 49).

Diese Kritik lässt sich mit dem bereits im Theoriekapitel diskutierten Vorwurf an den Funktionalismus, ein zu harmonisches Bild der Gesellschaft zu vertreten, vermitteln. Bereits der Vergleichsfall „primitive Gesellschaft“ werde zu harmonisch gesehen, was gerade Ethnologen wie z. B. Gerd Baumann (1992) anmerken. Wird dies auch noch als Massgabe für die soziale Ordnung Gesellschaft verwendet, wird nach einem zu harmonischen Bild von Gesellschaft gefragt und letztlich auch Religion und Ritual nach Durkheim als rein integrative Kraft thematisiert (vgl. Gouldner 1970: 122; vgl. zu Durkheims entsprechender Einseitigkeit auch Lockwood 1992b). Durkheim könnte aber auch als Bezugspunkt für Korrekturen an der bisherigen Auseinandersetzung mit Zivilreligion dienen: Wie Baumann zeigt, betont Durkheim (1994: 562 f., 600 f.) in der Konklusion der Formes selbst, dass die Idee der Gesellschaft, wie sie sich in der Religion ausdrückt, ein Ideal sei, dass sich die Menschen selbst vorgeben. Von so einem Ideal, wie auch „Zivilreligion“ eines darstellt, zu erwarten, dass es der Realität entspricht, stelle eine „fallacy of misplaced concreteness“ (vgl. Baumann 1992: 115) dar. Religion aber bloss als fiktives Ideal zu sehen, so betont Durkheim, würde wiederum eine idealistische Reduktion von Religion darstellen. Die Ideale selbst seien realistisch, da sie die reale Welt zum Vorbild hätten. Schliesslich ist es genau das Verspüren der höchst realen Wirkung der Gesellschaft – und nicht etwa der Wunsch nach einer nicht realen, aber erwünschten Welt –, die zu Religion führt.

Das heisst einerseits, dass der ideale Charakter religiöser Werte nicht mit der Realität zu verwechseln ist. Andererseits ist der Vorgang der Hervorbringung und Implementierung dieser Ideale aufschlussreich hinsichtlich der sozialen Ordnung, in der sie neu gebildet und bestätigt wird. Von der blossen Betrachtung ihrer Ideale in Gestalt von Symbolen und Werten ist wenig zu erwarten, stattdessen ist der Blick auf die soziale Praxis zu lenken und beispielsweise zu fragen, welche Bestandteile der realen Gesellschaft idealisiert werden und wie das geschieht. Das heisst gerade der Vorgang der Auswahl von Elementen einer hochgradig differenzierten und konfliktiven Gesellschaft in einen idealisierten und geordneten Zusammenhang ist von Bedeutung und dürfte seinerseits von bestimmten Akteuren mit ihren Perspektiven und Interessen durchgeführt werden. Die zweite Frage wäre dann, wie die so entstandene Zivilreligion wiederum auf die reale Gesellschaft wirkt und auch hier wäre nach den Akteuren einschliesslich der Rezipienten zu fragen, die dabei involviert sind, und nicht einfach davon auszugehen, dass mit dem allgemeinen Anspruch der Symbole ein die ganze Ordnung überschreitender Konsens bezüglich ihrer Genese und ihrer Geltung einhergeht.

Bemerkenswerterweise kritisierte mit Steven Lukes (1975b) ein etablierter Durkheimrezipient den „neo-durkheimanischen“ Ansatz, der hinter Theorien wie derjenige der Zivilreligion steht. Lukes stellt beim über Wertintegration und Ritual argumentierenden Erklärungsmodell Unklarheiten fest. Die blosse Beobachtung eines funktionierenden Symbolsystems stellt noch keine befriedigende Analyse davon dar, wie sich die „Integration“ von Gesellschaft ergibt (vgl. ähnlich Müller 1988: 141). Auch die blosse Feststellung, dass die Symbole in Ritualen gewissermassen vollzogen werden, reiche nicht aus. Lukes fordert u. a. eine genauere Bestimmung, ob der Vollzug von Ritualen als gemeinsame Partizipation an Institutionen funktioniere, über die Konformität von Normen, als Realisierung eines „Kollektivbewusstseins“ usw. – Fragen, denen zumindest teilweise mit der im Kap. 3 vorgeschlagenen Herangehensweise an die Analyse der Interaktionsebene begegnet werden könnte. Des Weiteren fragt Lukes danach, was denn überhaupt die Kriterien wären, nach denen eine Gesellschaft als „integriert“, eine Ordnung als etabliert, gelten würde: Bei Konformität hinsichtlich bestimmter Normen? Bei der Komplementarität von Bedürfnissen und Leistungen? Der Dauerhaftigkeit von Strukturen? Damit ist die Problematik dessen angesprochen, wie der „Standard des Funktionierens“ überhaupt zu bestimmen wäre. Die Selektivität dieses Standards ist gerade bei einer komplexen sozialen Ordnung wie der modernen Gesellschaft offensichtlich (vgl. Abschn. 2.4.3.4). Ein Indikator wie das „Überleben“ bei Kommunen, lässt sich kaum ausmachen, das Frageinteresse bestimmt das Verständnis davon, was als gelungene Integration gesehen wird.

Lukes schlägt vor, nicht nach der Leistung von Ritualen als Angelegenheit der Wertintegration der Gesellschaft zu fragen, sondern nach der Rolle von „zivilreligiösen“ Ritualen bei der Etablierung von Machtverhältnissen. Wie beispielsweise auch von David Lockwood (1992b: 76–77) im Anschluss an seine kritische Durkheimlektüre gefordert, geht es in einem entsprechenden Ansatz nicht darum, nach Einheit zu fragen, sondern nach der Etablierung sozialer Ungleichheit: Und diese ist nicht, wie Neodurkheimianer annahmen, stets durch Werte legitimiert (vgl. Lockwood 1992b: 95). Es dürfte deshalb umso aufschlussreicher sein, zu sehen, wie bestimmte Akteure beispielsweise über zivilreligiöse Rituale versuchen, bestehende Unterschiede mit einem werthaft konstituierten Klassifikationssystem zu legitimieren.Footnote 41 Entsprechend fordert Lukes (1975b: 29,6) danach zu fragen, welche soziale Gruppe eine bestimmte ritualisierte Praxis etabliert und in ihrem Ablauf kontrolliert, wessen Perspektive und wessen Deutungen damit in den Vordergrund gerückt werden, aber auch, welche sozialen Angelegenheiten und Akteure im Ritual ignoriert werden.

5.2.3.3 Praxistheoretische Kritik an der impliziten Handlungstheorie: Handlung, Ordnung, Wert

Mit Pickering ist neben Lukes ein weiterer prominenter Rezipient der Religionssoziologie Durkheims äusserst skeptisch bezüglich der solidaritätsstiftenden Folgen von zivilreligiösen Ritualen:

„In order to talk about ritual which has national significance, a great deal of effort is required to find any convincing examples. The fact of the matter is that a society based on rationalist principles has no place for ritual.“ (Pickering 2009: 350)

In dieser Kritik werden aber die rationalistischen Vorannahmen sichtbar, die angesichts der Problematik des Rationalitätsbegriffs wenig überzeugen (siehe Abschn. 5.1.3). Aus praxistheoretischer Perspektive ist gerade die Handlungstheorie, die hinter den meisten der Theorien zu Zivilreligion steht, zu rationalistisch. Beispielsweise verbleiben Analysen wie diejenige von Edgell et al. (2006) zu Grenzziehungen noch zu stark im Reich der Deutungen und Werte. Und auch wenn Bellah durchaus zivilreligiöse Rituale beschreibt, so stellt seine Theorie die normative Integration doch vor das Ritual, das Denken vor das Handeln. Die Rituale sind darin ein blosser Mechanismus der Implementierung von Werten, nicht mehr das Substrat, auf dem soziale Praxis letztlich beruht.

Ein entsprechendes Verständnis von Handlung und Gesellschaft lässt sich auf die Durkheimrezeption von Talcott Parsons zurückführen: Die Bedingungen des Handelns, so Parsons (1949: 464), seien für Durkheim nicht utilitaristisch-positivistisch „Fakten“ gewesen, sondern soziale Angelegenheiten, nämlich Normen. Durkheim habe, so stellt Parsons (1949: 465) fest, zwar durchaus nicht-normative Quellen von Handlungszielen gesehen, so z. B. Instinkte. Auch anerkannte der frühe Parsons (1949: 463) im Anschluss an Durkheim, dass Interessen und Legitimität nicht immer miteinander einhergehen müssen. So kann Legitimität bloss bei einer Mehrheit bestehen, weshalb Individuen auch nur aus Interesse sich dieser Auffassung fügen und damit zwar rational handeln, der Ordnung aber keine Legitimität zuschreiben. Das heisst, die normative Integration bezieht sich auf die Legitimität von Sanktionen, denen bei einzelnen Individuen auch nur wegen der Vermeidung von Sanktionen und nicht aufgrund der Einsicht in geteilte Werte, Geltung zukommt (vgl. Holmwood 1996: 68).Footnote 42 Schliesslich betont Parsons (1949: 466) aber doch, dass das Soziale für Durkheim „the common value element in action in its relation to the intrinsic means-end chain“ gewesen sei. Die Instinkte und Ängste habe Durkheim mit zentrifugalen, das heisst asozialen Tendenzen, mit der „biologischen“ und dabei „egoistischen“ Natur des Menschen gleichgesetzt. Das heisst schliesslich, dass die Anerkennung geteilter Normen der Faktor ist, der für die Erzeugung sozialer Ordnung letztlich wirksam sein muss – und Parsons folgt ihm in dieser Ansicht.

Selbst Parsons hatte jedoch Zweifel am einheitserzeugenden Potenzial hochgradig generalisierter Werte (1964b: 293), worauf beispielsweise Michael Mann (1970) verweist und vorschlägt, dass es gerade das Ausbleiben von Werten bei der breiteren Bevölkerung sei, das die Integration begünstige, weil sie damit keine radikalen politischen Ansichten verfolgten und ganz ohne Werte auch schwer revolutionär mobilisierbar seien. In diesem Sinne erklärt auch Lockwood (1992b: 275) das Ausbleiben der marxistisch erwarteten Revolutionen bei ökonomischen Krisen durch die soziale Isolierung, Apathie und Demoralisierung von Ausgesteuerten. Möglicherweise, so vermutet wie Mann und Lukes auch Cheal (1992: 367), finde sich eine einheitliche Weltsicht nur in Oberschichten. Das heisst, die Wertintegration würde nur bei bestimmten Teilen der Gesellschaft funktionieren.

Die gleichmässige Verteilung oder zumindest die gesellschaftsübergreifende Begründung einer Zivilreligion, ihrer Werte und Rituale, wird von den eben genannten Autoren angezweifelt und die stratifikatorische Differenzierung der Gesellschaft als zentral für die Genese und Geltung von Zivilreligion oder vergleichbaren Konfigurationen postuliert. Dies führt in die Nähe von Thesen dominanter Ideologie, wie sie von Abercrombie und Mitautoren kritisiert werden. Auch in ihnen spielt letztlich die Anerkennung und Übernahme von Werten eine zentrale Rolle, wie im Strukturfunktionalismus, zu dem sie eigentlich eine Alternative darstellen (vgl. Abercrombie et al. 1980). Aus praxistheoretischer Perspektive wäre keine solche Anerkennung, ja nicht einmal eine Kenntnis involvierter Werte notwendig. Die Alternativen müssten dabei nicht in erster Linie Zwänge und Instinkte sein, sondern die Einbettung in Gewohnheiten und die Wirksamkeit sozial vermittelter und nicht-reflektierter Relevanzen in der Pragmatik der Situation. Wenn Menschen in entsprechende Zusammenhänge der Praxis eingebunden sind, dürften sie jenseits der Alternative zwischen legitim/nicht-legitim handeln.

Daran und an die ebenfalls geäusserte Kritik von Lukes kann mit Bourdieu angeschlossen werden: Dieser verweist auf die Wirksamkeit von Grossritualen, an denen „sich die Gruppe in ihrem Umfang und ihrer Struktur zur Schau stellt“ (Bourdieu 1993: 198). Dabei würden im Rahmen von „Offizialisierungen“ Deutungen der Realität eingesetzt, die der Erhaltung der Gesellschaftsordnung dienlich seien. Offizialisierung ist eine Strategie, mit der vorschriftsmässige Praktiken hervorgebracht werden, die private in kollektive und legitime Interessen verwandelt. Gerade in Krisenzeiten muss dies geschickt getan werden, um die grösstmögliche Gruppe zu mobilisieren (vgl. Bourdieu 1993: 201):

„Der Glaube, der stets kollektiv ist, erfüllt und legitimiert sich, indem er öffentlich und offiziell wird, indem er bekräftigt und verkündet wird (\(\ldots \)).“ (Bourdieu 1993: 417)

Werte werden kommuniziert und plausibilisiert, die die Interessenlagen der dominierenden Schichten verschleiern würden. Diese Einschätzung erinnert an die marxistische Position des „falschen Bewusstseins“: Dass Werte eine Rolle spielen, wird anerkannt, die Analyse entlarvt sie aber als von den Interessenlagen der Privilegierten bestimmt. Tatsächlich könne so aber eine Weltsicht erzeugt werden, die zu Einstimmigkeit der Gruppen führen kann und damit zur unbestreitbarsten Form der Objektivität wird (vgl. Bourdieu 1993: 203).

Wenn auch unter Berücksichtigung von Stratifikation und einer marxistischen Lesart, finden sich in Bourdieus Konzept der Offizialisierung Parallelen zu demjenigen der Zivilreligion. Es müssten dieselben kritischen Anfragen gestellt werden: Wird die Einheit überschätzt? Darf ohne Weiteres von einem Fall (bei Bourdieu sind es die Kabylen) auf einen anderen (z. B. die moderne Gesellschaft) geschlossen werden? Bourdieu stellt beispielsweise selbst fest, dass die von ihm beschriebene „kollektive Selbsttäuschung“ dann in eine Krise gerät, wenn die Einheit durch eine Pluralität von Traditionen ihre Selbstverständlichkeit verliert (vgl. Bourdieu 1993: 203–204). Die Frage, wie umfassend verbindliche Offizialisierung dann noch möglich ist, müsste neu gestellt werden.

Gerd Baumanns in kritischer Auseinandersetzung mit Durkheim erfolgte ethnologische Analyse Southalls, eines Vororts von London, beschreibt rituelle Koordination unter den Bedingungen von Diversität ganz im praxistheoretischen Sinne: Diese Koordination funktioniert ohne übergreifende Akteure, die eine zentralisierte rituelle Praxis etablieren können, ohne informierte Absicht oder die Übernahme ausdifferenzierter Symboliken. So beschreibt er, wie Weihnachten als Feiertag auch von aus dem Punjab stammenden, nicht-christlichen Familien gefeiert wird. Von der massenmedialen und kommerziellen Streuung des Weihnachtsrituals inspiriert übernehmen diese Elemente der britischen Weihnachtszeremonie.Footnote 43 Auch hinsichtlich von Kindergeburtstagen werden in der Gemeinschaft von Punjabis in der Gesellschaft vorhandene Vorbilder beigezogen, was zu einer hybriden Praxis mit verschiedentlich kombinierten Elementen führt: Das Fest wird zwar, obwohl im Punjab unüblich, begangen und damit das Individuum in westlicher Weise gefeiert. Statt Kindern werden jedoch erwachsene Verwandte eingeladen und der Jubilar wird traditionell gefüttert, was nur zu mässig grosser kollektiver Efferveszenz führt. Zudem stellt Baumann (1992: 98) fest, dass öffentliche, gemeinsam vollzogene Rituale völlig unterschiedliche Bedeutungen für die involvierten Gemeinschaften haben können. So werden Prozessionen von Sikh-Veteranen des Zweiten Weltkriegs dazu benutzt, ihre gemeinschaftliche Identität gegenüber den „Anderen“ innerhalb der Gesellschaft zu demonstrieren, nicht zur Demonstration der übergreifenden Einheit Grossbritanniens.

Angesichts solcher Verhältnisse warnt Baumann davor, mit Durkheim in essenzialistischer Weise den Idealfall einer Ritualgemeinschaft zu charakterisieren, die das identische Set von Werten und einheitlichen Lesarten von Symbolen aufrecht erhalte und damit ein „monadisches Bild“ von Gemeinschaft erzeuge (vgl. Baumann 1992: 115). Die zunächst als einheitlich erscheinende rituelle Praxis könne mit der Demarkation unterschiedlicher Grenzen und verschiedenen Interpretationen einhergehen.

5.2.3.4 Dull compulsion statt Integration

Auf die Parallele zwischen strukturfunktionalistischen und marxistischen bzw. marxistisch geprägten Argumentationen wurde bereits verschiedentlich hingewiesen.Footnote 44 Beide entsprechende Konzeptionen der Wertintegration bzw. der dominanten Ideologie kritisierten Abercrombie, Hill und Turner (1980, 1990), was letzterer (1990: 3) wie folgt zusammenfasst: „In short, we hoped to propose a solution to the Hobbesian problem of order which did not rest upon an appeal to the idea of a dominant ideology or culture and which did not treat the human subject as a dupe.“

Ihre alternative Erklärung der Stabilität der sozialen Ordnung in der Gesellschaft, fasst Hill (1990: 3) wie folgt zusammen: „The stability of capitalism rests primarily on the dull compulsion of the economic relations of everyday life.“ Dabei referieren sie auf folgende Passage in Marx’ erstem Band des Kapitals:

„Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Übervölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den ‘Naturgesetzen der Produktion’ überlassen bleiben, d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital.“ (Marx und Engels 2008: 765)Footnote 45

Wertintegration ist zwar festzustellen, doch, so Hill (1990: 17) angesichts empirischer Studien zu England, nur bei Oberschichten. „They endorsed accumulation, including the full panoply of private property rights, and managerialism, with its notions of managerial rights and meritocratic individualism.“ Mit Verweis auf den Durkheim der Division kann mit Hill festgestellt werden, dass die wachsende gesellschaftliche Komplexität mit steigenden Interdependenzen einhergeht, die gleichzeitig die Abhängigkeiten erhöhen, was die Kosten des Austritts aus diesen Verknüpfungen erhöht und damit die Chancen der revolutionären Auflehnung gegen die bestehende Ordnung verringert (vgl. Hill 1990: 3).

Es wäre ein Irrtum, wie Hill (1990: 5) von einem Kapitalismus auszugehen, der mittels des rationalen Handelns der Individuen funktioniert. Coram (1987) stellt fest, dass die soziale Ordnung nicht über Werte, sondern über „constraints“ das Handeln der Individuen in einem gesellschaftserhaltenden Sinne strukturiere. Die Individuen würden die Vorgaben des Systems übernehmen, aber nicht, weil sie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit oder gesetzliche Vorgaben als richtig bewerteten, sondern weil sie daraus einen maximalen Nutzen erfahren würden. Parsons wandte gegen entsprechende Theorien ein, dass die Ziele (ends) nicht durch die Individuen definiert werden könnten, da es sonst keine Gemeinsamkeit und keine Verbindlichkeit gäbe, weshalb die Ziele sozial vorgegeben werden müssten. Mit Coram ist dem entgegenzuhalten, dass es Befolgung, „compliance“, ohne Einsicht in explizite Konzeptionen, also Werte im Sinne Parsons gibt.

Dennoch soll Coram hier nicht gefolgt werden. Seine spieltheoretischen Ausführungen dazu, wieso Individuen sich nicht am Umsturz des Systems beteiligen, mögen für Individuen richtig sein, die sich diese Frage tatsächlich so berechnend stellen. Praxistheoretisch ist die Reproduktion der Verhältnisse jedoch als meist unbewusster Vorgang zu verstehen, der nicht auf individuelle rationale Entscheidungen zurückgeführt werden kann, sondern auf eine sich durch die Strukturierung der Aktivität von Individuen reproduzierende Struktur, die durch Gewohnheiten, Anreize, Überzeugungen, Invisibilisierungen usw. funktioniert. Diese Strukturierung gilt es zu erfassen, der Verweis auf rationale Entscheidungen der Individuen reicht nicht aus. Die von Abercrombie, Hill und Turner geforderte „economic theory of social and cultural relations“ (Turner 1990: 231) kann damit kein „rationales Individuum“ in seinem Zentrum haben.

Aber auch dem folgenden Schluss von Hill (1990: 5) kann nicht zugestimmt werden: „thus capitalism has no ideological or cultural conditions of existence.“ Zwar ist die Kritik an einer Vorstellung der Notwendigkeit von Ideologie im Sinne expliziter werthafter Konzeptionen tatsächlich zu übernehmen; dies ist jedoch etwas anderes, als „cultural conditions of existence“ auszuschliessen, zumindest, wenn mit „Kultur“ in diesem Fall nicht nur die Vorstellung ausformulierter Konzeptionen gemeint ist. Hill und Coram folgend wird Kultur mit Ideologie vor dem Hintergrund von Marxismus und Rational Choice zu einem Epiphänomen degradiert und es kommt zu dem von Sahlins (1976: 83) verurteilten naturalistischen Bild eines rationalisierenden Individuums. Im Kern solcher Modelle liegt gemäss Sahlins (1976: 87) genau die von Coram (1987: 231) explizit anerkannte und prinzipielle Trennung zwischen normativer Struktur und pragmatischem Handeln, die sich wie bei Coram mit Verweis auf ökonomistische Modelle, aber auch bei Parsons und dem frühen Geertz wiederfinden lässt und praxistheoretisch zu verwerfen ist. In einer solchen Zuspitzung führt die Kritik an den Theorien dominanter Ideologie zu einem utilitaristischen und im Sinne Parsons’ positivistischen Konzept, das praxistheoretisch ebenfalls nicht vertreten werden soll.

Die sozialen Strukturen werden in Praktiken realisiert, in denen sie von den Individuen reproduziert werden. Darin findet sich eine Deckung von normativer Struktur und pragmatischem Handeln, wobei dies jeweils eine historisch spezifische Konfiguration ist, die es mit Blick auf die Interaktionen und darüber hinausgehenden sozialen Beziehungen zu begreifen gilt. Dass die Gesellschaft diese strukturierende Wirkung nicht als Gemeinschaft ausübt, sollte mit der Diskussion des Konzeptes der Zivilreligion deutlich geworden sein.

5.2.4 Gemeinschaft als Ideal

Bryan Wilson bringt seine Zweifel an funktionalistischen Annahmen hinsichtlich der Rolle von Religion in modernen Gesellschaften wie folgt auf den Punkt:

„It is for communities that religion has fulfilled its essential functions in the past, rather than for societies. The confusion about the functions of religion stems from the Durkheimian tradition. The so-called ‘society’ in which Durkheim examined the functions of religion was, after all, a ‘society’ on a very small scale.“ (Wilson 1976: 262)

Die Anwendbarkeit der Erkenntnisse über die Rolle religiöser Rituale in Gemeinschaften auf die Frage ihrer Rolle in moderner Gesellschaft scheint tatsächlich nicht gegeben. Neben den empirischen Zweifeln, die hier kurz am Fall der media events diskutiert wurden, sind gesellschaftstheoretische und handlungstheoretische Bedenken zu äussern. Aufgrund ihrer räumlichen und sozialen Ausdehnung könnte Gesellschaft, wenn als Gemeinschaft, so am ehesten als Gemeinschaft des Geistes funktionieren. Die zur Abdeckung ihrer Diversität notwendige hochgradig generalisierte Symbolik kann jedoch keine Verbindlichkeit mehr erzeugen. Die Wertintegration funktioniert damit nicht – und ist praxistheoretisch gesehen sowieso nicht nötig.

Festzustellen bleibt jedoch die empirisch erhebbare Tatsache, dass im Rahmen gesellschaftlicher Verhältnisse Inszenierungen von Gesellschaft als Gemeinschaft stattfinden. Während sich dabei national gebundene Zivilreligion tatsächlich eher auf Nation als auf die Gesellschaft als Weltgesellschaft bezieht, dürften mediale Grossereignisse wie olympische Spiele oder Medienereignisse wie Katastrophen und Kriege eher solche Ansprüche erheben. Universale Ideale werden beschworen, Solidarität vorgelebt, die Einheit der Menschheit postuliert.

Der wissenschaftliche Beobachter darf dabei jedoch Anspruch nicht mit Realität verwechseln; die eben genannten Ereignisse strukturieren die Reproduktion von Gesellschaft letztlich nicht so entscheidend, wie das bei den beobachteten gemeinschaftlichen Ritualen der Fall ist. Und es ist nicht die Aufgabe des wissenschaftlichen Beobachters, wie es der Kommunitarismus tut, die Gemeinschaftlichkeit der Gesellschaft einzufordern – eine Forderung, die sich in der Religionssoziologie in der Forderung nach Zivilreligion wiederfindet.Footnote 46 Damit würde Wissenschaft einer Wertung folgen, bzw. sogar religionsproduktiv werden. Theoretische Gründe, die Gemeinschaft der Gesellschaft für den Erhalt der sozialen Ordnung einzufordern, gibt es nicht. Die Inszenierung der Gesellschaft als Gemeinschaft anhand der Postulierung von Werten, von Herkunft, Einheit, Grenzen und massenmedialer Vermittlung bleibt dennoch relevant. Einige analytische Mittel, mit denen dies untersucht werden kann, wurden diskutiert. Wer die real existierende Gesellschaft nach ihrem Funktionieren befragen möchte, muss sie möglicherweise weniger als eine Gemeinschaft, vielmehr als eine Gesellschaft der Individuen verstehen.

5.3 Die Gesellschaft des Individuums

Während im vorherigen Abschnitt Bemühungen von wissenschaftlichen Beobachtern wie auch von Akteuren auf der Ebene des Gegenstandes selbst thematisiert wurden, Gesellschaft analog zur sozialen Ordnung zu strukturieren, die als Gemeinschaft bezeichnet wird, geht es nun darum, die Gesellschaft als durch die Form des Individuums geprägt zu sehen.

Angesichts von Vorgängen wie Vergesellschaftung (siehe Abschn. 4.3.2) scheint die Sozialform Gemeinschaft neuen Formen Platz zu machen, in denen das Individuum eine zentrale Rolle spielt. Haben religiöse Rituale zur Bildung von Gemeinschaft beigetragen, stellt sich die Frage, welche Rolle sie in der Konstitution des Individuums spielen und inwiefern dieses nun eine Rolle in der Reproduktion der sozialen Ordnung spielt, die hier als Gesellschaft bezeichnet wird.

In einem ersten Schritt ist die entsprechende Diskussion bei Durkheim zu betrachten, was als Ausgangspunkt dafür dient, mit der Thematik verbundene Probleme der Konzeptualisierung zu diskutieren. Daran anschliessend wird ein Verständnis von Individualismus, Individualisierung und Individualität erarbeitet, mit dem exemplarische Analysen der religiös-rituellen Herstellung des Individuums durchgeführt werden können.

5.3.1 Individualität und Moral bei Durkheim

Es ist gerade angesichts der Unübersichtlichkeit der Diskussion um Individualismus und Individualisierung, in der sich höchst unterschiedliche Begriffsverwendungen, Diagnosen und Wertungen finden, hilfreich, die diesbezüglichen Positionen Durkheims zu diskutieren. Durkheim, so schreibt Luhmann (1995: 129; 1969: 162–163, Fn 48), sei der soziologische Klassiker, der die sozialwissenschaftliche Frage nach dem Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft am ausführlichsten thematisiert habe.Footnote 47 Tatsächlich ist in seinem Werk die Frage nach der Individualität des Individuums und seinem Bezug zur Gesellschaft zentral, wobei er dazu verschiedene Einschätzungen beisteuert.

5.3.1.1 Differenzierung und Individuum

Arbeitsteilung

Die Unabhängigkeit der Individuen von der Gemeinschaft ist für den Durkheim der Division (Durkheim 1992: 348, 271) kein ursprüngliches Phänomen: „da zu Beginn das Individuum von der Gruppe absorbiert war“. Diese Absorbiertheit führe zu einem Formalismus: „In den niedrigen Gesellschaften ist gerade die äussere Form des Verhaltens bis in seine Einzelheiten vorherbestimmt“ (Durkheim 1992: 350, 274). Beispielsweise sei vorbestimmt, wie der Mensch sich zu kleiden habe oder was er essen müsse. Die Details des Handelns waren, so Durkheim (1992: 351, 275), in verpflichtender Art und Weise vorgegeben.

Die „conscience collective“ gibt jedoch gemäss Durkheim im Verlauf der Geschichte einen Teil des Individualbewusstseins frei. Mit diesem Rückgang des Kollektivbewusstseins einher geht ein Rückgang des Formalismus: Je stärker sich das gemeinsame Bewusstsein vom Konkreten löst, desto mehr Raum öffnet sich für individuelle Variation. Gegeben sind nurmehr abstrakte Regeln, die in unterschiedlicher Art und Weise und mit einer gewissen Freiheit angewandt werden können (vgl. Durkheim 1992: 351, 275). Das gemeinsame Bewusstsein verschwindet zwar nicht völlig: „Allein, es besteht mehr und mehr aus sehr allgemeinen und sehr unbestimmten Denk- und Empfindungsweisen, die Platz schaffen für eine ständig wachsende Vielfalt von individuellen Meinungsverschiedenheiten.“ (Durkheim 1992: 227, 146 f.).

Während im Zuge dieses Wandels auch Religion zurückgeht, die auf das Kollektiv ausgerichtet ist, entsteht ein neuer Fokus für quasi religiöse Wertschätzung: „In dem Mass, in dem alle anderen Überzeugungen und Praktiken einen immer weniger religiösen Charakter annehmen, wird das Individuum der Gegenstand einer Art von Religion.“ (Durkheim 1992: 227, 147). Die Würde der Person wird mit einem Kult versehen, der, wie jeder Kult, einen Glauben aufweist. „Wenn man will, handelt es sich dabei also sehr wohl um einen gemeinsamen Glauben; aber er ist nur durch den Zusammenbruch der anderen Glaubensüberzeugungen möglich geworden und kann folglich nicht die gleichen Wirkungen hervorrufen wie jene Vielzahl erloschener Glaubensüberzeugungen.“ (Durkheim 1992: 227, 147). Dieser Kult des Individuums „(\(\ldots \)) zieht seine Kraft zwar aus der Gesellschaft, aber er bindet uns nicht an sie, sondern an uns selbst. Folglich bildet er kein echtes soziales Band.“ (Durkheim 1992: 228, 147). Das Individuum wird also seinerseits Gegenstand eines Kultes, dieser stärkt aber das Kollektiv nicht so stark, wie es die gemeinschaftlichen Kulte der mechanischen Solidarität vermochten. Das Kollektivbewusstsein kann nicht im gleichen Mass wie die Individualität der Individuen wachsen und sich festigen, die beiden verändern sich im umgekehrten Verhältnis. Damit verlieren die sozialen Bande, die der Ähnlichkeit entstammen, ihre Kraft.Footnote 48

Solidarität wird nun durch einen ganz anderen Vorgang erzeugt: „Die Arbeitsteilung übernimmt immer mehr die Rolle, die früher das Kollektivbewusstsein erfüllt hatte. Sie hält hauptsächlich die sozialen Aggregate der höheren Typen zusammen.“ (Durkheim 1992: 228, 148). Damit habe sie eine wichtigere Funktion als von den Ökonomen anerkannt. Der arbeitsteiligen Zusammenarbeit kommt dabei eine eigene Moralität zu, wobei Durkheim jedoch weniger an ein übergeordnetes, vorgegebenes moralisches System zu denken scheint als an einen spontanen Konsens der Parteien arbeitsteilig interagierender Menschen. Durkheim (1992: 429, 352) spricht von der „Vorstellung, die wie alle komplexen Vorstellungen abstrakt, vage und im übrigen nur kurzfristig wirksam ist“, die nichts erreichen könne „gegen die lebhaften, konkreten Eindrücke [\(\ldots \)], die die Berufstätigkeit beständig in jedem von uns hervorruft“. In arbeitsteiligen Verhältnissen begegnen Menschen einander in ihrer Individualität und dieser Individualität kommt eine zentrale Funktion für genau solche Beziehungen zu. Wie später in den religiösen Ritualen sieht Durkheim in der Berufspraxis eine integrierende Funktion. Insbesondere im Vorwort zur zweiten Auflage der Division betont er (1992: 47 f., viii) über die blosse Praxis hinaus die Wichtigkeit der Berufsgruppen, führt also Gemeinschaftsbildung unter Gleichen wieder als Faktor für Solidarität ein.Footnote 49 Das Individuum fühle sich im Vollzug dieser Arbeit in einem Sinnzusammenhang und der Ausübung der spezifischen Tätigkeiten, die es beherrscht, aufgehoben, was eine Entfremdung von der Arbeit, die die moderne Gesellschaft durch ihre Arbeitsteilung bestimmt, verhindert (vgl. Durkheim 1992: 429, 352). Dies und nicht die Verinnerlichung übergreifender Konzeptionen, wie sie Auguste Comte forderte, und auch nicht der ökonomische Eigennutz, den Herbert Spencer als massgeblich ansah, stellt für Durkheim die Quelle organischer Solidarität dar (siehe Näheres dazu im Abschn. 2.1.1).

Durkheim stellt also eine erhöhte gesellschaftliche Diversität und Individualität fest, verursacht durch fortschreitende Arbeitsteilung. Entlang der Differenzierungen dieser Arbeitsteilung bilden sich neue Einheiten, die Berufsgruppen, die die Individuen einer Berufsgruppe gruppieren und sogar stärker als die Einheiten der mechanischen Solidarität binden. Die intern stark integrierten Berufsgruppen koordinieren sich untereinander gerade auf der Basis ihrer Verschiedenheit, da Arbeitsteilung zu wechselseitigen Abhängigkeiten führt.

Arbeitsteilung führt für den Durkheim der Division zu Individualität, aber – vor allem, wenn man Durkheims Vorwort zur zweiten Auflage berücksichtigtFootnote 50 – auch zu neuen Formen von Solidarität wie den Berufsgruppen, die das Individuum intern binden und durch ihre externe Koordination, im Fall der Berufsgruppen durch die Arbeitsteilung, die Gesellschaft als Ganze ordnen. Wenn Differenzierung weiter denn als wirtschaftliche Arbeitsteilung erfasst wird, gerät dieses Erklärungsmuster an seine Grenzen, da dann Differenzierungen auch quer zu den Einheiten der Berufsgruppen erfolgen. Dies ist der Fall, wenn moderne Gesellschaft als funktional differenziert gefasst wird – was als nächstes im Hinblick auf die Konsequenzen für das Individuum zu diskutieren ist.

Funktionale Differenzierung

Auch neuere Differenzierungstheorien erklären wie Durkheim die Individualität aus der Differenzierung: In segmentär differenzierten sozialen Zusammenhängen werden Individuen als Angehörige einer bestimmten Gemeinschaft definiert, in stratifizierten Gesellschaften als Angehörige einer bestimmten Schicht. Funktionale Differenzierung ordnet im Gegensatz zu diesen Differenzierungsformen nicht Personen als Ganze den ausdifferenzierten Systemen zu: „Individuen können ja nicht existenziell auf Funktionssysteme verteilt werden.“ (Luhmann 1989a: 347). Sie stellen sich vielmehr verschiedenen Teilsystemen zur Verfügung, so beispielsweise religiöser, wirtschaftlicher und politischer Kommunikation. Das heisst, dass in funktional differenzierter Gesellschaft das Individuum nicht durch eine umfassende Zugehörigkeit definiert wird, da die einzelnen Teilsysteme voneinander unabhängig auf das Individuum zugreifen – dies steht im Widerspruch zu einem Bild von Differenzierung als blosse wirtschaftliche Arbeitsteilung. Funktionale Differenzierung weist auf höhere Freiheiten und Ansprüche für das Individuum und spezifischeren Zugriff auf Individuen durch Organisationen hin. Nicht der Angehörige eines Stamms wird bestraft oder das Mitglied einer Klasse ausgebeutet, sondern einzelne Personen als Individuen.

Im Gegensatz zu gemeinschaftlichen Formen des Sozialen rückt in modernen Gesellschaften der soziale Hintergrund weit von der Interaktion weg (siehe Abschn. 2.8.2). Herkunft, Familie und Religion sind nicht von Belang, wenn die Arbeit in der Bank verrichtet oder der Freizeit gefrönt wird. Diese zunehmende gegenseitige Unbestimmtheit von Kommunikationen innerhalb von Gesellschaft, das heisst, die durch soziale Differenzierung angestiegene Komplexität,Footnote 51 führt dazu, dass die Person in ihrer Individualität zu einem zentralen Problem der Lebensführung wird. Während sich in interaktionsnahen Gemeinschaften die Personen nirgends stark davon unterscheiden, worunter sie auch anderswo bekannt sind (vgl. Luhmann 1984: 567), erhöht sich der Druck auf das Individuum in modernen Gesellschaften dadurch, dass man „(\(\ldots \)) um Person sein zu können, prätendieren können [muss], dieselbe Person auch anderswo sein zu müssen.“ (Luhmann 1984: 575; vgl. auch Goffman 1974: 287–300). Das heisst, dass die „Identität“ des Individuums von diesem selbst hergestellt werden muss, dies in Form seiner Biographie, die einzelne Teilsysteme überschreitet (Nassehi 1997: 128–130). Die soziale Position, so schliesst Nassehi (1997: 130), verlagert sich damit von der Sach- in die Zeitdimension hinein. Da das Individuum von den einzelnen Teilsystemen zu einem grossen Teil unbestimmbar und nicht mehr durch Inklusion sondern durch Exklusion definiert wird, wird es, so Luhmann (1989b: 158), „unbekannt“ und „geheimnisvoll“ und damit zu einem Wert von Ideologien.

Dass aus der Sicht eines Teilsystems die Einbindungen des Individuums in die jeweils anderen Teilsysteme wenig relevant sind, hat auch Folgen für die Relevanz von Religion: Die religiöse Inklusion ist anderswo nicht von Belang, und so lösen sich die verschiedenen in der Gesellschaft bestehenden Inklusionsformen von der religiösen Inklusion. Dies bedeutet unter anderem, dass Religion nicht durch die Verknüpfung beispielsweise mit Politik Stabilität gewinnen kann. Sie kann Personen auch nicht mehr mit gesamtgesellschaftlichen Folgen ein- oder ausschliessen.Footnote 52 Auf der Ebene der Verknüpfungen gesellschaftlicher Teilsysteme führt dies zu einer Entbehrlichkeit von Religion, da keine Anforderungen mehr seitens der Inklusion anderer Teilsysteme bestehen. Von religiöser Kommunikation ist angesichts dieser Vorgänge zu erwarten, dass sie sich an der Referenz „Individuum“ orientiert und versucht, die Seele des Einzelnen zu retten und nicht die Gesellschaft (vgl. Luhmann 1989a: 345–346). Damit verabschiedet sich Religion aus der Gesellschaft, bzw. wird es schwierig, ihre Leistungen für andere Teilsysteme zu identifizieren.

Religion ist aber nicht nur gewissermassen „Opfer“ dieser Vorgänge der Individualisierung: Neben der gesamtgesellschaftlichen Veränderung der Differenzierungsform werden auch spezifische religiöse Veränderungen als Faktor dieser Individualisierung gesehen. Durkheim (1992: 346, 270;1986b: 64, 21–22) verweist auf die Rolle von Religion, so habe das Christentum dem Individuum bereits früh einen hohen Stellenwert eingeräumt, insbesondere der Protestantismus (vgl. Durkheim 1990a: 158). Im Anschluss an Weber wiederum wird die geregelte, reflexive Selbstbeobachtung im Puritanismus als entscheidend bei der Herausbildung des modernen Individuums gesehen (z. B. Paden 1993) und Ernst Troeltsch betont in seiner Version der Protestantismusthese die Wichtigkeit des lutherischen Protestantismus für die Entwicklung des modernen Individuums. Für Turner (1991: 162) ist „individuality“ „a romantic theory of the subjective interior of persons“, die in der christlichen, gerade auch der pietistischen Mystik ihren Ursprung hat.

Funktionale Differenzierung verunmöglicht die umfassende Definition des Individuums durch bloss ein Funktionssystem wie im Fall der Arbeitsteilung. Das Individuum wird zu einer neuen Einheit, die es durch Biographie im Zeitverlauf erzeugt. Damit scheint es auch von der Herstellung gesellschaftlicher sozialer Ordnung, wird sie als durch funktionale Differenzierung geprägt gesehen, entkoppelt. Durkheim dürfte das erkannt haben, vor allem insofern er selbst Differenzierung als mehr als nur wirtschaftliche Arbeitsteilung sah, und arbeitete deshalb weiter an der Frage des Zusammenhanges zwischen Individuum und moderner Gesellschaft.

5.3.1.2 Individualismus als Moral

Durkheim schreibt in der Division dem Individualismus nicht die Fähigkeit der Herstellung von Solidarität zu, da die kollektiven Gefühle fehlten (vgl. Seidman 1985: 115; Lukes 1975a: 341). Die Zuständigkeit für Solidarität weist er den Berufsgruppen zu.Footnote 53 Im Text „Individualismus und die Intellektuellen“ traut er jedoch dem Individualismus mehr zu und argumentiert vehement, dass er „wie alle Moralen [sic] und Religionen selbst ein gesellschaftliches Produkt ist“ (Durkheim 1986b: 70, 26), also dafür, dass „das Individuum eher Produkt der Gesellschaft als dessen Ursache ist“. Dabei – und das ist das Entscheidende – sieht er den Individualismus in einem aktiveren, nicht bloss über die strukturelle Konfiguration von komplementärer Ungleichheit zum Kollektiv beitragenden Licht (vgl. Seidman 1985: 115) und charakterisiert ihn als „moralischen Individualismus“. Diesen identifiziert er sogar als einzige Möglichkeit der Herstellung von Solidarität. Durkheim stellt eine auf das Individuum und seine Unversehrtheit gerichtete Moral fest, die das Individuum gleichsam zu einem heiligen (sacré) Objekt erklärt. In dieser Religion sei der Mensch zugleich Glaubender als auch Gott (vgl. Durkheim 1986b: 57, 12).

Relevant für diesen Umschwung ist, neben der möglicherweise wissenschaftlichen Unzufriedenheit mit den Antworten der Division, der veränderte soziale und politische Kontext des Textes, nämlich die Dreyfus-Affaire, in deren Rahmen Durkheim für eine starke Rolle der Intellektuellen plädierte und gegen Vorwürfe, sie würden für einen zersetzenden, anarchischen Individualismus stehen, antrat (vgl. Lukes 1975a: 335).

Individualismus ist für Durkheim hier nicht mehr ein Kult, der bloss die Vereinzelung bestätigt, sondern eine „Religion der Menschheit“, die alles habe „(\(\ldots \)) was nötig ist, um zu ihren Gläubigen in einem nicht minder imperativen Ton zu sprechen wie die Religionen, die sie ersetzt.“ (Durkheim 1986b: 59, 15). Der Individualismus, so Durkheim an derselben Stelle weiter, weist „(\(\ldots \)) ein Ideal zu, das unendlich weit über die Natur hinausgeht.“ Damit handelt es sich also nicht um eine biologisch-egoistisch verhaftete, sondern eine moralische Angelegenheit, in deren idealem Zentrum der Mensch und die Sympathie für ihn steht, dessen Dogma die Vernunft sei und deren Vollzug ihre Praxis. Diese einzig mögliche Religion der Menschheit sei auch unter hochgradig differenzierten Verhältnissen möglich, da sie sich auf die einzige Gemeinsamkeit zu stützen wisse, die noch bliebe, nämlich die „Eigenschaft als Mensch“ (Durkheim 1986b: 63, 21). Das Individuum habe etwas Göttliches und jeder Angriff auf dieses werde damit zum Sakrileg, betont Durkheim auch im Suicide. Es handelt sich, im Original zitiert, nicht um „l’individu sensible, invisible“, sondern um den „homme général, l’humanité idéale“ (1990a: 382).Footnote 54 Dieser Logik folgend verneint Durkheim die These, dass der Selbstmord zunehmend akzeptiert werde: Die Heiligkeit des Individuums ist eine kollektive Moralvorstellung mit bestimmten verbindlichen Regeln, die das Individuum überhaupt schützen, auch Selbstschädigung sei ein zu ahnender Verstoss dagegen. Durkheims Rede davon, dass das Individuum heilig sei, so zeigt Filloux (1990: 45), ist keineswegs metaphorisch, die Person ist eine heilige Sache, gleichzeitig Realität und Ideal, verboten und angestrebt. Die Verletzung einer Person wie Alfred Dreyfus ist damit gleichzeitig auch die Verletzung der Gesellschaft.

Diese Religion der Menschheit hat auch eine institutionelle Grundlage: Verschiedene Institutionen müssten dem geteilten Ideal des moralischen Individualismus und seiner Repräsentierung verpflichtet sein, so auch der Staat. Dies führt zu einem Konzept, das als Vorläufer von Bellahs Zivilreligion gesehen werden kann, schliesst Müller (1988: 145): „Committing the state to protecting and enlarging individual rights, it would become a kind of civic, or rather civil, religion in a modern society.“ Mit Luhmann (1995: 128) ist schliesslich festzustellen, dass für Durkheim Individuum und Gesellschaft nicht als Kontrahenten in einem Nullsummenspiel zu thematisieren sind, sondern in einem Steigerungsverhältnis gesehen werden sollten: Mehr Gesellschaft kann in dieser Perspektive durchaus mehr Individualität ermöglichen.

5.3.1.3 Individualkult als Resultat kollektiver Kräfte

Die Dezidiertheit der im Text zum Individualismus und den Intellektuellen eingenommenen Position findet sich in den Formes nicht mehr, hier beschäftigt sich Durkheim jedoch mit einer weiter entwickelten Begrifflichkeit intensiver mit der gesellschaftlichen Erzeugtheit des Individuums: Der Mensch ist überhaupt nur Mensch, insofern er die grundlegenden Kategorien des Denkens und Handelns übernimmt, die von der Gesellschaft gebildet und dem biologischen Wesen aufgedrängt werden (vgl. Durkheim 1994: 38, 24). Dies gilt gemäss Durkheim auch für scheinbar sich aus dem Individuum speisende Vorstellungen wie diejenige der Seele des Individuums, die ebenfalls eine Manifestation überindividueller Kräfte darstellten. Im Körper des Individuums werde die emotionale Erregung gespürt, die in der kollektiven rituellen Praxis entsteht, und dieser wird deshalb zum Ansatzpunkt für Vorstellungen der Seele (vgl. Durkheim 1994: 366, 386; Mellor 1998: 106). Damit sind es die kollektiven Kräfte, die durch entsprechende Vorstellungen das Individuum als Seele und damit als mehr als blosse körperliche Existenz konzipierten:

„Mit einem Wort: das einzige Mittel, mit dem wir uns von physischen Kräften befreien können, ist, ihnen die kollektiven Kräfte entgegenzusetzen.“ (Durkheim 1994: 369, 389)

Auch die „Individualkulte“ seien, so Durkheim (1994: 568, 607) explizit, sozialen Ursprunges, „denn die religiösen Kräfte, an die sie sich wenden, sind nur individualisierte Formen von kollektiven Kräften.“ Auf sich alleine gestellt könnten die Emotionen auch gar nicht entstehen. So sei beispielsweise auch die Trauer von Individuen nicht einfach Ausdruck einer individuellen Traurigkeit, sondern eine soziale Pflicht, die dem Individuum auferlegt werde (vgl. Durkheim 1994: 536, 572). Die Idee des Individuums und seiner Persönlichkeit spiegle etwas Unpersönliches und das heisst etwas Kollektives wider (vgl. Durkheim 1994: 367, 387). Der Durkheim der Formes (1994: 294, 305) schliesst deshalb, dass gerade auch auf das Individuum bezogene Ideale, z. B. Freiheit und das Recht auf freie Deliberation, die durchaus einer blossen Übernahme gemeinschaftlicher Vorgaben entgegengesetzt sind, kollektiv erzeugte und geteilte Vorstellungen darstellen, die als „heilig“ gelten und deren Missachtung soziale Sanktionen nach sich ziehen.

Der Forscher müsse sich davor hüten, diese Ideale als individuelle Angelegenheiten zu betrachten, vielmehr handelt es sich um an der Figur des Individuums festgemachte, im Kollektiv begründete Forderungen (vgl. Durkheim 1994: 539, 575). Die Existenz des „Individualkults“ bringt eine soziologische Erklärung von Religion nicht in Verlegenheit: „denn die religiösen Kräfte, an die sie sich wenden, sind nur individualisierte Formen von kollektiven Kräften.“ (Durkheim 1994: 568, 607). Den Individuumsbezug sieht Durkheim als historisch variabel an, wobei die religiöse Kraft sich im Laufe der Geschichte partikularisiert. Bereits die Vorstellung eines individuellen Totems in den für Durkheim elementaren Formen stellt eine erste Form des „individuellen Kult[es]“ (Durkheim 1994: 568, 606) dar. Im Laufe der Geschichte sieht Durkheim (1994: 544, 581) „fortgeschrittenere[.] Religionen [\(\ldots \)], in denen die religiösen Kräfte individualisiert sind“. Diese entwickelten sich parallel zur wachsenden Differenziertheit der Individuen und dem Wert, der ihnen zugeschrieben würde. Gerade das Christentum habe dabei eine wichtige Rolle gespielt (vgl. Durkheim 2002: 22–23).Footnote 55

Gewisse übergeschichtliche Faktoren sind freilich auch für Durkheim gegeben. Er anerkennt, dass die körperliche Verfasstheit des Menschen in der Herausbildung des Individuums eine Rolle spielt, da das Vorhandensein einzelner Körper minimal individualisierte Menschen bereits vorgibt. Die historische Konstitution des Individuums wird aber von dieser Verfasstheit nicht bestimmt. So ist auch mit Luhmann die moderne Form des Subjekts nicht als determinierte Fortsetzung des biologischen Menschen zu sehen. Ähnlich wie Durkheim anerkennt Luhmann die Individualität des psychischen Erlebens, sieht das Individuum aber nicht als dessen blosses Resultat:

„Subjektheit ist, im Unterschied zur Ich-haftigkeit des Erlebens, keine angeborene oder durch phänomenologische Reflexion zur Evidenz zu bringende Gegebenheit, sondern eine späte, gesellschaftlich höchst voraussetzungsvolle Form der Selbstkonstitution des Menschen.“ (Luhmann 1971a: 53)

Das Individuum ist also ein historisches Produkt – in der vorliegenden Arbeit kann allerdings die Geschichte dieser Konstitution nicht rekonstruiert werden, vielmehr soll der Blick darauf liegen, wie dies in der sozialen Ordnung der modernen Gesellschaft geschieht.

5.3.1.4 Kult des Individuums

Den deutlichsten Bezug zwischen Individuum und sozialer Ordnung identifiziert Durkheim in seinem Konzept eines „Kultes des Individuums“. Hier kann auch Kritik ansetzen. Ein entsprechender Kult kann, darauf weisen Abercrombie, Hill und Turner (1986: 16) hin, zu einer Konzeption einer durch Individuen stabilisierten sozialen Ordnung führen, die keinen Raum für eine Antinomie Individuum-Gesellschaft lässt. Das Individuum wird zur sozialen Institution, zum „fait social“, der das Soziale repräsentiert und konstituiert. Moralischer Individualismus, so die genannten Autoren, sei in diesem Fall eng mit Durkheims Soziologismus verbunden, was an die Vorwürfe hinsichtlich einer „oversocialized conception of man“ erinnert, die Dennis Wrong (1961, siehe Abschn. 2.4.2.1) an Parsons übte.Footnote 56

Eine Möglichkeit, ein solches Bild zu vermeiden, wäre, die Interaktion als Ort zu sehen, in dem diese Herstellung des Individuums stattfindet, wobei Interaktion als kontingent und nicht durch übergreifende Vorgaben determiniert zu sehen ist. Wie in der vorliegenden Untersuchung gemacht, müssten deshalb Interaktionen als eigene Systeme innerhalb der Gesellschaft gesehen werden, die eine relative Unabhängigkeit von dieser aufweisen (siehe dazu Abschn. 2.8.2) und die mit den entsprechenden theoretischen Mitteln zu analysieren sind (siehe dazu das Kap. 3).

Auch der Bezug auf Goffman kann helfen, ein deterministisches Bild des Individuums zu vermeiden. Wie bereits gezeigt, kann mit ihm – und damit im Anschluss an Durkheim – die menschliche Person als „sacred thing“ (Goffman 1982: 73, 91) gesehen werden, das Resultat einer Zeremonie ist und dem rituelle Aufmerksamkeit zugute kommen muss (siehe Abschn. 3.1.2). Entscheidend ist, dass für Goffman dieser Kult in der Moderne nicht mehr in einer übergreifenden, zentral organisierten Religion gepflegt wird, sondern dies in alltäglichen, dezentral auftretenden Interaktionen geschieht. Das, was Goffman als „interpersonal rituals“, also elementare alltägliche Interaktionen nennt, stärkt „civility“ und „good will“ und verleiht den involvierten Individuen ein kleines Stück Heiligkeit (sacredness) (vgl. Goffman 1971: 63).Footnote 57 Oder, ebenfalls an Durkheim anschliessend, ist mit Rawls (2012: 480) das Augenmerk auf selbstregulierende, das heisst nicht in ein übergreifendes Kollektivbewusstsein o. ä. eingebettete Praktiken zu legen, die das moderne Verständnis von Individuum, seinen Freiheiten und seinen Pflichten hervorbringen. Zusätzlich zur Kontingenz der rituellen Interaktionen sind sie also dezentral konstituiert, was den Raum für Indetermination weiter öffnet.

Durkheims Blick auf den Kult des Individuums kann durch den Einbezug von Institutionen weiter differenziert werden. So sieht Müller (2009) bei Durkheim auch Ansätze dafür, dass politische Institutionen für die Garantierung des Individualismus massgeblich sein könnten. Eine demokratische Ordnung beispielsweise garantiert dem Individuum Schutz und Freiheit: Säkularisierung, Differenzierung und individuelle Autonomie führten dabei zu einer Pluralität von Institutionen, die der übergreifenden demokratischen Ordnung verbunden sind. Diese Pluralität würde die Übermacht einzelner Gruppierungen über Individuen verhindern, womit gerade die Diversität der Institutionen die individuelle Freiheit ermöglichen würden. Müller zeigt bei Durkheim Ansätze zu einer solchen Erklärung sozialer Ordnung – eine politische Soziologie, die genauer aufzeigen würde, wie das geht, finde sich jedoch, so schliesst Müller, nicht. Autoren wie Robert Bellah oder Jürgen Habermas führen hier Durkheim weiter (vgl. Müller 2009: 228).Footnote 58

Solche beim Kult des Individuums ansetzenden Durkheimrezeptionen sind auch Gegenstand von Kritik. So ist Theodore Kemper bezüglich dieser Fortsetzung der Moralität der Gruppe in die Moralisierung des Individuums hinein höchst skeptisch. Goffman setzte Durkheims „romance with the individual“ fort, die dieser in den Formes zu einem Höhepunkt kommen liess, und weitete sie sogar auf das private Leben des Individuums aus (vgl. Kemper 2011: 103). Tatsächlich sah Durkheim seinen „heiligen Individualismus“ als eine Forderung und nicht als eine Realität in Frankreich an, diesbezüglich ist Kemper (2011: 104) recht zu geben. Im Text zum Individualismus und den Intellektuellen, in dem Durkheim dem Individualismus am meisten zutraut, ist Durkheim politisch stark engagiert. Sowieso zeigt sich dabei aber die Verknüpfung soziologischer Analyse und moralischer Forderung, die noch zu problematisieren sein wird.

Ebenfalls anders als Durkheim wendet Anthony Giddens (1991) den Blick auf die Moralisierung des Individuums. Analog zu Durkheim beobachtet er eine zunehmende Zentralität des Individuums in der modernen Gesellschaft. Und er sieht sie, in Übereinstimmung mit den Ausführungen zu Arbeitsteilung und funktionaler Differenzierung, als Resultat der Entbettung des Individuums aus gemeinschaftlichen Bezügen, im Rahmen derer das Selbst zu einem reflexiven Projekt werde und der zentrale Punkt die Authentizität seiner Erfahrung (vgl. Giddens 1991: 32). Individualität im Sinne von Einzigartigkeit würde dabei selbst zum Wert, zur angepriesenen Ware, die nicht in gemeinschaftlichen, sondern in marktförmigen Beziehungen angeboten werde. Giddens spricht von einer Kommodifizierung des Individuums, bei dem eine Nachfrage erzeugt und das darüber in den Konsum eingebunden werde. Wie Durkheim in seiner Vorstellung des Kults des Individuums sieht er dieses also im Rahmen seiner Individualität gerade stark in soziale Zusammenhänge eingebunden. Allerdings betont Giddens nicht wie Durkheim die Moralität dieses Vorgangs, sondern die Notwendigkeiten und Zwänge, die damit erzeugt würden. Die institutionelle Einbindung, so liesse sich im losen Anschluss an Marx weiter argumentieren, wird dabei verschleiert, da die soziale Hergestelltheit und Angefordertheit dieser Individualität und der damit verbundenen Bedürfnisse durch die Figur der individuellen Authentizität verdeckt werden: Dem Individuum wird in einer individualisierten Welt das Gefühl gegeben, es sei für sein Schicksal selbst verantwortlich, tatsächlich ist es aber in seiner Individualität sozial definiert.

Beim Versuch einer Zusammenfassung über Durkheims Werk hinweg kann erstens geschlossen werden, dass dieser das Individuum als Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen sieht. Zweitens ist mit Durkheim festzuhalten, dass unter modernen, arbeitsteiligen Bedingungen die Individualität ansteigt, was sich in Bezug zur Arbeitsteilung oder, umfassender, zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft setzen lässt. Drittens schreibt Durkheim dem Individuum in der Moderne einen sakralen Charakter zu, so werde es selbst Gegenstand der Religion, als neue Gottheit tritt es gewissermassen die Nachfolge der Totemwesen der Aborigines an (vgl. Filloux 1990: 42). Daraus lässt sich schliessen, dass das Individuum für Durkheim eine Form des Sozialen darstellt, wie es für ihn der Totemismus war. Das heisst, dass Individualität und soziale Ordnung nicht in einem Gegensatz zueinander stehen. Die Frage bleibt, welche Rolle religiöse Rituale in der Strukturierung dieser Sozialform der Gesellschaft haben, die als Individuum bezeichnet werden kann. Vor der Diskussion entlang von Fallbeispielen sind Probleme einer entsprechenden Konzeptualisierung und dafür geeignete Variablen zu diskutieren.

5.3.2 Probleme der Konzeptionalisierung

Zwei Schwierigkeiten in der Thematisierung von Individualismus/Individualisierung scheinen am vordringlichsten: neben der oben mit Kemper bereits angesprochenen Frage von Wertung und Normativität diejenige nach unterschiedlichen Begrifflichkeiten und Übersetzungsproblemen.

5.3.2.1 Normativität

Individualisierung und damit verwandte Konzepte waren stets Gegenstand impliziter oder expliziter moralischer Stellungnahmen durch Sozialwissenschaftler. Dies zeigt sich auch bei Durkheim, bei dem, so bemerkt Filloux (1990: 42), hinsichtlich der Rolle des Individuums Bemerkungen zu „ce qui est“ und „ce qui doit être“ ineinander übergehen. Damit unterscheidet er sich nicht von anderen Autoren – so bleibt Schroer (2001) nichts anderes übrig, als die positive oder negative moralische Beurteilung von „Individualisierung“ und damit die Frage des Wünschenswerten als Differenzierungskriterium seiner Übersicht über soziologische Ansätze zum Thema zu nehmen. Das durch hohe Individualität gekennzeichnete Individuum wird gemäss Schroer (2001: 277) von Autoren wie Parsons, Durkheim und Luhmann als Gefährdung für den sozialen Zusammenhang thematisiert.Footnote 59 Individualität wird mit Selbständigkeit und Handlungsmacht verbunden, das heisst als Freiheit gesehen und diese Freiheit als potenziell problematisch für die soziale Ordnung eingestuft. Auf der anderen Seite wird das Individuum von Autoren wie Weber, Adorno, Horkheimer und Foucault als gefährdet thematisiert, da gerade unter individualisierten Bedingungen der gesellschaftliche Zugriff auf das Individuum besonders umfassend sei. Hier wird die soziale Ordnung als stark eingeschätzt und zwar so, dass sie auf individualisierte Individuen ungehemmt zugreifen und diese bestimmen kann. In solchen Konzeptionen erscheint es als gefährdet, „als manipulierbares Rädchen im Getriebe, kaum zu eigenständigen Handlungen und Entscheidungen in der Lage“ (Schroer 2001: 11). Entweder sei, so Schroer, die soziologische Beschäftigung mit dem Individuum von Sorgen um die Gesellschaft angesichts zu selbständiger Individuen oder Sorgen um die Individuen angesichts zu starker gesellschaftlicher Strukturen geprägt.

Immerhin sehen verschiedene Autoren auch eine Ambivalenz von Individualisierung: Bellah et al. (1985: 150) stellen parallel zum Individualismus einen zunehmenden institutionellen Zugriff auf das Individuum fest, den sie, Alasdair MacIntyre folgend, als „bürokratischen Individualismus“ bezeichnen. Dieser Zugriff erfolge politisch (Wahlen, Ämter, Steuern), wirtschaftlich (Angestelltenverhältnis), rechtlich (Individuum als Adressat von Rechten und Pflichten) und wissenschaftlich (medizinische Institutionen, Erhebungen). Bereits de Tocqueville, so Meyer (1986: 211), habe die kontrollierende Seite des Individualismus in Amerika festgestellt: Jedes Individuum müsse als solches in einem moralischen Universum Rechenschaft ablegen. Dieses Universum ist für alle dasselbe: „individualism is required to be in tune with a highly standardized and universalistic vision of both practical reality and moral purpose“ (Meyer 1986: 211). Das amerikanische Individuum sei frei, als standardisiertes Individuum zu leben. Bei Foucault (1987) findet sich ebenfalls eine solche Ambivalenz: Einerseits wird das Individuum im Rahmen von Pastoralmacht ausgesondert und diszipliniert, andererseits wird es gleichzeitig auch Gegenstand von Pflege. Und auch Durkheim sieht letztlich Disziplinierung und Ermächtigung des Individuums miteinander verknüpft: Vernunft ist für Durkheim die Instanz, die Individuen dazu bringt, gegenseitig Perspektiven anzuerkennen und sich daran auszurichten. Auf dieser Grundlage sei durch rationale Begründung auch Autorität möglich (vgl. Durkheim 1986b: 61, 18); damit baut Disziplinierung auf rationaler Legitimation und individueller Einsicht auf. Andererseits erwähnte Durkheim auch individuelle Praxis wie Askese, die der Disziplinierung des Individuums über das Ertragen von Deprivationen und Schmerzen dient, was eine Abwendung vom „utilitaristischen“ und profanen Alltag, eine Verneinung des Instinkts und der Natur bedeute (vgl. Durkheim 1994: 421–429, 444–453; Rawls 2004: 198).

Werte, verstanden als „Konzeptionen des Wünschenswerten“, sind bei diesen Ansätzen und Autoren unterschiedlich offensichtlich. Zumindest aber kann gesagt werden, dass entsprechende Thematisierungen oft eine bestimmte Vorstellung des Individuums voraussetzen, auf die hin etwas positiv als Pflege oder negativ als Disziplinierung gesehen werden kann. Dagegen scheint es jedoch gerade wichtig, so kann mit Schroer (2001: 135) geschlossen werden, nicht von der Konzeption eines „eigentlichen Individuums“ auszugehen, das von bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen unterdrückt oder gar liquidiert wird. Wie Diskussionen zwischen Historikern zeigen (vgl. Rosenwein 2005), kann nicht ein bestimmtes (fiktives oder reales) Modell des Individuums zum Standard erhoben und alternative Konfigurationen als dem nicht entsprechend abgeurteilt werden. Die Kriterien für die „Individualität“ sind problematisch: Die historische Spezifität von Konzeptionen des Individuums und Vorstellungen des „Ich“, die die Gefahr mit sich bringen, in der Vergangenheit nur nach dem eigenen Verständnis von Individualität zu suchen, ist ein Fehler, den die Autoren u. a. bei Jacob Burckhardt und Charles Taylor ausmachen (vgl. Rosenwein 2005: 42).Footnote 60 Andere Formen von Individualität werden mit einem solchen Massstab nicht erkannt oder sogar in Bezug zu diesem als defizitär identifiziert. Deshalb soll hier unter Anerkennung der Möglichkeit anderer Formen der Individualität und der Ausklammerung der Frage nach einem Ausgangs- oder Endpunkt des Vorgangs der Individualisierung das moderne Individuum der Gegenwart als Explanandum gesetzt werden. In historischer Hinsicht soll lediglich ansatzweise beleuchtet werden, so z. B. über die Diskussion des Zusammenhangs von Differenzierung und Individualisierung, inwiefern seine Konstitution Teil des beschriebenen Vorganges der Modernisierung ist.

Eine weitere mit der Normativität der Thematik verbundene Gefahr ist die Übernahme von im Feld vorkommenden Normen und Selbsteinschätzungen durch den Wissenschaftler. So warnt Jon Bloch (1998: 299) im Rahmen seiner Forschung zu alternativer Religiosität zu Recht davor, Selbstbeobachtungen von Vertretern des beobachteten Zusammenhanges einfach zu übernehmen: „(\(\ldots \)) it should be remembered that what the social actor perceives as being individual self-autonomy is not necessarily the case to the outside observer.“ „Individualism in several guises“, so schliesst auch Hammer (2010: 50), „is perhaps the most highly prized norm of New Age religion.“ Dieser Individualismus werde dabei oft auch von wissenschaftlicher Seite als faktisch vorhandene Individualität gesehen. So werde dieser Wert, bemerkt Hammer mit Verweisen auf Autoren wie Luckmann und Sutcliffe, von wissenschaftlicher Seite zur Beschreibung der sozialen Form des Feldes verwendet. Das stelle eine nicht problematisierte „transition from emic ideal to empirical fact“ (Hammer 2010: 50) dar.

5.3.2.2 Übersetzungsprobleme: Individualismus, Individualität, Individualisierung

Die zweite Problematik betrifft unterschiedliche Begrifflichkeiten und Verständnisse, mit denen in verschiedenen Wissenschaftstraditionen über den Vorgang der Zunahme der Relevanz des Individuums gesprochen wird. So dürfte der Begriff der „Individualisierung“ weitgehend ein Produkt deutschsprachiger Soziologien sein (vgl. Wohlrab-Sahr 1997), entsprechend findet sich der Begriff auch in seinen Übersetzungen, beispielsweise als „individualisation“, nur selten ausserhalb des deutschen Sprachraums. In der angelsächsischen, aber auch in der französischen sozialwissenschaftlichen Diskussion ist „individualism“ bzw. „individualisme“ prominenter, was sich auf Deutsch als „Individualismus“ ebenfalls, aber weniger häufig, findet. Im Folgenden soll in aller Kürze ein Verständnis der hier verwendeten Begrifflichkeiten erarbeitet werden: Individualismus, Individualität, Individualisierung.

Individualismus

In der englischen sozialwissenschaftlichen Literatur findet sich die Rolle des Individuums meist über den Begriff „individualism“ diskutiert. In seiner modernen angelsächsischen Bedeutung, so Turner (1991: 168), gehe dieser auf die englische Übersetzung von de Tocquevilles „De la démocratie en Amérique“ von 1835 zurück. Der Begriff diente dann, so Abercrombie, Hill und Turner (1986: 2; vgl. auch Bellah et al. 1985), der Bezeichnung einer ökonomischen und politischen Doktrin des Individualismus, die wiederum im England des 17. Jahrhunderts ihre Ursprünge hat. In seiner Geschichte sei das Konzept des „Individualismus“ jedoch mit sehr unterschiedlichen Betonungen verwendet worden, beispielsweise auf Freiheit und Talent, aber auch auf dem Individuum als Gefahr für das Soziale (vgl. Abercrombie et al. 1986: 5–6). Trotz dieser unterschiedlichen Konnotationen lässt sich schliessen, dass mit „Individualismus“ mehr oder weniger realisierte normative Programme bezeichnet werden, in denen dem Individuum eine hohe Relevanz zugeschrieben wird. So beschreibt Meyer (1986: 208) Individualismus als „one of the constitutive doctrines of modern society“. In den Worten Turners (1991: 160) handelt es sich bei Individualismus um eine Ideologie (vgl. auch Luhmann 1989b: 153).

Individualität

soll dagegen als Mass dafür definiert werden, wie stark Individuen in Strukturen oder Semantiken als solche berücksichtigt werden.Footnote 61 Von Individualität soll beispielsweise dann die Rede sein, wenn das Individuum durch seine eigene Biographie und nicht durch einen bestimmten, unveränderlichen sozialen Zusammenhang, wie z. B. seine Herkunft, bestimmt wird. Dabei spielt das Individuum sowohl als Gegenstand als auch als Entscheidungsträger eine Rolle. In solchen Fällen ist beispielsweise die Individualität grösser, als wenn zwar insofern von Individualität die Rede sein kann, als das Individuum Gegenstand von Rechten und Pflichten wird, dabei aber nicht selbst Instanz ihrer Beeinflussung werden kann.

Bei der Rede von Individualisierung soll es dagegen um einen Vorgang der Herausbildung einer Bewusstseins- und Sozialform gehen (vgl. Wohlrab-Sahr 1997: 24). Das heisst, der Begriff bezeichnet einen sozialen Wandel, in dessen Verlauf solche Individuumsbezüge wichtiger werden. Tyrell (2008: 66) weist darauf hin, dass vor allem in Deutschland der Individualisierungsbegriff die Nachfolge der zunehmend verpönten Kategorie des Individualismus angetreten hat. Hier sollen die beiden Begrifflichkeiten nicht in Konkurrenz zueinander gesehen werden, sondern Unterschiedliches bezeichnen.

5.3.3 Variablen

Im Anschluss an Durkheim und den eben besprochenen Problemanzeigen gilt es nun ein Verständnis von Individualisierung zu entwickeln, mit dem sich entsprechende Konfigurationen fassen und analysieren lassen. Im Zentrum davon stehen zwei Unterscheidungen: Diejenige zwischen Struktur und Semantik einerseits, diejenige zwischen group und grid andererseits.

5.3.3.1 Struktur und Semantik

Von Individualisierung kann gemäss Wohlrab-Sahr (1997: 34), möglicherweise in terminologischer Anlehnung an Luhmann, einerseits auf der Ebene der Struktur, andererseits auf der Ebene von Semantik und Deutungen gesprochen werden.

Im Rahmen der strukturellen Individualisierung werden Individuen von der Determinierung durch soziostrukturelle Vorgaben gelöst, wodurch sie selbst zunehmend Träger von Entscheidungen werden. So ist z. B. Religionszugehörigkeit in der westlichen Welt immer weniger durch Herkunft determiniert und wird Gegenstand revidierbarer individueller Entscheidungen. Neben der Zugehörigkeit kann auch die Durchführung bestimmter Handlungen oder die Akzeptanz von Deutungsmustern mit zunehmender Individualität stärker durch Entscheidungen beeinflusst werden. In struktureller Hinsicht ist auch dann von Individualität zu sprechen, wenn einzelne Menschen in Strukturen berücksichtigt werden, das heisst, beispielsweise registriert und adressiert werden. Die strukturelle Individualisierung ist weiter fortgeschritten, wenn Individuen diese Registrierung und Adressierung durch ihre Entscheidungen steuern können.

Die strukturelle Bedeutung des Individuums in der Moderne findet ihre Entsprechung auf der semantischen Seite darin, dass es Begriffe und Konzepte gibt, die sich auf das Individuum beziehen. Ein Beispiel dafür sind Begrifflichkeiten, mit denen individuelle Gefühlslagen benannt werden, aber auch Konzepte wie dasjenige der individuellen Biographie. Bezüglich Religion kann semantische Individualisierung beispielsweise an der zunehmenden Prominenz von Themen identifiziert werden, in denen das einzelne Subjekt und seine religiöse Erfahrung im Zentrum steht (vgl. z. B. Hochschild 1998: 70–74). Über die wachsende Beobachtung von Biographien als Sequenz religiösen Erlebens und Entscheidens wird auch seine ganze Lebensgeschichte zum Bezugspunkt und Thema von Religiosität (vgl. Nassehi 1995: 115).

Semantische Individualisierung kann an der Thematisierung von einzelnen Körpern, Handlungen, Beurteilungen und Erwartungen oder Konzepten wie Geist oder Seele erkannt werden, die dem Einzelnen zugeschrieben werden. Strukturelle Individualisierung lässt sich daran erkennen, dass Ereignisse unterschiedlichster Art auf Entscheidungen von Einzelnen zurückgeführt werden.

5.3.3.2 Group und grid

Mary Douglas bietet mit ihrer Unterscheidung zwischen group und grid ein begriffliches Instrumentarium, mit dem die Beziehung zwischen Individuum und sozialer Ordnung zweidimensional erfasst werden kann. Das Verlegen auf zwei Dimensionen entschärft die Normativität und implizite Teleologie, die einem eindimensionalen Modell näher liegt, beispielsweise die Verlockung, Individualität in einen direkten Zusammenhang mit einem Übergang von Tradition zur Moderne zu bringen.

Douglas orientiert sich durch ihr Werk hindurch an Emile Durkheim, wobei sie nach der „relation between forms of association and the forms of moral judgment that ratify the former“ (Douglas, zitiert in Fardon 1987: 4) fragt. Dabei kann sie gerade in ihren früheren Publikationen als Vertreterin einer strukturfunktionalistischen Rezeption und einer damit verbundenen strikten Trennung zwischen Glaubensvorstellungen und Strukturen gesehen werden und steht dann damit in einem Gegensatz zu praxistheoretischen Positionen. Dies scheint sich jedoch parallel zur Ausarbeitung der hier verwendeten grid/group-Unterscheidung zu verändern und sie sucht nach „beliefs locked together in relational patterns“, wobei sie sich von Parsons abgrenzt und schreibt: „The beliefs must be treated as part of the action, and not separated from as in so many theories of social action.“ (Douglas 1978: 14). Dabei verlangt sie von der Theorie die stärkere Berücksichtigung der Selbständigkeit von Individuen und der menschlichen Produktion von Bedeutung, dies im Anschluss an Aaron Cicourel; gleichzeitig distanziert sie sich jedoch von den Ethnomethodologen und symbolischen Interaktionisten, denen sie den Irrtum unterstellt, Kultur für eine gänzlich in der Situation aushandelbare Angelegenheit zu halten (vgl. Douglas 1978: 8, 47) – diese Positionierung weist, in Kombination mit der Wichtigkeit, die sie ritueller Praxis zuschreibt, durchaus eine Kompatibilität mit einer praxistheoretischen Perspektive auf.

Mit dem grid/group-Schema versucht Douglas, Durkheims Analyse der Aborigines und ihre Einordnung auf einer eindimensionalen Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität um eine Dimension zu erweitern. Eine eindimensionale Unterscheidung hinsichtlich der Individualität zwischen „Modernen“ und „Primitiven“, wie sie Durkheim getroffen habe, sei abzulehnen. Es lasse sich kein so einfacher Gegensatz zwischen „uns“ und den „Primitiven“ herstellen (Douglas 1999: xiii). Mit ihrem Vorschlag möchte Douglas (1978: 7) es ermöglichen, gesteigerte Individualität nicht nur in einer notwendigerweise negativen Korrelation zur Stärke der Gruppe fassen zu können. Zusammenfassend sieht sie grid als Dimension der „individuation“, group als Dimension der „social incorporation“. Das Verständnis von Douglas’ Schema wird dadurch erschwert, dass sie die zwei Dimensionen group und grid in verschiedenen Auflagen ihres Buches „Cultural Bias“ sowie in „Natural Symbols“ unterschiedlich charakterisiert (vgl. Spickard 1989); hier soll auf die Fassung der Erstauflage von „Cultural Bias“ (Douglas 1978) zurückgegriffen werden.

Group

Mit der Dimension group möchte Douglas das Ausmass fassen, in dem das Leben des Individuums von seiner Mitgliedschaft in einer Gruppe geprägt wird. Douglas (1978: 16) nennt Kommunen als Beispiel von starken Gruppen, die das Leben der Individuen umfassend bestimmen. Die Gruppe ist in solchen Zusammenhängen auch der Gegenstand der zentralen Werte (Douglas 1978: 13). Im Gegensatz dazu sei bei tiefen Werten auf dieser Achse das Individuum Zentrum eines eigenen Netzwerkes, das es selbst erzeugt hat und das keine erkennbaren Grenzen aufweist: „He knows people, they know people, and the social horizon is entirely indefinite.“ (Douglas 1978: 16).

Grid

Die grid-Dimension bezeichnet Douglas (1978: 8) als „cross-hatch of rules to which individuals are subject in the course of their interaction“ oder als Dimension „on which the social environment can be rated according to how much it classifies the individual person, leaving minimal scope for personal choice, providing instead a set of railway lines with remote-control of points for interaction“ (Douglas 1978: 16). Bei einer starken Ausprägung finden sich sichtbare Regeln, die die Individuen bestimmen. Diese werden über formale Klassifikationen als Träger von Rollen bestimmt, wobei dadurch auch der Austausch der Individuen untereinander geregelt wird. Bei schwachem grid verschwinden diese expliziten Zuweisungen und werden durch abstrakte Prinzipien, deren Interpretation nicht zuletzt Sache des Individuums ist, ersetzt. Variationen und Exzentrizität werden ermöglicht, jedes Individuum ist Zentrum seiner eigenen Welt. Dieser Zustand ist mit der Kostbarkeit von Zeit verbunden, da das Leben durch Transaktionen bestimmt wird. Zentraler Wert in einer entsprechenden Ordnung ist das Individuum. Die deutsche Übersetzung von grid lautet Klassifikationsgitter (vgl. Douglas 1981) – eine durchaus nützliche Übersetzung.

Anhand dieser zwei Variablen, zur Veranschaulichung dichotomisiert in hoch/tief, beschreibt Douglas vier Möglichkeiten, die es erlauben, die Einschätzungen der Rolle des Individuums mit weniger werthaften Begrifflichkeiten zu fassen als die von Schroer und Filloux in der Diskussion beobachteten Konzepte.

An Stelle eines „gefährdeten Individuums“ tritt so eine Situation von hohem grid, in der das Individuum Gegenstand strikter Klassifikationen und Regulierungen ist. Dies wiederum kann mit hohem group verbunden sein, z. B. im Fall einer stark hierarchischen und arbeitsteiligen religiösen Kommune, aber auch mit niedriger group, so beim bürokratisch und nicht gemeinschaftlich vermittelten Zugriff eines Staates auf die Individuen.

5.3.4 Individuum und Ritual

Die vorangegangenen Überlegungen zu einer durch die Figur des Individuums geprägten sozialen Ordnung der Gesellschaft sollen an zwei empirischen Beispielen konkretisiert werden. Beim ersten wird der Vorgang der Individualisierung anhand des Wandels des Rituals der Beichte analysiert. Beim zweiten Beispiel geht es um Individualität, die mit Individualismus, das heisst einer expliziten positiven Bewertung von Individualität, einher geht.

5.3.4.1 Individualisierung: Beichte

Die Beichte stellt eine ritualisierte Praxis mit Individuumsbezug dar, die historisch eingehend untersucht wurde, weshalb sie sich zur Behandlung der Frage nach einem Vorgang der Individualisierung besonders eignet. Definieren lässt sie sich, Alois Hahn (2000: 197) folgend, als „institutionalisiertes Bekenntnis“. Auch Myers (1996: 194–195) verweist auf Beichte als regulierte, das Individuum adressierende Kommunikation. Das Individuum als solches werde zum Adressaten institutionell regulierter Kommunikation. In der vorliegenden Perspektive lässt sich das auch in „ritualisiertes Bekenntnis“ übersetzen, da das Bekenntnis mit einer gewissen Regelmässigkeit und entlang einer bestimmten Form und Traditionalität erfolgt.

Die Beichte dient einerseits sozialer Kontrolle, gleichzeitig aber auch der Artikulation des Individuums (vgl. Abercrombie et al. 1986: 44). Entsprechend lässt sie sich mit Ansätzen betrachten, die Individualität kritisch sehen: Mit Althusser (1977b: 147–148) kann sie als Vorgang der „Anrufung“ gesehen werden, womit die Adressierung des Einzelnen und die Etablierung von Kontrolle des Individuums seitens der anrufenden Institution gemeint ist. Foucault wiederum weist auf das Machtdifferenzial hin, das in der Autorität der Beichte mitbegründet wird, wobei die diskursive Verbalisierung und Enthüllung des Selbst gleichzeitig auch ein Verzicht auf das Selbst darstelle (vgl. Foucault 1993: 62).

Hahn (2000: 198) stellt für das 12. Jahrhundert eine Verschiebung der christlichen Analyse von Sünden im Rahmen der Beichte von äusseren Handlungen auf die Intentionen fest. Immer stärker ging es darum, dass das Individuum die Sünde als solche erkennt und verurteilt. Dementsprechend wurde auch die Busse in die Innerlichkeit, die Einsicht in die Schädlichkeit der Sünde und die Reue verlegt. Ausgehend davon werden Empfindungen und ein Gewissen wichtig und eine neue Konzeption des Selbst entsteht und wird relevant – Hahn (2000: 200) spricht von Individualisierung. Als Ursachen davon können, so zählt Hahn (2000: 201) auf, das Wachstum der Städte, erhöhte Mobilität, überregionales Handeln, Möglichkeiten für individuelle Karrieren und die Entfaltung neuer Bildungsinstitutionen wie die Universitäten genannt werden.

Gleichzeitig mit diesem neuen Fokus auf das Individuum gewinnt gemäss Hahn die neu konzipierte Beichte an Wichtigkeit und wird von der Institution gezielt gefördert und gesteuert: So sei im 4. Laterankonzil von 1215 jedem Christen die Pflicht eingeschärft worden, mindestens einmal im Jahr zu beichten. Die Institution Kirche konnte damit Neubetonungen in der Theologie wie die Wichtigkeit der Intention in die seelsorgerische Praxis umsetzen. Listen darüber, wer gebeichtet hat und wer nicht, wurden geführt, Bescheinigungen ausgehändigt, Säumigen wurde der Eintritt in die Kirche und das kirchliche Begräbnis verwehrt. Zudem forderte das Konzil, dass Laien dauerhaft priesterlichen Beichtvätern zugeordnet wurden (vgl. Richardson und Stewart 2009: 477).

Die disziplinierende Fremdkontrolle durch Geistliche wurde in den folgenden Jahrhunderten im Katholizismus und später auch im Luthertum (vgl. Hahn 2000: 217) gestärkt. Die Beichte entschied über die Teilnahme am Abendmahl und damit über die Teilnahme an der Gemeinschaft. Es entstand eigene Literatur für Beichtväter, die moralische Vorgaben für die Abnahme der Beichte verfügbar machte. Gleichzeitig wurde damit ein Vokabular und ein Massstab zur Diskussion und Beurteilung individuellen Handelns geschaffen. Das Individuum wurde zum Objekt von Ansprüchen und Sanktionen, wobei dieser äussere Zwang mit inneren Überzeugungen bezüglich der Heilsnotwendigkeit des Busssakramentes einherging (vgl. Hahn 2000: 203–204). Dahinter habe die Vorstellung gestanden, dass das Individuum durch sein Handeln, aber auch durch Bekenntnis und Reue selbst über sein Heil bestimmen könne. Die Idee eines bewusstlosen Schlafes bis zum Jüngsten Gericht wurde durch Vorstellungen einer Weiterführung der Biographie über den Tod hinaus abgelöst. „Die gesteigerte Angst vor dem Selbstverlust wird durch die Individualisierung der Jenseitsvorstellung aufgefangen.“ (vgl. Hahn 2000: 206).

Dieser Wandel ging auch mit Veränderungen der Interaktionen während der Beichte einher. Beispielsweise lässt sich mit Myers (1996) beobachten, dass Bekenntnis- und Beichtrituale zunehmend auf Privatheit im Sinne des Ausschlusses von Beobachtern umgestellt wurden: Im Spätmittelalter fand die Beichte nicht in Beichtstühlen statt, sondern an der Spitze einer Warteschlange (vgl. Myers 1996: 52–53). Fragen, Beurteilungen und auferlegte Bussen konnten von anderen Anwesenden mitgehört werden, das Beichtgeheimnis wurde lax gehandhabt, woraus Myers auf die Möglichkeit der Ausübung eines sozialen Drucks durch gegenseitiges Beobachten schliesst. Das heisst die Ritualgemeinschaft beschränkt sich in dieser Konfiguration nicht auf den Beichtenden und den Beichtvater. Der Ausschluss der Gemeinschaft und die Privatisierung der Interaktion in räumlicher Hinsicht wurde erst durch den Beichtstuhl, der in Deutschland nach 1600 eingeführt worden sei, möglich (vgl. Myers 1996: 2).Footnote 62 Im Zuge dieser Entwicklungen schwand die Bedeutung der Gemeinschaft in der Durchführung des Rituals, das zunehmend zu einem Austausch zwischen Individuum und der Institution Kirche, bzw. einem ihrer Vertreter, wurde (vgl. Richardson und Stewart 2009: 480).

Mit der Abnahme des Bezugs auf die lokale Kongregation nahm gleichzeitig die Bedeutung der Kirche als übergreifende Institution zu: „As sacramental dialogue increasingly became a solitary dialogue between confessor and confessant, the values and thinking of the official church began to take precedence over the mores of the local parish or congregation.“ (Myers 1996: 193). Dies zeigt, dass das Individuum nicht einfach in die Autonomie entlassen wurde, sondern die gemeinschaftlichen durch institutionelle, organisatorisch geregelte Formen des Zugriffs abgelöst wurden. Die Kirche betonte zwar die Rolle des Individuums in Bezug auf Gnade, war aber nicht individualistisch, was Doktrin und Praxis anging (vgl. Abercrombie et al. 1986: 57–58).

Eine weitere Veränderung, dies im Zuge der Reformation, bestand darin, einzelne Handlungen nicht mehr isoliert auf die dahinter stehenden Motivationen, sondern im Kontext aller Handlungen des Individuums zu betrachten (vgl. Hahn 2000: 217). Nicht einzelne Taten, sondern die Gesamtbiographie ermöglichten die certitudo salutis. Es durfte nicht sorglos dahingelebt werden, jeder Augenblick wurde wichtig und unersetzlich (vgl. Hahn 2000: 209). Ein neues Konzept von Leben und Zeit – Biographie – wurde zentral. Im Rahmen der Reformation wurde, wie Max Weber zeigt, ausserhalb des Luthertums oft die Beichte abgeschafft, womit ein Mittel des „periodischen ‘Abreagieren[s]’ des affektbetonten Schuldbewusstseins“ (Weber 1988a: 97) wegfiel und systematische Selbstkontrolle an ihre Stelle tritt (vgl. Hahn 2000: 219). Diese wurde nicht von äusseren Institutionen angeleitet, sondern war verinnerlicht:

„In tiefer innerlicher Isolierung vollzog sich, trotz der Heilsnotwendigkeit der Zugehörigkeit zur wahren Kirche, der Verkehr des Calvinisten mit seinem Gott.“ (Weber 1988a: 97)

Andere Praktiken traten dabei neben oder an die Stelle der Beichte: So habe das Tagebuch als Mittel der biographischen Selbstvergewisserung an Wichtigkeit gewonnen. Und schliesslich sei im Roman das fortgesetzt worden, was in der Lebensbeichte und im Tagebuch angelegt war: Das Ich wurde durch die Darstellung und Zergliederung der alltäglichsten Empfindungen und Gefühle objektiviert und sozialisiert (vgl. Hahn 2000: 224). Mit Tagebuch und Roman bestanden nun Kommunikationsmedien, „in denen Gefühle objektiviert, differenziert und behandelbar werden“ (Hahn 2000: 225).

Je nach religiöser Tradition und sozialem Kontext verliefen diese Änderungen jedoch unterschiedlich: Im Katholizismus des gegenreformatorischen Frankreichs behielt die Beichtpraxis ihre Bedeutung, hier sei weiterhin eine „Steigerung der Selbstkontrolle mittels einer permanenten Fremdkontrolle“ (Hahn 2000: 226) angestrebt worden, dies über den Beichtvater. In dem, was als „Generalbeichte“ bezeichnet wird, wurde nicht mehr wie im Mittelalter vor allem die prinzipielle eigene Sündhaftigkeit bekannt, sondern über einzelne Verfehlungen berichtet.

Rückgang und neue Rituale

Hahn stellt in der Moderne einen Rückgang der Wichtigkeit religiöser Beichtrituale fest, spricht aber gleichzeitig von einem „gesteigerten Einsatz an Bekenntnisritualen“ (Hahn 2000: 197), dies mit Verweis auf biographische Bekenntnisse in der Psychoanalyse, medizinische Anamnese und Sozialforschung (vgl. dazu auch Richardson und Stewart 2009). Individualisierende Bekenntnisse finden damit weniger in der Form religiöser Rituale statt. Diese rangieren nur noch neben anderen Verfahren zur Selbstfindung, wobei sie weniger einen gemeinschaftlichen, institutionellen oder gesamtbiographischen Bezug aufweisen würden:

„Die Hauptfunktion der meisten dieser Selbstfindungsprozeduren scheint weniger in der Sicherung sozialer Kontrolle, als vielmehr in der fallweisen Sinnstiftung, weniger in der Steigerung der Verantwortung für Schuld, als in der Produktion von Glück durch Überwindung von Traumata zu bestehen.“ (Hahn 2000: 235).

Die Behandlung akuter Krisen ersetze dabei die Arbeit an der Biographie. Anthony Giddens (1991: 34) vermutet, dass die Beichte in säkularen Therapieformen wie Psychotherapie ihre Nachfolgerin finde. Ein anderes Beispiel für neuere, zur Beichte analoge Praktiken, stellen Talkshows dar. Hier führt die Bewegung von der gemeinschaftlichen Öffentlichkeit in die Privatheit des Beichtstuhls zurück in die massenmedial hergestellte Öffentlichkeit, in der den Bekennenden unbekannte Personen vollständigen Einblick in die Person erhalten. Leute, die nicht prominent sind, müssen ausserordentliche Dinge tun, um in den Medien fungieren zu dürfen. Ihre Geschichten werden dann dadurch zertifiziert, dass sie von den Massenmedien aufgenommen werden. Die Emotionalität und Unvorhersehbarkeit des Ablaufs einer solchen Sendung führt zu einer Authentizität jenseits der Frage, ob das Stattfindende nun „real“ oder „konstruiert“ sei. Die Konstruiertheit sei zwar für alle offensichtlich, aber die rituelle Intention ernsthaft und die Involvierung der Beteiligten umfassend. Zwischen „richtigen“ Emotionen und „Postemotionalität“ kann nicht unterschieden werden (vgl. Couldry 2003: 126). Es erlaubt die „transformation from something merely personal into something special, something representative“ (Couldry 2003: 122). Dabei geht dieser öffentliche Fokus jedoch mit Fremdkontrolle einher, so schliesst Couldry:

„The price of appearing on television to speak in your own name is to be categorised in terms over which you have very limited control, categories (for example, the misfit, the eccentric, the waster) that are entangled with more general categories of media rituals (‘ordinary person’ versus ‘media person’).“ (Couldry 2003: 127)

Privatheit werde nicht einfach aufgegeben, vielmehr werde der Einbezug des öffentlichen Geschehens Teil der Selbstdefinition des Individuums (vgl. Couldry 2003: 124). Ein „social drama“ (siehe Abschn. 5.2.2.3) wird damit zum Ort der Konstitution des Individuums, indem dieses zum Gegenstand einer moralisierenden „fused social performance“ (Alexander 2006: 32) wird.

Group und grid

Dieser Wandel der Beichte kann auf Verschiebungen bezüglich des Verhältnisses von group und grid diskutiert werden.

Eine individualisierende Komponente auf der Dimension des Klassifikationsgitters (grid) in Form der Berücksichtigung des einzelnen Handelnden weist auf den veränderten Fokus bezüglich Sünde hin: Nicht mehr generelle, unpersönliche und kollektive Schuld durch Erbsünde, sondern einzelne Verfehlungen, die es zu berichten und einzeln zu beurteilen gilt, stehen im Zentrum. Verbunden ist dies mit einem via den Priester als Stellvertreter funktionierenden Zugriff der Institution Kirche, geregelt über eine generalisierte Symbolik und verschriftlichte Technik. Dieser Übergang von der gemeinschaftlichen Einbettung ins Dorf hin zur Betonung abstrakter Gesichtspunkte bedeutet eine Stärkung des grid, da das Individuum gänzlich der Institution gegenüber exponiert ist. Dies wird dadurch gesteigert, dass Gemeinschaftsmitglieder ausgeschlossen werden, womit der group-Bezug sinkt.

Die dauerhafte Zuordnung von Beichtenden zu Beichtvätern stellt einen Übergang von punktuellem Kontakt hin zu einer Begleitung über die Biographie hinweg dar. Die Bezüge erfolgen zunehmend auf das Individuum als Einheit einer religiös begleiteten Biographie. Die Permanenz des Individuums kann nicht mehr am Handeln erkannt werden, leichter verallgemeinerbare Eigenschaften wie „Intention“, das heisst die Einstellung hinter dem Handeln, werden wichtig. Das heisst, dass neben den sozialen Bezügen (Wichtigkeit der Institution) auch in zeitlicher Hinsicht das Individuum diszipliniert wird. Hahn sieht solche Entwicklungen als Teil des Zivilisationsprozesses im Sinn von Norbert Elias, das heisst als Vorgang wachsender innerer und äusserer Selbstbeherrschung. Körpersäfte werden diskret entsorgt, Unwillkürliches wird aus der Kommunikation verbannt, Emotionen werden kontrolliert.

In den reformierten Varianten des Protestantismus findet sich eine gänzliche Abwendung vom Beichtritual und stattdessen ein Übergang zur Selbstkontrolle durch Berichterstattung im Tagebuch. Die Frage stellt sich, ob damit das grid schwächer wird, da die kontrollierende Präsenz eines Vertreters der Institution entfällt. Dies dürfte so lange nicht der Fall sein, als andere kirchlich-religiöse Praktiken aufrecht erhalten werden, die auch die Unterscheidungen, mit denen im Tagebuch gearbeitet wird, anleiten. Dies legen Beispiele wie z. B. das Tagebuch von George Brown aus der Mitte des 18. Jahrhunderts nahe, das die enge Verknüpfung zwischen der Predigt im Gottesdienst, der Bibellektüre und der Selbstbeurteilung im Tagebuch aufzeigt (vgl. Constable 1856). Fällt dies weg, dürfte es kein zentrales strukturierendes Klassifikationsgitter mehr geben, mit Douglas (1978: 10) ist damit erhöhte Skepsis gegenüber den metaphysischen Prinzipien zu erwarten, die ihm zugrunde lagen. Tagebuchschreiben wird zu einer säkularen Angelegenheit. Die Selbstbeobachtung findet nicht fern jeglicher Gesichtspunkte statt, diese sind jedoch nicht Teil eines klar definierten Klassifikationssystems. Ohne die gemeinschaftlichen rituellen Praktiken wie Gottesdienste findet sich dabei auch ein Rückgang auf der group-Dimension.

Bei schwachem group und schwachem grid dürfte die individuelle Praxis der Berichterstattung, wie sie das säkulare Tagebuchschreiben darstellt, durch Beziehungen geformt werden, die durch seltenen Kontakt, geringe Intimität und hohe Reichweite geprägt sind – z. B. in der Literatur oder den Massenmedien präsente Vorbilder.

5.3.4.2 Individualismus:  „Spiritualität“ als individualisierte Religion

Für ein weiteres Fallbeispiel soll die diachrone Perspektive verlassen werden. Statt des Vorgangs der Individualisierung rücken dabei Individualität und Individualismus ins Zentrum. Dies anhand eines Blicks auf die Bewegung, die je nachdem „New Age“, „Spiritualität“ oder „alternative Religiosität“ genannt wird. Ersteres verweist auf den Einfluss religiöser Strömungen der 1960er und 70er Jahre, zweiteres auf die Betonung von Innerlichkeit und Erleben und letzteres darauf, dass diese Betonungen oft in einem ausdrücklichen Gegensatz zu christlich-kirchlicher Religiosität gemacht werden. Ein Zentrum dieser Strömungen gibt es nicht, weshalb sich eine gewisse Heterogenität beobachten lässt, die den Begriff der Bewegung sinnvoll macht.Footnote 63

Konkreter, rituell verfasster, Gegenstand sind schwach institutionalisierte, gänzlich dezentral organisierte Meditationskreise, wie sie von Steven Sutcliffe (2003) detailliert beschrieben werden. Im Zentrum steht dabei eine rituelle Praxis, die als „Meditation“ bezeichnet wird, die seit den 1960er Jahren im Feld zentral ist und sich in verschiedensten Formen findet, z. B. alleine oder in der Gruppe ausgeführt, unter Anleitung oder frei (vgl. Pike 2004: 80). Mit Sutcliffe (2003: 135) soll die Aufmerksamkeit hier regelmässig stattfindenden Gruppenmeditationen gelten.

Die von Sutcliffe untersuchten Treffen finden in privaten Räumlichkeiten statt, da die geringe Grösse und der schwache Organisierungsgrad der Gemeinschaft keine Aufrechterhaltung eigener Ritualräumlichkeiten erlaubt. Die Zusammenkünfte werden typischerweise von einem ca. 20-minütigen Kurzvortrag oder einer gemeinsamen Lektürediskussion eingeleitet. Die Moderation der Ritualleiterin und ein handout mit Instruktionen strukturieren den Vollzug der Interaktion. Das Grundmuster der Interaktion bleibt über die einzelne Durchführung hinweg dasselbe, wobei sich diese Repetitivität nicht aus der Gewohnheit der Beteiligten und auch nicht durch die moderierende nonverbale Kommunikation in Form von Gesten ergibt, sondern mittels verbaler Anweisungen gemäss des ausgeteilten Instruktionspapiers sichergestellt wird. Dies ermöglicht es auch denjenigen, die das erste Mal dabei sind, sich in die Abläufe einzufügen. Auf dem ausgeteilten Papier stehen auch Texte, die gemeinsam rezitiert werden (vgl. Sutcliffe 2003: 133). Verschiedentlich werden die Meditationssequenzen auch mit geschlossenen Augen durchgeführt und dabei das, was die Ritualleiterin vorspricht, repetiert. Auf die gemeinsame Meditation folgen jeweils Tee, Kekse und Diskussionen, in denen unter anderem auch über die rezitierten Texte und andere Symboliken gesprochen wird, wobei sich, so Sutcliffes (2003: 140) Beobachtungen, eine Vielfalt der Interpretationen zeigt. Eine wichtige Rolle spielt Literatur: Lektüretipps werden ausgetauscht und gemeinsam werden Bücher an Messen verkauft, wodurch eine Einkommensquelle für die Gruppe erschlossen wird.

Die Offenheit der Gruppe für neue Teilnehmer ist gross, es wird auch aktiv an Messen Werbung gemacht, eine Tätigkeit, die einige Miglieder des Kreises über die Treffen zur Meditation hinaus zusammenbringt (vgl. Sutcliffe 2003: 132). Die Bindungen der Beteiligten untereinander sind lose, die Netzwerke weit: An den von Sutcliffe besuchten Treffen sind nie mehr als zehn Personen anwesend, wobei davon wiederum nur die Hälfte regelmässig teilnimmt. Die Teilnehmenden scheinen nicht von einer „imaginierten Gemeinschaft“, die auch nicht-anwesende Gemeinschaftsmitglieder einbeziehen würde, auszugehen und die gegenseitigen Bekanntschaften sind flüchtig, weshalb sie, so die Selbstbeobachtung der Leiterin, eher ein „Netzwerk“ darstellten (vgl. Sutcliffe 2003: 135).Footnote 64

Matthew Woods Beobachtungen eines vergleichbaren Meditationskreises bestätigen die Beobachtungen Sutcliffes. Auch hier folgt auf einen frontalen Einstieg durch die Ritualleiterin die gemeinsame Meditation und schliesslich ein informeller Austausch. In emotionaler Hinsicht stellt Wood (2007: 80) einen Übergang fest von „standing awkwardly around“ und „self-conscious[ness]“ hin zu grösserer Offenheit und Entspanntheit in der schwach ritualisierten Interaktion nach der Meditation:

„The meditation ritual was essential in providing this sense of commonality and shows how those periods it followed and preceded can be related. The difference between the relatively tentative and formal interaction before the meditation was replaced by an engaged and personal interaction afterwards, in which confidences were shared, opinions vigorously expressed, invitations extended and information distributed.“ (Wood 2007: 96)

Wie Sutcliffe stellt auch Wood eine formale Führung durch die Ritualleiterin fest, die dabei keine strikte Hoheit bezüglich Deutungen und Verhalten durchzusetzen versucht. Die Beteiligten sind von höchst unterschiedlichen Traditionen beeinflusst, ihre Interpretationen des Stattfindenden divers. Auch die Erfahrungen der Teilnehmenden werden nur begrenzt einheitlich geprägt, Weltanschauungen und Praktiken kaum beeinflusst. So seien im Beispiel Woods die Essener für die Leitenden wichtig gewesen, während sich fast alle anderen kaum dafür interessierten (vgl. Wood 2007: 94). Auch wird ausserhalb der Treffen von den Teilnehmenden kaum meditiert. Parallelen gibt es zudem zu den sozialen Beziehungen der Beteiligten untereinander. Ausserhalb der Meditationsgruppe würden kaum Kontakte unter ihnen gepflegt; zudem sei der Durchlauf neuer Mitglieder hoch (vgl. Wood 2007: 82).

Netzwerktheoretisch

Dieses Setting lässt sich entlang der netzwerktheoretischen Variablen (siehe Abschn. 4.1.2.3) analysieren:

Dichte

Umfassende, zeitübergreifende Solidarität, die unabhängig von tatsächlichen Kontakten besteht, dürfte keine grosse Rolle spielen. Es finden sich wohl geteilte generalisierte Werte, wie z. B. Ganzheitlichkeit, Individualität und die Wichtigkeit des Erlebens, Kontaktchancen ergeben sich aber nur, wenn tatsächlich auch Kontakte stattfinden. Das heisst, dass die beobachteten sozialen Beziehungen auf direkten Kontakten beruhen, nicht auf einem umfassenderen Zusammengehörigkeitsgefühl.

Kontakt

Die Beteiligten der beobachteten Meditationsgruppen finden nicht aufgrund einer vorausgehenden Zusammengehörigkeit zueinander, sondern aufgrund des geteilten Interesses an bestimmten Praktiken. Sutcliffes (2003: 134) Beobachtungen lassen weiter vermuten, dass aus diesen Kontakten auch kein umfassendes Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht, die Kontakte sind vorübergehend und unverbindlich.

Reichweite

Die Heterogenität des Netzwerkes ist potenziell hoch, was durch die schwachen Bindungen ermöglicht wird. Die Komplementarität der Netzwerkteilnehmenden ist gegeben, weshalb mit Wellman und Potter (1999) geschlossen werden könnte, dass die „adaptive capacity“ des Systems hoch ist – die Frage stellt sich jedoch, ob aufgrund des Ausbleibens über die Situation hinausgehender Grenzziehungen überhaupt von einem System die Rede sein kann, das sich anpassen kann. Das heisst, wenn keinerlei Dichte besteht, die auch jenseits von Kontakten Bindungsmöglichkeiten gewährleistet, gibt es keine Einheit, die von der Reichweite profitieren könnte.

Intimität

Nähe und Intensität dürfte zwischen Netzwerkmitgliedern durchaus bestehen, diese Beziehungen scheinen aber zumindest nicht konstitutiv oder typisch für die Beziehungen zu sein, die die Meditationskreise ausmachen. Zu fragen ist, ob intime Beziehungen zu charismatischen Führern bestehen. Tatsächlich kommt den Ritualleiterinnen eine gewisse Autorität zu, in den vorliegenden Beispielen scheint sie jedoch auf den Ritualvollzug beschränkt.

Group und grid

Eine umfassende und dauerhafte Bindung an eine Gruppe bleibt aus, weshalb die Werte auf Douglas’ Dimension group tief sind. Was grid, das Klassifikationsgitter, angeht, ist für die beobachteten Zusammenhänge ebenfalls von einem geringen Wert auszugehen. Die Wahlmöglichkeiten sind gross, das Individuum wird in seiner Spezifität innerhalb der beobachteten Gruppen akzeptiert und nicht entlang bestimmter Klassifikationen strukturiert. Wie Douglas bei niedrigem grid vermutet, finden sich abstrakte Prinzipien, die das Individuum interpretieren kann und in deren Zentrum das Individuum steht.

Ideologische Einheit

Der Erfahrungsbezug, der über die Referenz auf individuelles Erleben stattfindet, ist entscheidend für die Plausibilität von Deutungsmustern und Praktiken innerhalb des Feldes (vgl. Bloch 1998: 293). Bereits in der Kommunenbewegung stand das Individuum im Zentrum, im nicht-kommunalen Bereich alternativer Religiosität lässt sich ausgehend von den 1960er Jahren ebenfalls eine deutliche Konzentration auf das Individuum und eine gesteigerte Skepsis gegenüber institutionalisierten Formen von Religion ausmachen. Pike (2004: 74) schreibt von einer „personalized religion“, die nicht nur thematisch auf das Individuum ausgerichtet ist, sondern in der, im Gegensatz zu den Kommunen, auch in struktureller Hinsicht von Eklektizismus und Mobilität die Rede sein kann. Als wichtiges Medium der Verbreitung von alternativ-religiösen Konzepten macht Pike (2004: 75) ab den 1950ern den Buchmarkt aus, in dem z. B. Werke wie das 1952 erstmals erschienene „Power of Positive Thinking“ von Norman Vincent Peale oder die Taschenbuchausgabe von J. R. R. Tolkiens „Lord of the Rings“ entscheidend zur Verbreitung von Ideen beitrugen. Über die in diesem Feld prominenten „neopaganen“ Strömungen schreibt Pike (2004: 78), es handle sich bei ihnen um einen „recent take on a literary tradition characterized by the desire to return to a time when religion was supposedly less dogmatic and institutionalized and more in tune with the natural world.“ Angesichts seiner Untersuchung von Heilungsritualen schliesst Bloch (1998: 296–297), dass das Feld nicht gemeinschaftlich verfasst sei, für die von ihm befragten Personen der alternativ-religiösen Szene blieben jedoch die in der Gruppe gemachten Erfahrungen entscheidend. Das Ausbleiben von Gemeinschaft ist also nicht gleichbedeutend mit dem Ausbleiben sozialer Beziehungen. Diese Kontakte bestehen im Bewusstsein, dass die Vorstellungen der Interaktionspartner nicht deckungsgleich sind. Es findet sich zwar eine gewisse Uniformität der Überzeugungen, so wird die „self-autonomy“ zur breit geteilten „spiritual ideology“ (vgl. Bloch 1998: 293), doch darüber hinaus sei die Einheit gering und die Zuschreibung zu einer bestimmten Tradition werde abgelehnt. Gerade für Rituale, so Bloch (1998: 297), sei diese Deckungsgleichheit auch gar nicht notwendig, sie ermöglichen Interaktion, in der über Unterschiede auf der Überzeugungsebene hinweggesehen werden kann. Die Einheit der Glaubensüberzeugungen noch stärker gewichtend sieht Olav Hammer die unverbindliche Diversität letztlich als Ausdruck einer dahinter stehenden Uniformität des Feldes: Die rituellen Praktiken und Symboliken bis hin zur Ausstattung und Hintergrundmusik esoterischer Buchläden seien über Westeuropa hinweg sehr ähnlich (vgl. Hammer 2010: 50).Footnote 65

Wie lässt sich diese konsensuale, niederschwellige Einheit verstehen? Das Feld „alternativer Religiosität“ ist nicht durch intern hochgradig integrierte Gemeinschaften geprägt, die mit umfassenden Bindungen verbunden sind, an die spezifische religiöse Inhalte geknüpft sind. Stattdessen finden Individuen aufgrund ihrer je einzeln verfolgten Interessen zusammen, die sie alle bei bestimmten Angeboten erfüllt finden. Dabei sind sie äusserst mobil und tragen mit ihrem Wechsel zwischen den Angeboten zu einer Diffusion der jeweiligen Inhalte bei. Dabei dürften sich diejenigen Inhalte stärker verbreiten, die auch im Rahmen schwacher Bindungen auf Plausibilität stossen, da es keine längerfristigen Methoden der Sozialisation gibt. Das heisst, diese Form von Religion bewegt sich entlang eines common sense, der nicht zuletzt durch ein u. a. christlich beeinflusstes Bild des Individuums – beispielsweise über Konzepte wie Seele oder Spiritualität – geprägt ist, das im Rahmen dieses common sense aufgegriffen, modifiziert und bestätigt wird. Dem förderlich ist auch die Beschaffenheit der behandelten Themen: Es geht nicht um Konzepte wie Seelenheil, die ihrerseits ausführlicher Erläuterungen und Plausibilisierungen bedürfen, sondern die Auseinandersetzung mit breit geteilten Alltags- und Körperproblemen. Diese Niederschwelligkeit trägt weiter zu einer starken Medienpräsenz entsprechender Deutungsmuster bei. Im Vergleich zu traditionellen christlichen Angeboten lässt sich eine hohe Präsenz von Praktiken wie Feng Shui in Medien wie Ikea-Katalogen und Talkshows feststellen (vgl. Hammer 2010: 59) Schliesslich lässt sich mit Olav Hammer (2010: 53) auch auf geteilte Wurzeln, so beispielsweise die Theosophie, hinweisen, die einen dauerhaften Einfluss auf das Feld ausüben. Mit einer solchen historischen Kontextualisierung lasse sich die relative innere Einheit des Feldes verstehen, die in einem gewissen Widerspruch zum auf der emischen Ebene vorherrschenden individualistischen Narrativ stehe.

Gemeinschaftlichkeit

Die Frage stellt sich, inwiefern die hier beobachtete Form von Religion zu einer sozialen Ordnung führt, die als Gemeinschaft bezeichnet werden kann (siehe zum Gemeinschaftsverständnis Abschn. 4.1).

Alternative Religiosität geht mit einem zunehmendem Fokus auf das „Individuum“, „Subjekt“ oder „Selbst“ und mit einer Betonung der „persönlichen Entwicklung“ einher, die wiederum negativ mit traditioneller, kommunal ausgerichteter Form von Religion korreliert (vgl. Zondag 2013: 54). In den Niederlanden, wo „alternative Religiosität“ besonders stark verbreitet ist (vgl. Houtman und Aupers 2007), macht Zondag (2013) anhand quantitativer Daten zwei verschiedene Wege zu Religion und Religiosität aus: einerseits in Richtung traditionelle und kollektiv erfahrene Religion und andererseits eine Form von Religion, die auf das „Selbst“ referiert, was negativ mit einer Zuwendung zu institutioneller Religiosität korreliert. Ähnlich stellen Farias und Lalljee (2008: 288) bei New Agern in England „clear individualistic goals and self-perception“ fest, dies im Vergleich zu katholischen Kirchgängern.Footnote 66 Individualistische Orientierungen seien bei den New Agern stärker, das soziale Engagement schwächer ausgeprägt und damit die Chance für die Bildung länger andauernder kommunaler Bindungen schlecht (vgl. Farias und Lalljee 2008: 287–288). Die „communities liberated“, so auch Bloch (1998: 299), sind explizit gegen striktere Formen sozialer Kontrolle gerichtet. Tatsächlich scheint sich ein Gegensatz zwischen institutioneller und in diesem Sinne individueller Religiosität herauszubilden: In Entsprechung damit stellen andere Autoren eine „Kommodifizierung“ von Religion und damit einhergehend eine Herauslösung aus einem semantisch und rituell strukturierten Zusammenhang fest, der Gemeinschaft auszeichne (vgl. York 2001).Footnote 67

Norman Denzin (1995) vermutet bei Forschern, die bei rituellen Formen wie Selbsthilfegruppen noch Gemeinschaft feststellen, eine neodurkheimianische Suche nach Gemeinschaft und dem Heiligen in der Gesellschaft. Sein Schluss bezüglich Selbsthilfegruppen, der sich auch auf die beobachteten spirituellen Meditationskreise beziehen liesse, lautet gar etwas drastisch: „These groups announce the end of the social as it has been classically understood.“ (Denzin 1995: 267). Ein entsprechender Schluss liesse sich auf die hier diskutierten Kreise ausweiten.

Einem Bild einer individualistischen alternativen Religiosität, die im Gegensatz zu solidarischeren Formen von Religion steht, widersprechen qualitative Studien wie diejenige von Hedges und Beckford (2000: 179), die feststellen, dass die universalistischen Tendenzen der alternativen Religiosität „a sense of compassion for others, rather than individualistic self-improvement“ fördern würden. Die von Hedges und Beckford beigezogene Diskussion führt jedoch in wenig fruchtbare und normativ gelagerte Gefilde. Für das vorliegende Kapitel wichtig ist die Frage, ob Gemeinschaft hergestellt wird und diese Frage lässt sich mit dem hier verwendeten Gemeinschaftsverständnis sowohl für die genannten Fallbeispiele als auch für den von Hedges und Beckford angeführten Fall verneinen. Dieser Schluss ist aber angesichts der Vielzahl sozialer Kontakte nicht in die Diagnose Egoismus überzuführen, die von den genannten Autoren als Alternative gesehen und abgelehnt wird.

Eine weitere Frage stellt sich hinsichtlich der sozialen Konsequenzen dieser Form von Religion. Inwiefern strukturiert sie die soziale Ordnung der Gesellschaft?

Jon Bloch (1998) verweist auf die Tatsache, dass sich in der Bewegung eine geteilte Ideologie finde und damit durchaus von einer sozialen Bewegung gesprochen werden könne, die auf einem gegenkulturellen spirituellen Netzwerk basiere. Gerade der geteilte Individualismus führe zu Solidarität und gemeinsamem Aktivismus. Der Protestcharakter dieser Bewegung ist allerdings zu hinterfragen. Dass die in ihr herrschenden Vorstellungen wenig ausdifferenziert und alltagsnah sind, lässt eher Weltanpassung als Weltveränderung erwarten. So stellt Wood (2007: 72) im Gegensatz zu Bloch eine geringe Tendenz zur Weltveränderung im besagten Feld fest. Letztlich würden individuelle Praktiken und nicht systematische Glaubensvorstellungen im Zentrum stehen. Übergreifende Deutungsmuster sind zwar vorhanden, jedoch nur begrenzt relevant. Zudem seien die involvierten religiösen Autoritäten schwach, da sie sich, auch in den jeweils kommunizierten religiösen Inhalten, an ihren Kunden orientierten. Wood spricht diesbezüglich von einem nichtformativen (nonformative) Feld und unterscheidet solche Gruppierungen von Paganen, Theosophen und Spiritisten, die zwar ebenfalls mehrere Autoritäten akzeptierten, aber Dispositionen und einen Habitus konstituierten, sowie sich an Legitimierungs- und Delegitimierungskämpfen im religiösen Feld beteiligten (Wood 2007: 75). Der alternativen Religiosität, die beispielsweise über Selbsthilfebücher verbreitet wird, attestiert Craig Martin (2014) anhand US-amerikanischer Beispiele die Bestätigung der bestehenden Ordnung: Die Konsumentenentscheidung werde sakralisiert, das Individuum zur Arbeit an sich selbst aufgefordert und die Verantwortung für sein Schicksal werde ihm zugeschrieben. Das führe zu einer Weltanpassung, weshalb von einem, so im Titel von Craigs Buch, regelrechten „opiate of the bourgeoisie“ die Rede sein könne.

5.3.5 Soziale Ordnung und Pflege des Individuums

Anhand zweier Fragen soll dieser Abschnitt zur Gesellschaft der Individuen resümiert werden: Inwiefern kann bei den beobachteten Zusammenhängen von religiösen Ritualen gesprochen werden? Und inwiefern haben diese einen Einfluss auf die Reproduktion der sozialen Ordnung der Gesellschaft?

5.3.5.1 Religiöse Rituale

Der diachron betrachtete Fall der Beichte zeigt einen Vorgang der Individualisierung, der in der Terminologie von Mary Douglas zunächst durch einen Rückgang von group und schliesslich auch von grid gekennzeichnet ist. Der synchrone Blick auf ein oft als Spiritualität oder alternative Religiosität bezeichnetes Feld liess eine Form von Religion erkennen, die durch wenig Gemeinschaftlichkeit und hohe individuelle Mobilität, also durch tiefe Werte auf beiden Variablen, group und grid, geprägt ist.

Bereits Durkheim (1994: 73, 63) diskutiert die Möglichkeit von individueller Religion, „die das Individuum für sich aufrichtet und für sich allein zelebriert“, kommt dann aber zum Schluss, dass zumindest für seine Gegenwart dieser scheinbar individuellen Erfindungen gelte, dass es sich nicht um eigenständige religiöse Phänomene handle, sondern um blosse Aspekte der gemeinschaftlichen Religion, an der die Individuen partizipierten. Diese Eigenständigkeit ist zumindest insofern bei den eben beobachteten Fällen ebenfalls nicht gegeben, als soziale Kontakte auch für die beobachteten Formen individualisierter Religion konstitutiv sind. Die Gemeinsamkeiten zwischen den individuellen Involviertheiten sind gerade aufgrund der hohen Individualität und dem tiefen Grad an group, der über Grenzziehungen als Rückhalt für hochspezifische religiöse Inhalte dienen könnte, gross. In einem freien Markt mit tiefem grid verbreiten sich markttaugliche Konzepte ohne Schranken, können es zu hoher Präsenz bringen und führen damit zur Homogenität individualisierter Religion.

In den beobachteten Beispielen aus dem Bereich alternativer Religiosität stehen sich Individuen im Austausch gegenüber, ohne dass dieser institutionell oder gemeinschaftlich vermittelt worden wäre. Damit besteht ein grundlegender Unterschied zu dem, was Durkheim unter Religion versteht, nämlich in der Art und Weise der sozialen Vermittlung. Als Merkmal von Religion sieht Durkheim die „Kirche“ (Église) (siehe Abschn. 2.1.3.2). Freilich finden sich in den hier beobachteten individualisierten Formen Strukturen, z. B. formale Organisationen, aber die partizipierenden Individuen sind nicht über Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit dauerhaft mit ihnen verbunden. Wie von Durkheim (1994: 72, 62) für Magie festgestellt, gibt es zwar Assoziationen zwischen den Anbietern, z. B. an Messen über den Buchhandel oder Kurszentren, aber sie sind nicht vollumfänglich konstitutiv für das Angebot, damit handelt es sich nicht um Religion in Durkheims Sinne. Die hier verwendete Religionsdefinition (siehe Abschn. 2.7) ist jedoch nicht auf eine gemeinschaftliche oder organisatorische Einheit, wie sie Durkheim mit dem Begriff der Église vorgeschwebt haben mag, angewiesen. Damit lassen sich die von Pike (2004) beschriebenen Neopaganen durchaus als religiös bezeichnen. Obwohl das rituelle Vokabular gross ist, lässt sich als Gemeinsamkeit das Erzeugen eines „sacred space“ (Pike 2004: 108) ausmachen. So wird beispielsweise durch das Streuen von Salz oder das Abbrennen von Weihrauch eine Grenze zwischen heilig und profan gezogen. Dies erlaubt es in diesen Fällen, die Unterscheidung zwischen transzendent/immanent oder heilig/profan auszumachen. Die Diversität des Feldes der individualisierten Religion macht es aber schwierig, es in seiner Gänze einer Kategorie wie Religion zuzuordnen. Es gibt im Feld alternativer Religiosität keine zentralisierten oder umfassend autoritativen Selbstbeobachtungen, anhand derer eine Semantik wie das Gegensatzpaar transzendent/immanent als Massstab für das ganze Feld identifiziert werden könnte. Die individualisierte Form, die die beobachteten Phänomene wie Bekenntnisrituale kennzeichnet, macht pauschalere Urteile problematisch. Es ist damit sinnvoller, die Frage, ob es sich um Religion handelt, falls sie überhaupt von Interesse ist, fallspezifisch und nicht über das ganze Feld hinweg zu entscheiden.

5.3.5.2 Soziale Ordnung

Wie kann der Zusammenhang der beobachteten religiösen Individualisierung mit der sozialen Ordnung der Gesellschaft beschrieben werden? Da es sich nicht in Durkheims Sinne um eine Kirche/moralische Gemeinschaft handelt, scheinen die konstitutiven Folgen für die soziale Ordnung zunächst einmal zweifelhaft. Um die Frage differenzierter zu beantworten, ist es wichtig, die religiöse Individualität in einen Kontext breiterer Vorgänge der Individualisierung zu stellen. Die gesteigerte Individualität ist kein ausschliesslich religiöses Phänomen, sondern eine übergreifende gesellschaftliche Tendenz, als deren Reproduktion die diskutierten religiösen Rituale gesehen werden können.

Diese religiöse Individualität bedeutet, auch wenn sie auf Kosten von Gemeinschaftlichkeit geht, keine Vereinzelung, sondern bindet das Individuum in soziale Kontakte ein. Die Beispiele von Gruppenmeditationen bei Sutcliffe, Pike und Wood zeigen die Wichtigkeit von Interaktionen, und damit von Kontakten, für diese Form von Religion. Dies macht Goffmans (1961: 13) Vermutung anwendbar, dass kollokale Interaktion umso einflussreicher ist, je weniger stark die übergreifende Gemeinschaft ist. Dieser Schluss bestätigt denjenigen, den Schroer zum breiteren Vorgang der Individualisierung zieht. Die „individualisierte Gesellschaft“ ist nicht als Auflösung aller sozialen Bezüge zu verstehen: „Von einem globalen Solidaritätsschwund, einer ersatzlosen Streichung aller Gemeinschaftsformen (\(\ldots \)) kann keine Rede sein“, (Schroer 2001: 455). Es bestehe angesichts der Kontakte, Bindungen und Vereinigungen kein Bedarf, der kommunitaristischen Forderungen Folge zu leisten, die „Unübersichtlichkeit der Gesellschaft“ in die „Überschaubarkeit der Gemeinschaft“ zurückzuführen (Schroer 2001: 456).

Das Feld alternativer Religiosität wird nicht über dauerhafte Strukturen aufrecht erhalten, die die einzelnen Interaktionen bestimmen, weshalb den Situationen eine hohe Flexibilität zukommt. Verschiedenste Elemente können eingebracht werden und auch die Beteiligten wechseln immer wieder. Insofern gibt das Feld alternativer Religiosität die Komplexität der Gesellschaft ziemlich unvermittelt wieder, statt dass die rituelle Interaktion von abgegrenzten Gemeinschaften bestimmt würde. Damit gibt es keine situationsübergreifenden, starken und relativ selbständigen gemeinschaftlichen Strukturen, die die Interaktionen in ihrem Sinne strukturieren.

Diese individualisierte und interaktionsbezogene Form von Religion führt gleichwohl, wie gezeigt, zu einer relativ grossen Uniformität an Überzeugungen und Ähnlichkeiten von Praktiken. Dies steht im Gegensatz zu einer segmentierten Aufteilung der Gesellschaft in starke Gemeinschaften, mit jeweils eigenen und relativ autonomen Komplexen von Glaubensvorstellungen und Ritualen. Diese gleichmässige und mit schwachen Gruppen verbundene Form von Religion weist auch ein schwaches grid auf: Es gibt keine starken Rollenzuweisungen oder Zugangseinschränkungen, abgesehen von monetären, das heisst nicht religiös bereitgestellten Mitteln. Das legt den Schluss nahe, dass von dieser Form von Religiosität das Individuum weniger in seiner Relation zu anderen bestimmt wird und weniger an seiner sozialen Position als an seiner eigenen Befindlichkeit arbeitet. Das heisst, dass die religiösen Rituale zur Konstitution des modernen Individuums beitragen. Mit Tschannen kann der „religiöse Individualismus“ über die Idee der Ermächtigung definiert werden:

„(\(\ldots \)) l’individualisme croyant réfère à une situation où une personne utilise la croyance comme ressource pour résoudre un problème apparu dans sa trajectoire personnelle, l’idée de trajectoire renvoyant au processus par lequel la personne se construit comme sujet.“ (Tschannen 2008: 132; Hervorhebungen im Original)

Religiöser Individualismus ist dabei durch Wahl ausgezeichnet. Bei französischen Buddhisten stellt Tschannen fest, dass Religion als Ressource für Problemlösung verwendet wird (vgl. Tschannen 2008: 140). Damit pflegt Religion gewissermassen das Individuum, das in modernen Zusammenhängen stark beansprucht wird, und tut dies in einem weitgehend hierarchiefreien Raum, in dem nicht Leistungen gemessen, sondern das Ich gepflegt wird. Die hier vorgestellten Praktiken erlauben durch diese Pflege eine Arrangierung mit den sozialen Umständen und erzeugen ein Individuum, das mit ihnen umgehen kann.

Für dieses Arrangieren mit der Welt dürften zwei Faktoren massgeblich sein:

  1. 1.

    Sowohl in der Geschichte des Bekenntnisses, die weg von der religiösen Beichte hin zur weltlicheren Auseinandersetzung mit dem Individuum und seinen Verstössen führt, als auch im Feld alternativer Religiosität findet sich eine Verschiebung der Mittel und Ziele weg vom Jenseitigen oder Transzendenten hin zur Innerweltlichkeit. Im Zentrum der Bezüge steht dabei die Pflege der alltäglichen Bedürfnisse des Individuums. Der bestehenden sozialen Ordnung wird damit keine jenseitige gegenübergestellt, die einen vertröstenden oder aktivierenden Kontrast zu ihr darstellen würde; vielmehr geht es um die rituell herbeiführbare Realisierung diesseitiger Bedürfnisse. Dies geht mit dem Ausbleiben einer stark selegierenden und strukturierenden Form der Gemeinschaft und damit einhergehenden distinkten Vorstellungen einher. Es ist zu erwarten, dass für die Ausformulierung und Plausibilisierung von Glaubensvorstellungen, die über das Konzept eines Jenseits der Gesellschaft eine starke Alternative gegenüberstellen, eine starke, entweder umfassend bestimmende oder distinkte Gemeinschaft notwendig wäre. Die beobachteten schwachen und unverbindlichen Strukturen sind dagegen strukturell stark in die Gesellschaft eingebunden, entsprechend sind ihre Heilsvorstellungen innerweltlich und weltbejahend.

  2. 2.

    Auch jenseits der innerweltlichen Ausrichtung der Vorstellungen ist in der Sozialform des Individuums im Vergleich zu derjenigen der Gemeinschaft ein Potenzial zur Arrangierung mit der Welt zu vermuten: Es bestehen schwache Bindungen zu einem grossen Personenkreis, der niederschwellig betreten und wieder verlassen werden kann. Religiöse Rituale tragen damit nicht zu einem Kollektiv bei, das Grundlage einer subkulturellen Abschottung oder einer gegenkulturellen Opposition sein kann. Entsprechende Formen von Religiosität stehen in einer problemlosen Koexistenz mit anderen Ansprüchen in der Gesellschaft. Beispielsweise stellen komplementäre religiöse Praktiken im Gesundheitsbereich weniger ein Problem dar, als Gebote, die durch die Kopplung an Gemeinschaftszugehörigkeit verbindlich sind, wie beispielsweise ein Verbot von Bluttransfusionen. Der mit den alternativ-religiösen Praktiken verbundene Individualismus macht für die praktizierenden Individuen wie auch für Beobachter allenfalls dahinter stehende Autoritäten unsichtbar, weshalb auch daraus abgeleitete Ansprüche auf individuelle Entscheidungen, denen in der Gesellschaft als Instanz ein gewisses Mass an Legitimität zukommt, nicht auf als gesellschaftsgefährdend wahrgenommene Strukturen zurückgeführt werden.

Angesichts dieser beiden Folgen für die soziale Ordnung können mit Martin (2014) solche Formen von Religion als neues „Opium der Bourgeoisie“ betrachtet werden, da das Individuum in seinem innerweltlichen Funktionieren unterstützt wird und zwar entlang einer kapitalistischen, individualisierenden Logik mit ihrer Betonung von individueller Verantwortung und Machbarkeit. Damit stärke sie diese Logik und die davon erzeugte Ordnung.Footnote 68 Ob diese Erzeugung und Einbindung des Individuums in die soziale Ordnung mit der Folge ihrer Reproduktion mit Martin und Giddens eher negativ als „Kommodifizierung“ bezeichnet werden soll oder mit Durkheim als ein die soziale Ordnung aufrecht erhaltender „Kult des Individuums“ positiv zu werten ist, kann nur mit einem werthaften Massstab beurteilt werden und wird deshalb hier nicht entschieden.