Im vorliegenden Kapitel wird soziale Ordnung in der Form von Interaktion charakterisiert und gefragt, wie sie von religiösen Ritualen strukturiert wird. Dafür wird im Abschn. 3.1 ein mikrosoziologisches Interaktionsverständnis ausgearbeitet, dies im Anschluss an die Rezeptionslinie, die von Durkheim über Erving Goffman zu Randall Collins führt.

Während mikrosoziologisch Interaktion tendenziell eher als eigenständige Form des Sozialen gilt, sieht eine praxistheoretische Perspektive sie als in hohem Masse von ihrem Kontext bestimmt. Diesen Zusammenhang zwischen Interaktion und Kontext gilt es im Abschn. 3.2 herzustellen. Die Theoriediskussion schliesst das Fazit im Abschn. 3.2.5 ab, in dem eine Position herausgearbeitet wird, die die Versäumnisse der Praxistheorie hinsichtlich der Analyse von Interaktion angeht, aufzuheben versucht und gleichzeitig die Vorstrukturiertheit der Interaktion durch den Kontext, die in der Mikrosoziologie oft wenig beachtet wird, aber gerade den Fokus von Praxistheorien darstellt, zu berücksichtigen ermöglicht.

Die so ausgearbeitete Position wird im Abschn. 3.3 auf zwei Fallbeispiele angewandt um zumindest in Ansätzen zeigen zu können, wie mit einer entsprechenden Perspektive ritualisierte Interaktion zu untersuchen ist.

3.1 Interaktion im Anschluss an Durkheim

Für die soziologische Auseinandersetzung mit der sozialen Ordnung der Interaktion sind Autoren wie Erving Goffman oder Randall Collins massgeblich. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf Interaktion unter Anwesenden und tun dies unter Rückgriff auf ein – in beiden Fällen eher breites – Ritualverständnis. Bezugspunkt für beide Autoren ist dabei Emile Durkheim und so gilt es, in einem ersten Schritt, zu zeigen, wie Durkheim der Interaktionsebene Aufmerksamkeit schenkt und danach der von ihm ausgehenden Rezeptionslinie bis in aktuelle Ansätze der Mikrosoziologie hinein zu folgen.

3.1.1 Kollokale Interaktion in den Formes

Durkheims Formes sind sowohl Ausgangspunkt für makrosoziologische Argumentationen, die Religion und Ritual als konstitutiv für Solidarität sehen, als auch Bezugspunkt für Forscher, die ihren Blick auf kollokale Interaktionen legen: Für Autoren wie Randall Collins oder Anne Rawls stellen die Formes gar eine Grundlegung für eine Theorie der Interaktionen dar. Um dieser Referenz Rechnung zu tragen und eine daran anschliessende Mikrosoziologie kontextualisieren zu können, gilt es im vorliegenden Abschnitt Durkheims Auseinandersetzung mit Interaktionen in den Formes näher zu betrachten.

3.1.1.1 Ausgangspunkt für die Rituale

Kollokalen Interaktionen widmete sich Durkheim vor allem in seiner Auseinandersetzung mit religiösen Ritualen. Diese Auseinandersetzung fand dabei in seinen frühen Werken kaum statt. Auch in der mittleren Periode, in der das Thema Religion bereits zentral war, spielten Glaubensvorstellungen eine wichtigere Rolle als Rituale (vgl. Pickering 2009: 326). Immerhin hat Durkheim (1961: 111) aber in den Règles auf den „Kollektivaffekt“ hingewiesen, was für einen französischen Soziologen seiner Zeit durchaus nicht aussergewöhnlich war, denn Situationen kollektiver Erregung unter den Bedingungen der Kollokalität waren in der französischen Sozialwissenschaft seiner Zeit durchaus wichtig. Einen zentralen Stellenwert nehmen sie bei Durkheim erst in seinem Spätwerk ein, insbesondere den Formes, auf denen deshalb im Folgenden das Augenmerk liegen soll.

Illustrativ für den Zugang Durkheims zu rituellen Interaktionen ist seine Identifizierung ihres Ausgangspunktes. Im Gegensatz zur Massenpsychologie sah Durkheim nicht spontane Aggregation und Imitation als Ausgangspunkt von Ritualen, sondern thematisierte sie als Teil einer Ordnung. Damit hat Durkheim nicht bloss, darauf weist Pickering (2009: 396) hin, massenpsychologische Konzepte seiner Zeit wiedergegeben, wie Kritiker wie Evans-Pritchard (1965) ihm unterstellen.Footnote 1 So sah Durkheim seine rituellen Kongregationen mit einer stärkeren „Wir-Identität“ jenseits der blossen emotionalen Stimuliertheit versehen, als z. B. Gustave Le Bon es seinen „Massen“ attestierte (vgl. z. B. Le Bon 1982: 22).Footnote 2 Auch die Interaktionen, mit denen sich Durkheim in den Formes beschäftigt, sind für ihn in konstitutiver Weise in einen breiteren Kontext eingebettet: Die Tradition stelle, so Durkheim (1994: 499, 531), den Ausgangspunkt des Ritus dar und er werde laut den Aborigines deswegen abgehalten, weil er von den Ahnen komme. Das Ritual entsteht also nicht aus der Situation und der blossen gegenseitigen emotionalen Ansteckung – und genausowenig wird das Ritual aufgrund von situativer Kalkulation abgehalten:

„Aber man feiert das Fest nicht, um Regen zu bekommen. Man feiert es, weil es die Ahnen gefeiert haben; weil man an ihm als einer sehr geachteten Tradition hängt und weil man aus ihr mit dem Gefühl des moralischen Wohlbefindens hervorgeht.“ (Durkheim 1994: 508 f., 540 f.)

Das heisst, dass Tradition über eine als selbstverständlich wahrgenommene Verpflichtung wirksam wird, wobei diese Wirksamkeit mit „Wohlbefinden“ und einem guten Gefühl einher geht. Dies trifft für Durkheim sowohl auf periodisch stattfindende Rituale zu, wie auch auf solche, mit denen auf bestimmte Vorkommnisse, z. B. einen Todesfall, reagiert wird.

3.1.1.2 Zusammenkunft und Erregung

Zur Illustration der Emotionalität ritueller Zusammenkünfte verweist Durkheim auf Ritualbeschreibungen bei Spencer und Gillen (1899: 509–510). Einmal in Gang gekommen, zeitigt die aus einem traditionellen Kontext hervorgehende Situation höchst emotionale Folgen für Teilnehmende und Gemeinschaft und versetzt sie in einen ausseralltäglichen Zustand: Das in eine rituelle Interaktion einbezogene Individuum „[kennt sich] bei dieser Erregung nicht mehr“ (Durkheim 1994: 300, 312). Es wird gemäss Durkheim von einer Macht ausserhalb seiner selbst bestimmt und hat das Gefühl, nicht mehr sich selbst zu sein. Dieses Gefühl wird von den Leuten geteilt, die es umgeben und ihrerseits ihre Befindlichkeit durch Schreie und Gesten mitteilen. Durkheim beschreibt, wie dies zu einem gegenseitigen emotionalen Emporschaukeln führt, das bis zur Selbstverletzung gehen kann. Venen werden aufgeschnitten, es wird gesungen, das Blut fliesst, es herrscht eine „wahre Raserei“ (Durkheim 1994: 449, 474), in der auch herkömmliche Regeln, z. B. hinsichtlich von Geschlechtsverkehr oder Gewalt, übertreten werden und die Beteiligten wild aufeinander einschlagen (vgl. Durkheim 1994: 297 f., 309). Handlungsanleitend kann dabei auch das Verhalten eines Führers sein, dessen Handlungen, z. B. das Essen bestimmter Speisen, von den Teilnehmenden nachgeahmt werden (vgl. Durkheim 1994: 453, 479).

Der Zustand kollektiver Efferveszenz ist durch die „Überreizung“ der Beteiligten gekennzeichnet; „excitement“ und „Erregung“ greifen um sich, wie Durkheim (z. B. Durkheim 1994: 299 f., 310 ff.), sich begrifflich an Spencer und Gillen orientierend, schreibt. Es handelt sich um zeitlich begrenzte, emotional höchst intensive Momente, in denen die Individuen jenseits von Kalkül oder Überlegung agieren und sich gleichzeitig in völliger Handlungssicherheit wähnen (vgl. Durkheim 1994: 286, 296). Diese Efferveszenz kann sich in Emotionen der Trauer, aber auch der Freude äussern. In beiden Fällen sind kollektive Zeremonien die Ursache und die Efferveszenz prinzipiell dieselbe: „Die dadurch erweckten Gefühle sind unterschiedlich; aber die Erregung bleibt die gleiche.“ (Durkheim 1994: 535, 571). Ob glückliches oder trauriges Ereignis, die kollektiven Gefühle werden belebt und die Individuen suchen die Nähe, „man presst sich so stark wie möglich aneinander“ (Durkheim 1994: 535, 571).

3.1.1.3 Längerfristige Wirkungen

Das rituelle Überschäumen klingt gemäss Durkheim (vgl. Durkheim 1994: 298, 310) zwangsläufig wieder abFootnote 3, da es in seiner hohen Intensität nicht lange weitergetragen werden kann. Dennoch bleibt das Ritual nicht ohne Folgen. So führt die Emotionalität des Vollzuges zu einer überdauernden Autorität der im Ritual vollzogenen Handlungsanweisungen und verleiht ihnen eine dauerhafte moralische Kraft:

„Darum hat der Befehl im allgemeinen kurze, schneidende Formeln, die dem Zaudern keinen Platz lassen. In dem Mass, in dem er nur als Befehl auftritt und nur durch seine eigenen Kräfte wirkt, schliesst er jeden Gedanken an Überlegung und an Berechnung aus. Der Wirkungsgrad des Befehls hängt von der Intensität des Geisteszustands ab, in dem er gegeben wird. Diese Intensität ist es, die das ausmacht, was wir moralischen Zwang nennen.“ (Durkheim 1994: 286, 296 f.)

Diese Intensität wird, wie Durkheim betont, im Kollektiv erzeugt und die entsprechenden Autoritäten gewinnen dadurch Geltung bei den Einzelnen. Weder Kalkül noch physischer Zwang bestimmen also die Kausalität, bestimmend ist vielmehr die Emotionalität, mit der die Regeln und Autoritäten, die sie verkörpern, besetzt sind. Die Gefühle, die man für etwas hegt, breiten sich ansteckend auf die Auffassungen aus, die mit den Gegenständen verknüpft sind, die im Ritual involviert sind: Dinge, wie bestimmte Steine oder auch Tiere, werden heilig, weil sie im Ritual mit Gefühlen in Verbindung gebracht wurden. Es sind nicht die spezifischen Qualitäten dieser Dinge, die zu dieser „Heiligkeit“ führen, sondern die Emotionen, die zur Herstellung von Bedeutung und Relevanz führen (vgl. Durkheim 1994: 414 f., 437).

Auf der Ebene der Emotionen stellt Durkheim (1994: 505, 537) längerfristige Wirkungen fest, die sich durch ein Gefühl der Stärke, der Macht, des Selbstvertrauens, des Mutes und der Souveränität auszeichnen (vgl. die Zusammenstellung bei Carlton-Ford 1993: 12). Es wird den Teilnehmenden bewusst, „dass die Zeremonie ihnen guttut“ (Durkheim 1994: 484, 513). Auch das Gefühl der Sicherheit, sich im Fühlen und Handeln in Einklang mit den sozialen Vorgaben zu befinden, hat eine längerfristige Wirkung auf das Bewusstsein, das Ritual führt damit gemäss Durkheim zu einem Erstarken der Moral.

Auf der kognitiven Seite führt, so Durkheim (1994: 301, 313), der Kontrast zwischen den aussergewöhnlichen, efferveszenten Momenten und dem davon grundsätzlich verschiedenen Alltag zum Bewusstsein, dass es zwei ganz unterschiedliche, nicht miteinander vergleichbare und unvereinbare Welten gibt. Gerade durch die tägliche Wiederholung des von ihm diskutierten Rituals bei den Aborigines während zweier Wochen entstehe die Überzeugung, dass es eine profane Welt des Alltags auf der einen Seite und eine heilige (sacré) Welt auf der anderen Seite gibt, die im Ritual gelebt wird (vgl. Durkheim 1994: 301, 313). Die Unterscheidung zwischen heilig und profan und damit von Religion gründet somit in der Erfahrung kollektiver Efferveszenz:

„In diesem gärenden sozialen Milieu und aus dieser Gärung selbst scheint also die religiöse Idee geboren worden zu sein.“ (Durkheim 1994: 301, 313)

Über Vorstellungen von Heiligkeit findet der Transfer von Emotionen und Kategorien aus dem Ritual ins Leben hinein statt, wie Durkheim am Beispiel des Opfers im Anschluss an Robertson Smith ausführt: Opferrituale hätten nicht, wie bisher angenommen, den Sinn, Verzicht zu üben, sondern seien vielmehr dazu da, die Leute in einer Kommunion des Essens („communion alimentaire“) zusammenzubringen (vgl. Durkheim 1994: 455, 481). Nicht nur die blosse Kopräsenz mit heiligen Wesenheiten, sondern auch die Aufnahme von als heilig geltender Nahrung führe dabei zur Heiligung des Menschen (vgl. Durkheim 1994: 455, 481), das Opfertier werde durch verschiedene Handlungen zu einer heiligen Sache und übertrage sich anschliessend auf den Ritualteilnehmer.Footnote 4 Ein Mitglied des Känguruklans wird über diese Mitgliedschaft definiert und muss sich deshalb hin und wieder etwas vom Fleisch seines Totemwesens einverleiben (Durkheim 1994: 456, 482). Damit trägt jedes Klanmitglied einen Teil der „substance mystique“ in sich und durch diese erlangt es seine soziale Rolle, wird zum sozialen Wesen. Doch das Gefühl, ein soziales Wesen zu sein, verliert sich im Zeitverlauf immer wieder: „Unglücklicherweise verbrauchen sich alle, selbst die geistigen Kräfte im Verlauf der Zeit, wenn ihnen nichts die Energie ersetzt, die sie durch den natürlichen Lauf der Dinge verlieren. Es besteht hier also eine Urnotwendigkeit, die, wie wir sehen werden, der Urgrund des positiven Kultes ist.“ (Durkheim 1994: 456, 482). Die Mitglieder des Totems müssen also in einer gewissen Regelmässigkeit am Kult teilhaben, um sich selbst, und das heisst: ein über Klanzugehörigkeit definiertes soziales Wesen, zu bleiben.

3.1.1.4 Rezeption

Die eben zusammengefassten Ausführungen Durkheims zu kollokalen Interaktionen wurden zunächst wenig rezipiert: Die Durkheimrezeption in der angelsächsisch und strukturfunktionalistisch geprägten Soziologie im Anschluss an Talcott Parsons führte eher den modernisierungstheoretischen Durkheim der Division fort und übernahm, wie in Abschn. 2.6 gezeigt, aus den Formes die Betonung der Glaubensvorstellungen und transformierte sie in Werte. So stellt Ritzer (1985: 94) fest, dass in der Rezeption im Strukturfunktionalismus dem Aspekt der Wertintegration hohe Aufmerksamkeit geschenkt wurde, während Interaktionen und Emotionen eine höchstens zweitrangige Bedeutung zugewiesen wurde. Es war nicht zuletzt die Verkennung seines mikrosoziologischen Beitrages, die der Kritik an Durkheim den Weg ebnete, dieser habe die „kollektive Seele“ zu einem metaphysischen Konzept erklärt (so z. B. Malinowski 1973: 44). Talcott Parsons’ an Durkheim geübter Vorwurf des „Idealismus“ ist durchaus verwandt mit der Kritik Malinowskis.

Es ist jedoch bemerkenswert, dass Parsons in der Structure die Bedeutung, die Durkheim den Ritualen zumisst, durchaus sieht. So diskutiert er Durkheims entsprechende Auseinandersetzung in einem eigenen Abschnitt (vgl. Parsons 1949: 429–441), weist auf die Wichtigkeit der empirischen Ausführungen zur Situation der Efferveszenz für Durkheim hin (vgl. Parsons 1949: 437) und widmet sich der Frage der theoretischen Einordnung ritueller Praktiken. Dabei erkennt er die Wichtigkeit der Beschreibung der „collective ceremonies“ und Durkheims Analyse der „psychological reactions arising from the factor of physical propinquity of large numbers of people.“ (Parsons 1949: 438) an. Und er erkennt auch, dass für Durkheim Rituale „the primary element of religion“, dagegen „religious ideas [...] secondary rationalizations, explanations, justifications of ritual“ (Parsons 1949: 426) darstellten. Trotzdem schloss er: „The main importance of his thought lies elsewhere“, (Parsons 1949: 438) und beschäftigt sich vor seinem soziologiegeschichtlichen, metatheoretischen Fragehintergrund fortan kaum mehr mit der rituellen Interaktion bei Durkheim. Stattdessen betrachtet er (1949: 426) „the intellectual formulation, part determinant, part expression, of the cognitive basis of common ultimate-value attitudes“ als zentralen Aspekt von Durkheims Religionssoziologie. Auch in seiner späteren Auseinandersetzung mit Durkheim sieht Parsons (1978b [1973]) zwar den Stellenwert von Efferveszenz, legt aber seine Perspektive auch hier nicht auf den mikrosozialen Vollzug von Ritualen.

Auch Parsons’ Schüler Jeffrey Alexander scheint dessen Durkheim-Einschätzung zu teilen. Er weist zwar, zusammen mit Bernhard Giesen (1987: 8), angesichts von Durkheims Ritualanalysen auf dessen Bedeutung für die Mikrosoziologie hin, sieht hier aber wenig Potenzial: „[Durkheim] never developed even the rudiments of a social psychology that could explain such microprocess [sic] satisfactorily.“ Diese Einschätzung steht in einem scharfen Gegensatz zu der noch genauer zu betrachtenden Durkheimrezeption bei Collins.

Diese einseitige Rezeption Durkheims war auch ein Faktor in dessen zwischenzeitlichen Bedeutungsverlust als Klassiker: In der gesellschaftstheoretischen Betonung stellte Durkheim eine zentrale Referenz strukturfunktionalistischer Autoren dar und geriet deshalb mit in den Sog der Kritik, in welchen der Strukturfunktionalismus ab den 1950er Jahren geriet. Als Gewährsmann einer dem Niedergang geweihten strukturfunktionalistischen Soziologie verlor er in der ganzen Disziplin an Bedeutung. Ab den 1990ern wurde aus dem „useless Durkheim“ (Tilly 1981) jedoch wieder ein „useful Durkheim“ (Emirbayer 1996). Wie Tilly (1981: 107) bereits vermutet hatte: „Sociologists always have one more version of Durkheim to offer when the last one had failed.“ Durkheims revival war verbunden mit einer an Prominenz gewinnenden Soziologie von Interaktionen und Emotionen, in der sich verschiedentlich Verweise auf Passagen von Durkheims Formes finden.Footnote 5 Emotion als Thema der Soziologie gewann seit 1975 mit Publikationen von Arlie Hochschild, Thomas Scheff und Randall Collins an Bedeutung (vgl. Kemper 1990). Wird nach der Verbindung zwischen diesen neuen Betonungen in der Soziologie mit Durkheim gefragt, ist auf die Figur einzugehen, die als Bindeglied fungiert: Erving Goffman.Footnote 6

3.1.2 Encounters bei Goffman

Die Bandbreite der Interpretationen von Goffmans Werk ist beträchtlich: Er wird als (symbolischer) Interaktionist, als Strukturalist oder als Ethnomethodologe bezeichnet, als „moralisierend“ (vgl. z. B. Creelan 1987) oder als Zyniker charakterisiert (vgl. zur Spannbreite an Rezeptionen auch: Kim 2003). Randall Collins (1980: 206) schliesst bezüglich Goffman sogar: „he himself manifests an extreme form of role-distance, separating himself from any clear, straightforward position, be it theoretical or popular“. Tatsächlich arbeitet Goffman in seinen Studien mit verschiedensten Konzepten, die er oft in den jeweils darauffolgenden Werken diskussionslos ablegt, um zur Entwicklung neuer Konzepte überzugehen. Eine explizite Verhandlung dieser Übergänge oder gar eine retrospektive Systematik liefert Goffman nur in Ansätzen und wehrt sich explizit gegen die Tendenz zur Einordnung von Autoren zu bestimmten theoretischen Ansätzen. So kommt man nicht umhin, Goffman als „multiperspektivischen Autoren“ zu fassen (vgl. Dellwing 2010). Goffman habe verschiedene „Frames“ auf seine Gegenstände angewandt und sein Werk selbst könne ebenfalls durch eine Vielzahl von frames interpretiert werden. Nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Fassbarkeit seiner Systematik ist die Bedeutung Goffmans umstritten. Diese dürfte jedoch weniger an der Kohärenz seines Ansatzes als am analytischen Nutzen seiner Perspektiven und Konzepte zu messen sein (vgl. Strong 2013 [1982]: 8).

Einigkeit hinsichtlich der Leistungen Goffmans besteht immerhin dahingehend, dass er Interaktion ins Zentrum seiner Analyse und auch der Soziologie überhaupt rückte. Vor allem der frühe Goffman (1982: 2) arbeitete an einer „sociology of occasions“, in denen das „co-mingling of persons“ der Gegenstand ist, „social gathering[s] (...) created by arrivals and killed by departures“. Er identifizierte die interaction order als separaten Gegenstandsbereich einer Soziologie, die sich mit den „Verkehrsregeln“ der Interaktion auseinandersetzt. Der Fokus liegt dabei aber nicht auf der Frage, wieso Menschen interagieren oder was dabei ihre Ziele sind (vgl. Kendon 1988: 15), es gehe ihm nicht um „the individual and his psychology, but rather the syntactical relations among the act of different persons mutually present to one another“ (Goffman 1982: 2) und damit, wie Goffman (1982: 3) ein Seite später mit einer vielzitierten Selle schliesst: „Not, then, men and their moments. Rather moments and their men.“Footnote 7

Wie später Luhmann (siehe Abschn. 2.8.2.1), bestimmt Goffman Kopräsenz, die gegenseitige Wahrnehmung ermöglicht, als entscheidendes Merkmal von Interaktionen:

„Persons must sense that they are close enough to be perceived in whatever they are doing, including their experiencing of others, and close enough to be perceived in this sensing of being perceived.“ (Goffman 1963: 17; vgl. auch 1982: 2; 1983: 2)

Gegenseitige Wahrnehmbarkeit führt zu einer Interdependenz der Handlungen, die Personen werden gegenseitig zu Informationsquellen, wobei Informationen gezielt kommuniziert oder für die Anwesenden einfach ersichtlich sein können (vgl. Goffman 1983: 3; Kendon 1988: 22–23). Dabei kommt es in dieser Perspektive nicht darauf an, ob die Information intentional kommuniziert wurde oder nicht, sondern darauf, wovon in der Interaktion ausgegangen wird.

Anhand des Grades der Fokussierung der Anwesenden differenziert Goffman (1982: 129–134) zwischen verschiedenen Formen von Interaktion: So unterscheidet er 1) zwischen zentrierter, fokussierter Interaktion, die vor allem sprachliche Involvierung der Beteiligten erfordert, 2) „pseudo-conversations“, in denen die Involvierung im fokussierten Geschehen mittels körperlicher Gesten geschieht und 3) nicht-fokussierter Interaktion, wie z. B. das Stehen in einer Warteschlange, in der ein gemeinsamer Fokus ausbleibt. Fokussierte Interaktionen führen einen „conjoint focus of cognitive and visual attention“ (Goffman 1982: 2) mit, der zu „involvement obligations“ führt, das heisst, dass der Fokus den an der Interaktion Beteiligten hinsichtlich ihres Handelns gewisse Pflichten auferlegt. Solche Pflichten kann es auch bei nicht-fokussierter Interaktion geben, wobei sie sich dabei aus Rollenerwartungen speisen. In solchen Fällen ist die Interaktion weniger prekär und mit weniger „self-consciousness“ verbunden, da die Beteiligten ihr Verhalten nicht auf einen situativ erzeugten und allseits wahrgenommenen Fokus ausrichten und darauf immer wieder reagieren, sondern an jenseits der Situation stabilisierten Verhaltenserwartungen (vgl. Goffman 1982: 134).

Fokussierte Interaktion ist gemäss Goffman besonders stark emotional besetzt: So beispielsweise mit Nervosität oder auch mit Euphorie, dies wenn sie „durchstartet“ (comes off), also, so liesse sich mit Durkheim anschliessen, die Handlungssicherheit durch die Abstimmung des Verhaltens hoch ist und sich kollektive Efferveszenz einspielt. In anderen Fällen fühlen sich die Beteiligten unwohl, da der gemeinsame Fokus das Handeln und die Wahrnehmung der Beteiligten nicht abzustimmen vermag, sie aber dennoch ihren „involvement obligations“ nachkommen müssen (vgl. Goffman 1982: 135).

Ritualisiertes Handeln könnte diesen „Improvisationsdruck“ und die damit einhergehende „self-consciousness“, so könnte hier angeschlossen werden, auch für fokussiertes Handeln ausschalten, da es sich, obwohl fokussiert, an situativ übergreifenden Erwartungen orientiert. Der Begriff des Rituals spielt bei Goffman nur vorübergehend eine wichtige Rolle. In einigen Werken bezieht er ihn auf soziale Interaktionen jeglicher Art und sieht Gesellschaft als durch „Kleinstrituale“ geregelt. Als Beispiel für sein breites Ritualverständnis kann das gemäss Goffman geringfügigste Ritual dienen, die „civil inattention“: Dabei schenken die Beteiligten sich gegenseitig genug Aufmerksamkeit um zu demonstrieren, dass der andere als anwesend anerkannt wird, ziehen aber gleichzeitig sofort wieder die Aufmerksamkeit vom Gegenüber ab um zu zeigen, dass dieses nicht in Aktivitäten einbezogen wird: „In performing this courtesy the eye of the looker may pass over the eyes of the other, but no ‘recognition’ is typically allowed.“ (Goffman 1963: 84). So erfolge bei acht Fuss Entfernung gegenseitiges Betrachten, danach wende man die Augen ab. Goffman weist diesem Ritual eine grosse Bedeutung zu: „(...) we have here what is perhaps the slightest of interpersonal rituals, yet one that constantly regulates the social intercourse of persons in our society.“ (Goffman 1963: 84)

Wie andere Kleinstrituale stellt auch die „civil inattention“, insofern die Abstimmung der Beteiligten gelingt, einen „working consensus“ her. Alle funktionierenden Interaktionen unter „co-presence“ sind gemäss Goffman (1963: 96) durch einen solchen Konsens geprägt. Diese Produktion von „Richtigkeit“ führt zur Herstellung bzw. Stabilisierung von Rollen und Regeln. Die Partizipation einer Person am jeweils vorherrschenden Fokus der Aufmerksamkeit einer Interaktion informiert die anderen Beteiligten über die Intentionen dieser Person und gibt den anderen Sicherheit in der Begegnung mit ihr (vgl. Goffman 1961: 37). Die Involvierung, so Goffman weiter, führt zur Bestätigung von Gemeinsamkeit und Solidarität, das Ausbleiben von Partizipation kann als Ablehnung der Anwesenden oder der Situation bewertet werden. Anne Rawls schliesst:

„For Goffman the performance requires commitment even for the simplest of interactions. Meaning is, according to this view, a constitutive production in and through group performance.“ (Rawls 1987: 141)

Damit sieht Goffman InteraktionsritualeFootnote 8 als zentralen Faktor der Herstellung von Normalität: Die Involvierung in die fokussierte Interaktion bestätigt die Realität der Welt, die von den Regeln der jeweiligen Interaktion vorgeschrieben wird (vgl. Goffman 1961: 37). Devianz gegen diese zeremonielle Ordnung wird in der modernen Gesellschaft, so Goffman (1982: 94), z. B. durch die Internierung in psychiatrische Institutionen geahndet. Interaktionsrituale sind nicht nur die Grundlage sozialer Ordnung, sondern dabei auch konstitutiv für die „menschliche Natur“:

„Universal human nature is not a very human thing. By acquiring it, the person becomes a kind of construct, built up not from inner psychic propensities but from moral rules that are impressed upon him from without. (...) The general capacity to be bound by moral rules may well belong to the individual, but the particular set of rules which transforms him into a human being derives from requirements established in the ritual organization of social encounters.“ (Goffman 1982: 45)

Dieses Verständnis der sozialen Herstellung des Individuums, das Konzept einer sozialen Ordnung, die moralisch konstituiert ist, sowie die Verwendung einer Ritualbegrifflichkeit können als kreative Fortführung von Durkheims später Soziologie verstanden werden. Goffman selbst greift das Religionsverständnis Durkheims auf, so schliesst er hinsichtlich seiner Ausführungen zu deference und demeanor:

„In this paper I have suggested that Durkheimian notions about primitive religion can be translated into concepts of deference and demeanor, and that these concepts help us to grasp some aspects of secular living. The implication is that in one sense this secular world is not so irreligious as we might think. Many gods have been done away with, but the individual himself stubbornly remains as a deity of considerable importance. He walks with some dignity and is the recipient of many offerings. He is jealous of the worship due to him, yet, approached in the right spirit, he is ready to forgive those who may have offended him. Because of their status relative to his, some persons will find him contaminating while others will find they contaminate him, in either case finding that they must treat him with ritual care. Perhaps the individual is so viable a god because he can actually understand the ceremonial significance of the way he is treated, and quite on his own can respond dramatically to what is proferred him. In contacts between such deities there is no need for middlemen; each of these gods is able to serve as its own priest.“ (Goffman 1982: 95)

Goffman (1981a: 17) selbst hegte Zweifel an der Angemessenheit des Ritualbegriffs für seine Zwecke. Der Begriff sei nicht gänzlich angebracht, da er Konnotationen von Ausserweltlichkeit und Automatizität aufweise. Aufgrund der oft erfolgenden engen Verbindung von Ritual- und Religionsbegriff erschien „Ritual“ ihm als potenziell missverständlich. Theodore Kemper, ein Soziologe, der sich ab den 1970er Jahren ebenfalls der Analyse von Situationen und darin hervorgebrachten Emotionen widmete, sieht diese Verwendung des Ritualbegriffs höchst kritisch:

„by yoking ritual to everyday interaction [sic] Goffman, in a blink, had bonded his dissertation with Durkheim, a sociological eminence both in his own right and as interpreted by Parsons (1937) [die Structure; Anm. RW], who was himself a latter day eminence also cited by Goffman in his dissertation; and connected the thesis too with Durkheimian anthropology, via Radcliffe-Brown and W. Lloyd Warner, both students of ritual and themselves outstanding in their field.“ (Kemper 2011: 108, Fn 23)

Als interdisziplinäre Referenz habe sich dies für Goffman karrieretechnisch bewährt, in theoretischer Hinsicht sei diese Begriffsstrategie jedoch bedenklich: Kemper sieht Goffmans Durkheim-Lektüre als Fortsetzung parsonsianischer und anderweitig strukturfunktionalistischer Durkheimrezeption. Tatsächlich lässt die durchaus präsente Frage nach sozialer Ordnung und ihre Beantwortung durch Moral und Ritual eine Nähe zu Parsons vermuten. Dem stehen aber die höchst seltenen Referenzen auf ParsonsFootnote 9 und die bei diesen zwei Autoren unterschiedlichen Betonungen in der Durkheimrezeption entgegen: Parsons beschäftigte sich mit „Gesellschaften“, während Goffman sich der Frage nach der interaction order verschrieb. Auch Goffmans Bild des Individuums und seines Handelns ist von dem voluntaristischen Konzept Parsons’ und seiner Vorstellung des „unit acts“ verschieden. So entgegnet Rawls auf eine entsprechende Interpretation und Kritik an Goffman von Giddens:

„One can see that if we accept Gidden’s [sic] interpretation of Goffman’s work the motivation of actors to resist institutional constraint and to comply with institutional routine would indeed need explaining. But, Goffman has not argued that actors choose to do these things. He has argued that the interaction order places constraints on actors to do these things. Actor’s motives do not require explanation [sic] what requires explanation is how and why the interaction order would place such constraints on actors and situations.“ (Rawls 1987: 136)

Mit einem solchen Verständnis von Individuum und Handeln, das nicht durch die selektive Aneignung und Realisierung von Werten bestimmt wird, sondern durch die Betonung der oft nicht bewussten Einbindung in Handlungszusammenhänge, unterscheidet sich Goffman deutlich von Parsons voluntaristisch unterlegtem Strukturfunktionalismus und scheint dafür praxistheoretisch anschlussfähig. Das heisst auch, dass die Kritik an Parsons, die beispielsweise im Rahmen der Funktionalismusdebatten formuliert wurde, nicht ohne Weiteres auf Goffman anzuwenden ist. Gerade die für Parsons und Geertz wichtige Frage nach Werten und Symbolen wollte Goffman nicht im Zentrum sehen. Er sprach sich gegen die Suche nach „meaning“ als exklusivem Ziel (1981b: 61) aus und interessierte sich, wie eben gezeigt, für das Verhalten in alltäglichen Situationen, das er nicht als Handeln entlang der Vorgaben integrierter Wert- oder Symbolsysteme verstand.

Bereits beim frühen Goffman wird dabei aber auch klar, dass seine „sociology of occasions“ (Goffman 1982: 3) zwar eine Fokussierung des Blicks, keineswegs aber eine Reduktion der Soziologie auf das Studium von Situationen bedeutet. So identifiziert er beispielsweise Gruppen als soziale Gebilde, die sich nicht auf eine Aneinanderreihung von Situationen reduzieren lassen:

„(...) most groups, unlike encounters, continue to exist apart from the occasions when members are physically together.“ (Goffman 1961: 11)

Auch die soeben diskutierten „involvement obligations“ einer Situation können, so Goffman (1982: 130), nicht aus der Situation allein verstanden werden, sondern sind durch den Kontext bestimmt. Gegen Ende seiner Karriere, als mikrosoziologische Abgrenzungsbemühungen nicht mehr notwendig waren, weist Goffman (z. B. 1983) verstärkt auf die Bedeutung der Interaktionsebene für die anderen Bereiche des Sozialen hin. So betont er (1981b: 62) in der Auseinandersetzung mit symbolischen Interaktionisten, dass es ihm um „patterns and structures“ ginge, um „principled ways“, die Situation und Biographie überschreiten und die Interaktion strukturierten.Footnote 10

Dass Goffman bereits in „Interaction Ritual“ von 1967 die „interaction order“ zwar als eigene Sphäre des Sozialen, jedoch nicht als in ihrer Konstitution unabhängig konzipierte, zeigt, dass er, wenn er in seinem Spätwerk mittels des Begriffs des frames die Prinzipien charakterisiert, die situationsübergreifend Situationen strukturieren (vgl. Goffman 1974: 11), nicht mit seinem früheren Werk gebrochen hat. Für die praxistheoretisch informierte Position ist er damit besonders anschlussfähig. Doch bevor der Goffman der „Frame Analysis“ im Abschn. 3.2.3.2 weiter diskutiert wird, gilt es, den Ansatz eines seiner prominentesten Rezipienten, Randall Collins, zu diskutieren, der den mikrosoziologischen Fokus des früheren Goffman fortsetzte und dessen Fokus auf Interaktion als durch körperliche Kopräsenz ausgezeichnete Kommunikation, die Wichtigkeit der Herstellung eines geteilten Fokus und die Herstellung von Bedeutung in diesen Vorgängen übernahm und weiter ausbaute.

3.1.3 Interaktionsrituale bei Collins

3.1.3.1 Ansatz

Collins verortet sich mit seiner Ritualtheorie selbst in einer Kontinuität mit Durkheim und Goffman. Bemerkenswert ist dabei, dass auch Talcott Parsons einen entscheidenden Einfluss in Collins’ Studium darstellte: „Taking courses from Talcott Parsons settled me onto a path. He covered virtually everything, from the micro to the macro and across the range of world history. What I got from him was not so much his own theory but rather the ideal of what sociology could do.“ (Collins, zitiert in Ritzer 1996: 506–507). Er habe, so betont er an derselben Stelle, von Parsons gelernt „that Durkheim asked the key question when he tried to uncover the precontractual basis of social order.“

Zwei Merkmale charakterisieren Collins’ Zugriff auf die Mikroebene: Erstens stellt Collins nicht Handlung (agency) und Struktur (structure) einander gegenüber, sondern er beschäftigt sich mit der Struktur des Handelns im mikrosozialen Kontext. Damit weist seine Theorie bei allen Unterschieden eine Parallele zu praxistheoretischen Ansätzen auf, die nicht von einem Dualismus von Handeln und Struktur ausgehen (siehe Abschn. 2.2.2). Zweitens geht es Collins nicht um das Individuum, vielmehr ist die Grundeinheit seiner Analysen und seines Ansatzes die Situation – hier ist die Parallele zur Perspektive Goffmans (siehe Abschn. 3.1.2) und eine gewisse Kompatibilität mit dem Interaktionsverständnis Luhmanns (siehe Abschn. 2.8.2.1) ersichtlich. Situationen sind Ereignisse, die durch die gleichzeitige Anwesenheit der daran Beteiligten geprägt sind. Dabei ist diese Beteiligung nicht von Rationalität, das heisst bewussten Entscheidungen angeleitet, vielmehr wird das Individuum zur Interaktion mehr oder weniger von der Emotionalität angezogen. Damit wird, analog zu Goffman, das Individuum gewissermassen entmachtet, die kleinste Einheit ist die Situation. Emotion ist dabei der Hebel, der vom Sozialen auf das Individuum angesetzt werden kann.

Diesem Fokus entsprechend fällt Collins’ Durkheim-Lesart aus. Während von funktionalistischer Seite Durkheims Formes makrosoziologisch hinsichtlich des Beitrages von Religion und Ritualen für die Gesellschaft als Ganzes gelesen wurde, betont Collins, dass Durkheims Beitrag zur Herstellung von Solidarität und Symbolen auf der Interaktionsebene bedeutsamer sei. Daran anschliessend liest Collins Durkheim mikrosoziologisch-konflikttheoretisch und nicht makrosoziologisch-funktionalistisch. Dabei anerkennt er (1988a: 110), dass Durkheim seine Ausführungen zu Religion und Ritual auf Kontexte „mechanischer Solidarität“ ausgerichtet hat, hält es aber für möglich, analytisch abstrahierend daraus mikrosoziologische Mechanismen herauszuarbeiten, die in verschiedensten Formen von Gesellschaften Gültigkeit haben. Ziel ist es, die rituelle Strukturierung von Interaktionen zu verstehen, auf die menschliches Leben oder auch Rationalität zurückzuführen ist.

Im direkten begrifflichen Anschluss an Goffman arbeitet Collins mit einem sehr breiten Ritualverständnis: Sämtliche Interaktionen charakterisiert er als Interaktionsrituale.Footnote 11 Was darunter zu verstehen ist, zeigt sich am Besten in seinem Grundmodell von Interaktionsritualen.

3.1.3.2 Interaction Ritual Chains

Collins fasst sein Konzept von Interaktionsritualen, er spricht von Interaction Ritual Chains, in einem Schema zusammen, wobei sich die Hauptkomponenten zwischen Bedingungen und Folgen unterscheiden lassen (Abb. 3.1).

Abb. 3.1
figure 1

(Aus: Collins 2004: 49)

Collins Modell des Interaktionsrituals.

Bedingungen

Körperliche Kopräsenz

Situationen körperlicher Kopräsenz und fokussierter Interaktion stellen den Ausgangspunkt für Interaktionsrituale dar. Mit Wuthnow (1987: 102) könnte eingewendet werden, dass mittels Massenmedien Rituale auch ohne Kopräsenz stattfinden können.Footnote 12 Collins schliesst zwar entsprechende „translokale“, also auf der Übertragung durch elektronische Medien basierende Interaktion nicht aus, zeigt sich jedoch hinsichtlich ihrer Intensität im Vergleich zu Situationen körperlicher Anwesenheit skeptisch. In seinem breiten Ritualverständnis stellt deswegen die körperliche Anwesenheit der Teilnehmenden das einzige scharf differenzierende Kriterium zur Unterscheidung von ritueller und nicht-ritueller Interaktion dar.

Rhythmus

Auf verschiedene mikrosoziologische und psychologische Studien verweisend, schreibt Collins (2004: 67) dem Aspekt des Rhythmus von Interaktion eine zentrale Rolle zu. Beispielsweise sind Gespräche, die in dem Sinn erfolgreich sind, dass sie Solidarität zwischen den Teilnehmern erzeugen, durch nur kurze Pausen zwischen den Beiträgen der Gesprächspartner und dem Ausbleiben von Überschneidungen dieser Beiträge gekennzeichnet (vgl. Collins 2004: 69).Footnote 13 Ein solcher Rhythmus auf der Mikroebene, der in Gesprächen wie auch unter den Mitgliedern grosser kollektiv agierender Gruppen feststellbar ist, erlaubt den Beteiligten die Antizipation der gegenseitigen Handlungen und das entsprechende Ausrichten der eigenen Beiträge im antizipierten Verlauf, das dessen lückenlose Fortsetzung ermöglicht. Dabei funktionieren diese Prozesse auf einer den Beteiligten nicht bewussten Ebene – die Taktung, die den Rhythmus auszeichnet, basiert auf derart kurzen Zeitabständen, dass diese bewusst gar nicht wahrgenommen werden können, sondern sich oft erst in verlangsamter Wiedergabe von Ton- und Filmaufnahmen zeigen (vgl. Collins 2004: 77). Die involvierten Reaktionszeiten liegen zudem so tief, dass nur unbewusste Antizipation der Fortsetzung des Rhythmus die Interaktion in der beobachteten Geschwindigkeit ermöglichen kann. Der unbewusste Rhythmus ist also gerade deshalb wichtig, da Koordination nicht über bewusste Antizipation erfolgen kann.

Focus of attention

Der Rhythmus ergibt sich aus an einem gemeinsamen Fokus koordiniertem Verhalten. Bereits Goffman sah den geteilten Fokus als Bedingung für ein „encounter“. Das Teilen eines Fokus der Aufmerksamkeit könne die Einheit fördern, während die Ordnung von Interaktionen gefährdet sei, wenn „the official focus of uneasiness is threatened by distractions of various kinds; this state of uneasiness is managed by tactful acts, such as the open expression in a usable way of what is distracting attention“ (Goffman 1961: 12).

Sinnvoll dürfte Kendons (1988: 27) ebenfalls im Anschluss an Goffman formulierte Unterscheidung zwischen „common focused“ und „jointly focused“ Interaktion sein: Bei ersterer erfolgt lediglich eine einseitige Ausrichtung der Aufmerksamkeit (so z. B. bei Fernsehsendungen), während bei Letzteren der Fokus durch aufeinander bezogenes Handeln fortlaufend bestätigt und aufrecht erhalten wird. Weiter muss der Fokus in Interaktion umgesetzt werden, der blosse gemeinsame Fokus reicht nicht für ein „focused gathering“ im Sinne Goffmans oder Collins aus, wie Kendon (1988: 26) am Beispiel von Warteschlangen ausführt. Für ein „jointly focused gathering“ müssen die Beteiligten nicht nur wie beim Warten bloss parallel dasselbe, sondern in ihrem Verhalten auf die Fokussierung der anderen Bezug nehmen, wie beispielsweise bei einem Gespräch.

Die Notwendigkeit des geteilten Fokus zeigt die Möglichkeit, körperlich anwesend, aber nicht an einer Interaktion beteiligt zu sein: Goffman (1963: 39) spricht von „involvement shields“, das heisst Vorrichtungen, die es Individuen erlauben, nicht an der Situation teilzunehmen. Ein solcher Schild hilft doppelt: Einerseits wird der Druck auf das Individuum verringert, andererseits wird die Gefährdung für die Eindeutigkeit des geteilten Fokus verringert. Es gibt auch Kopräsenz ohne encounter: „persons present to each other need not be engaged in any encounter, constituting, therefore, an ‘unfocused gathering’“ (Goffman 1961: 18). Das heisst, ein Mindestfokus ist notwendig, damit Aufmerksamkeit möglich wird, die die Anwesenheit überhaupt erst konstituiert.Footnote 14

Emotionen

Zwischen Bedingungen und Folgen liegt die „kollektive Efferveszenz“: Im Anschluss an Durkheim identifiziert Collins (2004: 105) Emotionen als den „x-factor“, der der sozialen Ordnung zugrunde liege. Entsprechend gilt es, diesem Faktor auch hier besondere Aufmerksamkeit zu widmen und Collins’ Herangehensweise zu kontextualisieren und, wo nötig, zu ergänzen.

Der emotionale Höhepunkt eines Rituals, so geht Collins mit Durkheim einig, ist gleichbedeutend mit einem hohen Mass an kollektiver Efferveszenz. Gekennzeichnet ist er wie folgt:

„This peak level of entrainment is a measure of collective effervescence. At peak moments the pattern tends to be jointly shared among all participants: in high solidarity moments, bodies touch, eyes are aligned in the same direction, movements are rhythmically synchronized.“ (Collins 2004: 135)

Dieses Aufschaukeln funktioniert für verschiedene Emotionen, so z. B. bei einem Fussballspiel, einer Bestattung, aber auch einem Streit: „In this way emotions have a recursive quality, continually acting back on themselves, and if the feedback loop is not interrupted, the actor can become caught in what Scheff (...) calls a ‘feeling trap’, where emotions ‘spiral’ on for long periods of time“, so Hallett (2003: 709) im Anschluss an Thomas Scheff und Randall Collins.

Collins anerkennt zwar, dass es verschiedene Arten von Emotionen gibt, ist aber an der Differenzierung von verschiedenen Typen von Emotionen wenig interessiert (vgl. Greve 2013: 66). In erster Linie interessiert er sich für das eindimensionale Mehr oder Weniger umfassender emotionaler Stimmungslagen wie Fröhlichkeit oder Traurigkeit. Als Argument dafür führt Collins (2004: 107) deren Unspezifität und Allgemeinheit an – als Bestätigung dafür verweist er darauf, dass diese Emotionen sich, anders als spezifischere Emotionen, auch nicht einer Hirnregion zuweisen lassen. Grundsätzlich, so die Theorie Collins’ (2004: 108), sei es einerlei, ob nun Trauer oder Enthusiasmus geteilt wird, für alle Emotionen funktioniere es ähnlich: Die Beteiligten werden trauriger im Verlauf einer Bestattung, belustigter im Verlauf einer komödiantischen Darbietung. Mit dieser prinzipiellen Gleichbehandlung von Trauer und Freude befindet sich Collins in einer Linie mit Durkheim. Dies lässt sich durchaus kritisieren. Mit Carlton-Ford (1993: 43)Footnote 15 kann z. B. darauf hingewiesen werden, dass verschiedene Ritualformen zu unterschiedlich intensiver kollektiver Efferveszenz und verschiedenen Formen von Emotionen führen. Das heisst, Durkheim hat sich mit einer ganz bestimmten Art von Ritual beschäftigt, worauf noch zurückzukommen sein wird (siehe Abschn. 3.2.4.2).

Durch die Betonung von Emotionen als Faktor von Interaktionen unterscheidet Collins sich von anderen soziologischen Ansätzen zum Thema. Weder bei Goffman noch in ethnomethodologischen Ansätzen wird Emotionen ein derart zentraler Stellenwert zugewiesen: Auch Letztere sehen zwar nicht rationale Übereinkunft im Zentrum, betonen aber in der Folge von Garfinkel und Schütz kognitive Praxis als entscheidenden formativen Faktor in der Herstellung von Realität.Footnote 16 Emotionale Reaktionen, beispielsweise der Zorn bei Verstössen gegen die jeweils produzierte soziale Ordnung, werden zwar thematisiert, dennoch ist in entsprechenden Ansätzen die Berücksichtigung von Emotionen für Collins mangelhaft, was ihn zur Forderung führt: „(...) let us take the plunge: leave the cognitive plane, and recognize the x-factor as emotion.“ (Collins 2004: 105).

Collins ist aber gleichzeitig Teil einer breiteren Bewegung, die in der Soziologie den Emotionen einen höheren Stellenwert einräumt (vgl. für eine Übersicht: Schnabel 2012), wobei Barbalet (1998) Collins’ Buch „Conflict Sociology“ (1975) gar den Verdienst zuweist, Emotion überhaupt erst wieder in den Fokus soziologischer Aufmerksamkeit gerückt zu haben. Da Collins aber in seiner Theorie der Interaktionsrituale keine griffige Definition von Emotion leistet, soll stellvertretend mit Barbalet (1998: 80) Emotion als eine Form von Erfahrung (experience) gesehen werden, die „a continuous flow of evaluative responses to situations“ darstellt, also untrennbar mit einer Beurteilung verbunden wird. Diese Beurteilung basiert gerade nicht auf der expliziten Zuweisung von Werten im Sinne von Konzeptionen, sondern besteht typischerweise gerade in einer nicht auf Konzepten basierenden und nicht verbalisierten Affizierung durch die Situation und die Involvierung in sie und muss auch nicht notwendigerweise bewusst sein. Dieser „flow of evaluative responses“ kann in verschiedene Komponenten unterteilt werden – entsprechende Unterteilungen, sind, wie Thoits (1989: 318) in ihrem Annual Review zur „sociology of emotions“ zeigt, zentral für soziologische Emotionsverständnisse.Footnote 17 Mit Steven L. Gordon (1990: 151–152) kann zwischen vier Komponenten unterschieden werden, aus denen Emotionen bestehen: 1) Körperliche Empfindungen, 2) damit verbundener Ausdruck und Gestik, 3) soziale Situationen und Beziehungen, die Ausgangspunkt und Gegenstand von Emotionen sind, 4) eine Kultur der Emotionen, die deren Identifikation, Benennung und Diskussion ermöglicht.

Auch Thoits (1989: 318) sieht Emotionen als Schnittpunkt von Situation, körperlichem Zustand, Ausdruck und – wenn auch gemäss Thoits nicht unbedingt notwendigen – kulturellen Deutungsmustern. Als Phänomen mit mehreren Ebenen stellt Emotion kein System dar, das sich aus einer eigenen Art von Operation zusammensetzt. Vielmehr handelt es sich um ein Feld, in dem Deutungen, soziale Beziehungen, Bewusstsein und körperliche Vorgänge zusammenkommen und sich aufeinander beziehen können. Dieses Feld kann von Forschern aus verschiedenen Disziplinen mit ihren spezifischen Fragestellungen, Methoden und Kategorien untersucht werden (vgl. Schnabel 2012: 10). Dabei fokussieren sie auf unterschiedliche Ebenen: Ein Neuropsychologe dürfte beispielsweise nach synaptischen Aktivitäten bei der Empfindung von Freude fragen, während ein Sozialhistoriker eher an Angelegenheiten wie der Veränderung des Konzepts der Liebe unter Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung interessiert sein dürfte (vgl. auch Lüddeckens 2006: 546).

Im vorliegenden Text wird, durchaus vereinbar mit Collins, Emotion als „a social thing“ betrachtet, „not only formed in, but [...] conceptualized as, a social relationship.“ (Barbalet 1998: 120). Ursachen wie Konsequenzen von Emotionen werden als Teil sozialer Interaktion begriffen. Damit wird durchaus Durkheim gefolgt, so Rawls über den bei diesem vorzufindenden Bezug von Emotion, Gesellschaft und Person:

„The ‘emotions’ have their source, for Durkheim, in social forces, as does the ‘person’ (the social aspect of the individual being). This turns on its head the philosophical notion that the individual and their emotions come first, and social cooperation follows.“ (Rawls 2001: 53)

Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Emotionen individuell realisiert werden – wie Schnabel (2012: 11) feststellt, kommen Emotionen schwerlich ohne Akteursbezug aus – ; die hier interessierenden Phänomene werden jedoch nicht über Unterschiede in psychischen Dispositionen erklärt, sondern über die Erzeugung und den Vollzug sozialer, im vorliegenden Interesse noch spezifischer: ritueller Situationen (vgl. ähnlich: Thoits 1989: 319).

Mit einer solchen Perspektive, in der man eine Soziologie der Emotionen als Versuch auffasst, die Varianz von Emotionen durch soziale Interaktionen zu erklären, scheint es wenig sinnvoll, Collins die Unterschätzung und Vernachlässigung von biologischen oder individuell-psychischen Faktoren vorzuwerfen (vgl. Rössel 2006: 234; Greve 2012: 195). Dass dabei unerklärte Varianz zurückbleibt, die möglicherweise durch biologische Faktoren wegzuerklären ist, ist zu erwarten, negiert aber die sozialen Faktoren nicht.

Folgen

Nicht jegliche Interaktion zeitigt Folgen über den rituellen Moment hinaus (vgl. Collins 1988b: 245). Für die Fälle, in denen das doch geschieht, identifiziert Collins vier verschiedene Ebenen der Beeinflussung übersituationaler Strukturen:

Emotionale Energie

Im rituellen Moment werden Emotionen erzeugt und erlebt, diese sind an den Vollzug des Rituals gebunden und damit von vorübergehender Natur. Mit (dem etwas eigentümlich anmutenden Begriff)Footnote 18 der „emotionalen Energie“ (EE) fasst Collins dagegen „Langzeitemotionen“, die ausgehend von den vorübergehenden Emotionen des Rituals die Situation überdauern (vgl. Collins 2004: 108).Footnote 19 EE besteht darin, sich in seinem Tun und Denken dauerhaft bestätigt und bestärkt zu fühlen. Personen mit EE haben das Gefühl, das Richtige zu tun, am richtigen Ort zu sein. Wie in einem Fallbeispiel weiter unten noch verdeutlicht werden wird, könnte EE als „confidence“ bezeichnet werden, was mit „Zutrauen“ übersetzt werden könnte, einer Art Vertrauen in die eigene Position in der Welt.Footnote 20 Für Collins handelt es sich dabei, hier zeigt sich der starke Durkheimianische Einfluss auf das Konzept, immer auch um ein „moral sentiment“, da diese Bestätigung mit Vorstellungen von richtig und falsch verbunden ist.

Symbole

Eine zentrale Rolle im Transfer von Emotionen über die Situation hinaus spielen Symbole:

„Emotional energy, (...), is carried across situations by symbols that have been charged up by emotional situations.“ (Collins 2004: 107)

Symbole sind gewissermassen als „Batterien“ (vgl. Collins 1988a: 111) zu verstehen, die in Ritualen mit Emotional Energy aufgeladen werden und diese über den Moment hinaus bewahren können. „Emotionally-charged symbols motivate individuals when they are away from ritual encounters.“ (Collins 1990: 34). Diese Symbole finden sich im Fokus der geteilten Aufmerksamkeit des Interaktionsrituals und stehen damit im Zentrum der Emotionen der rituellen Situation, mit denen sie aufgeladen werden.

Collins identifiziert zwei Wege, mit denen Symbole über die rituelle Interaktion hinaus zirkulieren: Erstens als separate materielle Objekte, auf die sich der Fokus der Aufmerksamkeit von „emotionally entrained but otherwise anonymous crowds“ (Collins 2004: 87) richtet. Zweitens als Symbole, die mit Bezug auf persönliche Identitäten und Narrative als Gesprächsthema konstituiert und zu Symbolen wurden, wozu beispielsweise Werte, Überzeugungen und Identitäten gezählt werden können. Diese „Batterien“, so in Übereinstimmung mit Durkheim (1994: 456, 482), verlieren ihre Energie jedoch im Verlauf der Zeit und müssen erneut rituell aufgeladen werden.

Dieses Verständnis von Symbol findet seine Entsprechung auch bei Goffman. Dinge, die als heilig gelten, wie z. B. Flaggen, werden gemäss Goffmans nicht nur während ihres jeweiligen entsprechenden Gebrauchs, z. B. in Ritualen, als heilig behandelt. Auch wenn sie stärker in einem „matter-of-fact way“ ausserhalb der Zeremonie behandelt werden, findet sich doch eine gewisse Bewahrung der Ehrerbietung darüber hinaus. Physische Dinge würden mit Kontinuität verbunden:

„(...) it is our cultural beliefs about resource continuity which give to these relics some sentimental value, give them their personality.“ (Goffman 1974: 300)

Moralische Standards

Die emotional besetzten Symbole können Träger von Solidarität und Werten, also „Konzeptionen des Wünschenswerten“Footnote 21 sein. Collins spricht in diesem Zusammenhang auch von Heiligkeit (sacredness): „Conventional social reality is a sacred object“ (Collins 2004: 104), schliesst er im Anschluss an Durkheim und Garfinkel. Diese Heiligkeit kann, wie die soziale Ordnung bei Garfinkel, unexpliziert, unbewusst mitgeführt werden. Dabei wird sie, wie die Experimente Garfinkels (z. B. 1967: 44–49) zeigen, in denen gezielt Inkongruenzen mit gegebenen Erwartungen der Interaktionspartner herbeigeführt werden, oft überhaupt erst durch Verstösse und Irritationen für die Akteure bemerkbar. „Heiligkeit“ kann sich in so einem Verständnis im Kontinuum der Bewusstheit zwischen nur praktisch realisierten Regeln bis hin zu den eben diskutierten explizierten Symbolen bewegen.

Solidarität

Die Emotionen basieren auf einem sozialen Erlebnis: Die erzeugte Realität wird als Produkt der Gruppe gesehen und dieses Kollektiv wird mit den Emotionen in Verbindung gebracht. In Durkheims Worten wird die Gruppe damit zu einem „heiligen Objekt“ (Collins 2004: 104).

Mit Collins (2004: 42) lässt sich sein Modell selbst wie folgt zusammenfassen:

„The central mechanism of interaction ritual theory is that occasions that combine a high degree of mutual focus of attention, that is, a high degree of intersubjectivity, together with a high degree of emotional entrainment – through bodily synchronization, mutual stimulation/arousal of participant’s nervous systems – result in feelings of membership that are attached to cognitive symbols; and result also in the emotional energy of individual participants, giving them feelings of confidence, enthusiasm, and desire for action in what they consider a morally proper path.“

3.1.3.3 Anfragen an Collins

Collins bietet ein klar definiertes Konzept, das er selbst in die Form eines relativ einfachen Schemas bringt, das sich unmittelbar auf empirisch vorfindbare Interaktionsrituale anwenden lässt. Kritiker von ausserhalb der Mikrosoziologie bemängeln an Collins insbesondere, dass er Interaktionen ausschliesslich aus der Situation heraus erklärt und kein begriffliches Instrumentarium zur Berücksichtigung des Kontexts – so z. B. Ritzer (1985: 92), der darauf hinweist, dass Collins stillschweigend Annahmen über den Kontext in seine Erklärungen einbaut. Auch Autoren aus dem ethnomethodologischen Umfeld wie Cicourel (1987) verweisen auf die Unmöglichkeit, eine Interaktionssituation ohne eine Vorstellung des Kontexts wissenschaftlich zu verstehen.

Wichtigstes Moment des Bezuges von Interaktion zum Kontext sind in Collins’ Theorie Symbole, deren Rolle er jedoch wenig diskutiert. Für einen Interaktionisten wie Norman Denzin bleibt Collins’ Verständnis der „symbolischen Dimension“ zu eindimensional: Dieser gehe von einem behavioristischen, mechanistischen Menschenbild aus, eine Theorie „of the human subject, of interaction, or of the semiotic complexity of language, signs, meaning, and intentionality“ (Denzin 1987: 178) fehle. Denzins Kritik ist in dieser Hinsicht durchaus zuzustimmenFootnote 22: Einerseits thematisiert Collins Bedeutungen eher als Produkt und nicht als Ausgangspunkt oder Faktor von Interaktionen und andererseits erlaubt es ihm diese Einschränkung des Blicks auf die jeweilige Produktion nicht, differenzierte symbolische Verhältnisse zu thematisieren. Symbole werden über eine einzige Variable (ein Mehr oder Weniger von Emotional Energy) thematisiert. Ebenso stellt sich die Frage, ob über die einfache Paarung von Symbolen und Emotionaler Energie die rituellen Folgen auf ihren Kontext in ausreichender Weise thematisiert werden (vgl. zu einer ähnlichen Kritik: Greve 2012: 196). Ein Beispiel für eine empirieorientierte Kritik an diesen beiden Aspekten, der Nichtbeachtung des Kontexts und das Unterschätzen der „symbolischen Dimension“, liefert der Soziologe Michael Schwalbe (2007). Er kritisiert, dass Collins die Popularität des Zigarettenrauchens nur auf den emotionalen Ertrag der dabei stattfindenden Interaktionsrituale reduziere. Dabei ignoriere er, dass Tabakfirmen beispielsweise über Werbekampagnen ihre jugendliche Zielgruppe mit bestimmten Deutungsmustern, z. B. „pictures of sexy, vigorous, healthy, cool people smoking“ (Schwalbe 2007: 214), ansprechen würden und damit die Popularität des Zigarettenrauchens jenseits der Interaktionsrituale beeinflussten.

Die Kritik an einer mangelnden Einbettung von Interaktionsritualen überrascht wenig und dürfte dem spezifischen Fokus von Collins geschuldet sein. Dieser dürfte zwar kaum bestreiten, dass seine Interaktionsrituale in einen Kontext eingebettet sind, tatsächlich bietet er mit seinem eigenen Theorievorschlag jedoch nur begrenzt Handhabe dafür, diese Einbettung zu thematisieren (vgl. Greve 2013: 66–67).Footnote 23

Eine ähnlich gelagerte Kritik an Collins verweist auf das Ignorieren des historischen Kontexts. Tatsächlich kann bei mikrosoziologischen Ansätzen, wie dem Symbolischen Interaktionismus oder der Rational Choice Theorie, von einer gewissen Aversion gegenüber historischen Herangehensweisen gesprochen werden, da strukturelle Generalisierungen und nicht die Erfassung historischer Einzelfälle im Kern solcher Theorien stecken (vgl. Diehl und McFarland 2010: 1714; als Beispiel Collins 1988b: 247). Zudem scheint auf den ersten Blick die Empirienähe und die Vermeidung von Kollektivbegriffen einer Mikrosoziologie methodologisch unproblematischer als die eher makrosoziologische Rede von Gesellschaft oder Kultur. Doch die Mikroebene, so Diehl et al. (2010), ist nicht durch historisch invariante Beziehungen bestimmt, und durch die Konzentration auf empirisch wahrnehmbare Einheiten wie Bewegungen oder Lautäusserungen entledigt man sich weder der Problematik des Kontexts der wissenschaftlichen Beobachtung noch des Kontexts des Beobachteten. Es gibt somit keinen Grund zu glauben, ein Makrokonzept wie dasjenige Durkheims, der z. B. zwischen mechanischer und organischer Solidarität unterscheidet, sei in irgendeiner Art und Weise grundsätzlich heikler als scheinbare Mikro- oder Mesokonzepte wie z. B. die Theorie der Interaktionsrituale von Collins oder das Konzept der Gabe von Mauss (vgl. zur Problematik von Letzterem: Carrier 1992). Auch Begriffe wie „Interaktion“ oder „Handlung“ sind vom Forscher bestimmte Einheiten, hinter denen genauso umfassende Konzepte der Welt stehen wie hinter „Gesellschaft“ oder „Kultur“. Essenzialistische Grundlagen sind in verschiedensten soziologischen Ansätzen zu finden und dies unabhängig davon, auf welcher Ebene sie ansetzen. Um einem solchen Essenzialismus, der eine unproblematische Positivität der sozialen Welt am Ort ihrer Erzeugung im beobachtbaren Mikroereignis sieht, vorzubeugen, gilt es, tragfähigere Begriffe zur Berücksichtigung des Kontexts herauszuarbeiten, als Collins sie anbietet. Gerade der Rückgriff auf Konzepte von Praxis dürfte eine Ausgangslage dafür bieten.

3.2 Interaktion und Kontext

Die eben angetönte Kritik an Collins, dass dieser den Kontext vernachlässige, kann mit einem praxistheoretischen Ansatz aufgegriffen werden. Praxistheorien thematisieren Handlung, Interaktion oder Kommunikation immer als stark strukturiert und nicht als reine Produkte der Situation, weshalb sie der jeweiligen Beziehung zum Kontext grosse Aufmerksamkeit schenken. Als erstes gilt es, den hier vertretenen entsprechenden Ansatz mit einer sich auf Collins, Goffman und Durkheim beziehenden Soziologie der Interaktion in Bezug zu setzen, um dann darauf aufbauend den Kontext über Begriffe wie Bedeutung, Rationalität, Symbol und Affekt und schliesslich Körper konzeptionell einzubauen.

3.2.1 Interaktion und Praxis

Die Vereinbarkeit eines Ansatzes wie desjenigen von Collins mit dem hier vertretenen praxistheoretischen Verständnis von Ritualen scheint auf den ersten Blick höchst fraglich – es lassen sich aber einige Parallelen ausmachen, die es durchaus erlauben, die zwei Ansätze gerade mit ihren Komplementaritäten zueinander in Beziehung zu bringen.

Pierre Bourdieu, der von den hier rezipierten Praxistheoretikern wohl am skeptischsten bezüglich mikrosoziologischer Ansätze ist, äussert sich im Entwurf zu seiner „Theorie der Praxis“ (vgl. Bourdieu 2009) und im „Sozialen Sinn“ (vgl. Bourdieu 1993) gegenüber interaktionistischen Ansätzen höchst kritisch.Footnote 24 Seine Kritik richtet sich darauf, dass der „Interaktionismus“ eine „kleinbürgerliche Sicht gesellschaftlicher Beziehungen als etwas, was man macht und was man sich macht“ darstellt, die „(...) das Handlungssubjekt und dessen Repräsentationen zum letzten Prinzip all der Strategien erhebt, die die soziale Welt hervorzubringen und zu verändern in der Lage sind“ (Bourdieu 2009: 150). Dieser Vorwurf, der in erster Linie auf die Sozialphänomenologie Alfred Schütz’ gemünzt ist, trifft auf Collins insofern nicht zu, als es, wie in Goffmans Diktum, bei ihm nicht die Menschen sind, die ihre Situationen produzieren, sondern die Situationen, die ihre Menschen hervorbringen. „Subjektivismus“ kann Collins also nicht vorgeworfen werden.

Soziale Realität wird in der Praxistheorie wie auch in der Theorie der Interaktionsrituale als etwas gesehen, das nicht von Individuen erzeugt wird, sondern das strukturell überhaupt erst Individuum, Handlung und auch Bedeutungen hervorbringt. Allerdings unterscheiden sich die beiden Ansätze in der Frage, welche Strukturen als massgeblich in den Blick der Analyse zu nehmen sind. Die Art und Weise, wie die Theorie der Interaktionsrituale Strukturen der Interaktionen als entscheidenden Ort für die Erzeugung des Sozialen identifiziert, entspricht Pierre Bourdieus Position nicht:

„Interactions, which bring immediate gratification to those with empiricist dispositions – they can be observed, recorded, filmed, in sum, they are tangible, one can ‘reach out and touch them’ – mask the structures that are realized in them.“ (Bourdieu 1989: 16)

Von der in diesem Sinne erfolgenden Kritik Bourdieus (2009: 150), dass der Interaktionismus das ausschliesse, was die Interaktionen den Strukturen schuldeten, ist Collins nicht leicht loszusagen. Während Bourdieu (2009: 150) kritisiert, dass eine Konzentration auf unmittelbare, in der Interaktion stattfindende „Antizipation oder Erfahrung“ von Handlungssubjekten im Fokus stehe und über die Situation hinaus gehende Strukturen nicht berücksichtigt würden, liegt in der Theorie der Interaktionsrituale der exklusive Fokus auf der situativen Erzeugung von Erfahrung und Emotion. Ihre Strukturierung durch Strukturen, die nicht die universalen, geschichtslosen Strukturen des Interaktionsrituals sind, wird dabei kaum in den Blick genommen.

Andere Praxistheoretiker dürften diese Kritik am Interaktionismus teilen: Der Schwerpunkt von Praxistheorien liegt eher bei situationsübergreifenden Strukturen, die das Handeln strukturieren, so z. B. bei Giddens auf dem „stretching of social relations across time and space“ (Giddens 1986: 35) und nicht wie bei der Thematisierung von Interaktionsritualen auf Strukturen von Situationen. Auch ein philosophisch ausgerichteter Praxistheoretiker wie Theodore Schatzki leitet mit Verweis auf Wittgenstein die Identität von Handlungen aus ihrer Einbettung in die übergreifende Organisation der Praxis ab. Wie Bourdieu und Giddens gibt er den Praktiken „ontologische Priorität“ vor den situativ zu beobachtenden Handlungen. Handlungen würden im Rahmen einer Praxis hervorgebracht (vgl. Schatzki 1997: 304) und drückten als Teil einer grösseren Praxis aufeinander verweisende und verwobene Verständnisse, Regeln und Lebensbedingungen aus (vgl. Schatzki 1997: 304). Oder wie Bloor (2001: 103) festhält: Der Gebrauch im Sinne Wittgensteins, der als Kriterium für das Befolgen einer Regel wirksam ist, stellt gerade keine situative Festlegung dar, wobei sich für dieses „Gebrauch-im-Kontext“ bei Wittgenstein beispielsweise der Begriff des Sprachspiels, aber auch derjenige der Institution findet (siehe Abschn. 2.2.2.3).

Eine praxistheoretische Ritualtheorie kann deshalb eine Theorie der Interaktionsrituale, wie sie Collins vorschlägt, nicht ohne Modifikationen übernehmen. Insbesondere die Beeinflussung der Struktur der Interaktion durch situationsübergreifende Strukturen ist praxistheoretisch von grossem Interesse, wird aber in der Theorie der Interaktionsrituale weitgehend vernachlässigt. Gerade die Gegensätzlichkeit der zwei Ansätze, die immerhin mit der gemeinsamen Absage an das bewusst entscheidende Individuum als Ausgangspunkt von Handlungen einhergeht, bietet aber die Möglichkeit, den Blick auf die Praxis der Interaktion zu schärfen. Obwohl Bourdieu (1993: 76) sich explizit gegen die „Hervorbringung ohne Hervorbringer“ ausspricht, ist er selbst mit dem Vorwurf des Objektivismus konfrontiert. Ein von Collins inspirierter Blick auf die „Positivität“ der Interaktionen, könnte dabei behilflich sein, die manchmal etwas geheimnisvoll anmutende Realisierung von Strukturen in Bourdieus Praxistheorie zu lüften. Somit gilt es den Fokus auf die Situation der Mikrosoziologie mit demjenigen auf situationsübergreifende Verhältnisse einer praxistheoretischen Position zu kombinieren. Welche Faktoren einer Wechselwirkung sollen dazu diskutiert werden?

Dazu gilt es eine Auswahl zu treffen. Die Betonung von Praxistheorien liegen insbesondere im Anschluss an Bourdieu stark auf dem Begriff der Struktur: Interaktion wird als durch Machtverhältnisse oder den unterschiedlichen Zugang zu materiellen Gütern und Wissen beeinflusst gesehen. Mit dem eher „strukturnahen“ Ansatz Collins ist dies relativ einfach zu kombinieren und findet sich, so im Fall von Stratifikation, auch von Collins (z. B. 1990) selbst diskutiert.Footnote 25 Das Augenmerk soll hier auf drei Faktoren liegen, die ritualtheoretisch besonders problematischer sind: 1) Körper: Dieser spielt sowohl für Bourdieu als auch für Collins eine wichtige Rolle, dies jedoch in höchst unterschiedlicher Art und Weise. 2) Bedeutung: Bourdieu wie Collins kann eine mangelhafte Betonung der Sinnhaftigkeit bzw. der Bedeutungen von Ritualen bzw. von Praxis unterstellt werden. Auf der anderen Seite steht das im Abschn. 2.6.5 kritisierte Konzept von Symbolsystemen. Gerade die Dimension der Sinnhaftigkeit ist aber zentral für die Einbettung einer Situation in ihrem Kontext und muss deshalb geklärt werden. 3) Affektivität: Emotion verstanden als Affektivität scheint vor allem eine Komponente der Situation zu sein. Praxistheoretisch ist sie von dieser Verbindung mit situativer Unmittelbarkeit zu lösen, was insbesondere über ihre Verknüpfung mit der Sinnhaftigkeit geschehen soll.

3.2.2 Körper

Wie bereits ausgeführt, stellen sowohl Praxistheorie als auch die Theorie der Interaktionsrituale Gegenentwürfe zu einem Verständnis von sozialer Realität als Resultat der bewussten, über die involvierten Bedeutungen informierten Entscheidungen von Individuen dar. In beiden Ansätzen wird dabei die Wichtigkeit des Körpers anerkannt. In der Theorie der Interaktionsrituale wird dem Körper eine höchst grundlegende Rolle zugesprochen: „Wherever an individual is or goes he must bring his body along with“, schloss bereits Goffman (1977: 327), und entsprechend findet sich bei Collins die Betonung der Notwendigkeit körperlicher Kopräsenz als Bedingung für Interaktionsrituale, ohne dass jedoch ein Konzept wie dasjenige der „Inkorporation“ besteht, über das die Rolle des Körpers über seine Rolle als Grundlage für Wahrnehmung und interaktiver Synchronisierung hinaus berücksichtigt würde. Ganz anders Bourdieu (2009: 164 ff.), der Praxis als Dialektik von Verkörperung und Objektivierung fasst. „Verkörperung“, im französischen Original „incorporation“ (Bourdieu 1972: 189), ist nicht nur eine Metapher:

„Der praktische Glaube ist kein ‘Gemütszustand’ und noch weniger eine willentliche Anerkennung eines Korpus von Dogmen und gestifteten Lehren (‘Überzeugungen’), sondern, wenn die Formulierung gestattet ist, ein Zustand des Leibes.“ (Bourdieu 1993: 126; Hervorhebungen im Original)

Der praktische Sinn ist eine Natur gewordene, durch motorische Schemata und automatische Körperreaktionen bestehende gesellschaftliche Notwendigkeit (vgl. Bourdieu 1993: 127). Praktische Reproduktion erfolgt durch Verkörperung, in Form der Haltung und Kleidung, aber auch der Arrangierung von Körpern relativ zueinander und zum Raum, in dem sie platziert werden, so z. B. durch synchronisiertes Gehen, Einpferchung hinter einem Schreibtisch oder Niederknien in Kirchenbänken. Durch diese Verkörperung der Strukturen der Welt werden Körper selbst zum Faktor in der Strukturierung der sozialen Welt (vgl. Bourdieu 2009: 190). Der Körper ist damit nicht nur in seiner Präsenz als für die Interaktion relevant zu analysieren, sondern auch als Vehikel zu sehen, über das situationsübergreifende Strukturen in der Interaktion präsent werden.

Zur Illustration verweist Bourdieu (1993: 128–130) auf Geschlechterunterschiede, die in den verschiedenen Arten und Weisen verkörpert sind, in denen Männer und Frauen stehen, sitzen und essen. Diese Reproduktion bedingt nicht, dass die Individuen sich dieser Unterschiede bewusst sind oder ihnen sogar zustimmen, es reicht, wenn sie diese mit ihren Körpern mimetisch imitieren, was unterhalb der Wahrnehmungsschwelle geschehen kann. Entsprechende Ausführungen sind bei Bourdieu nahe an seinem Habitusverständnis angesiedelt (siehe dazu Abschn. 2.2.2.1): Der Körper ist in seiner Vorgeformtheit eine materielle Bedingung für die Interaktion, nicht bloss über seine körperliche Präsenz in der Situation, sondern auch über die körperlichen Dispositionen der Teilnehmer, durch die diese befähigt werden, ein körperliches Arrangement immer wieder zu reproduzieren.

Das Arrangement der Körper zeitigt wiederum Konsequenzen: Durch die Orchestrierung der Körper würden Gedanken geordnet, durch regelhafte Aufstellung und leibliche Ausdrucksformen der Gemütsbewegung wie Lachen oder Weinen werden Gefühle suggeriert (vgl. Bourdieu 2009: 127) – eine Aussage, die mit etwas anderer Wortwahl auch bei Durkheim oder Collins stehen könnte. Bourdieu betont, dass es sich bei dieser Verkörperung nicht um die Nachahmung eines Modells, um ausdrückliches Erinnern oder explizites Wissen handelt, sondern um eine praktische Reaktivierung:

„Der Leib glaubt, was er spielt: er weint, wenn er Traurigkeit mimt. Er stellt sich nicht vor, was er spielt, er ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus, die damit als solche aufgehoben wird, erlebt sie wieder.“ (Bourdieu 1993: 135; Hervorhebungen im Original)

Es geht beim einverleibten Glauben um Identität, nicht um Wiedergabe – hier zeigt sich wiederum das spezifisch praxistheoretische Verständnis davon, wie der Kontext über die Individuen und ihr Handeln in der Interaktion wirksam wird, ohne explizites Wissen oder Bewusstheit zu bedingen. Das Implizite kann jedoch explizit und vom Körper gelöst werden: Bourdieu (1993: 126) zitiert den Klassizisten E. A. Havelock, der wiederum mit Verweis auf Max Webers Ausführungen zur Rationalisierung der Musik von einer „Desinkarnation“ spricht.Footnote 26

Mit Moldenhauer (2010: 23) kann der Bezug von Körper und Praxis in drei Punkten zusammengefasst werden:

  1. 1.

    Der Körper ist ein agens, ein Medium, das Praxis durch Inkorporation realisiert – dies ist insofern eine Ergänzung zu Collins’ Körperverständnis, als dies über die dichotome Variable „Anwesenheit“ und die Skala der „Synchronisation“ hinausgeht.

  2. 2.

    Der Körper ist ein Medium der Übertragung von Praxis zu Praxis, ohne notwendigerweise auf Diskurs oder Bewusstsein Bezug zu nehmen. Dies erlaubt stärker als bei Collins die situationsübergreifende Konstitution von Interaktionsritualen zu begreifen, dabei aber insofern innerhalb der Leitplanken von Collins’ Theorie zu bleiben, als nicht explizite Tradierung und Bewusstheit beigezogen werden.

  3. 3.

    Daraus folgt, dass Körper Tradition und Gewohnheiten verkörpern und damit Teil und Faktor von Geschichte werden. Dieses Einbringen der historischen Dimension geht zum einen über Collins’ Interesse hinaus und zeigt zum anderen die Möglichkeit auf, Rituale nicht als blosse Mechanismen der Produktion von Symbolen und Solidaritäten zu verstehen, sondern sie auch als Indikatoren für übergreifende Angelegenheiten wie „Gemeinschaft“ oder „Tradition“ verwenden zu können.

Der Verdacht liegt nahe, dass ein entsprechendes Körperverständnis ein Modell der alternativlosen Reproduktion der bestehenden Verhältnisse nahelegt und die situationsübergreifenden Strukturen überbetont. Möglicherweise könnte gerade unter Bezug eines an Durkheim orientierten Emotionsverständnisses eine solche Einseitigkeit korrigiert werden – dies schlagen Philipp Mellor und Chris Schilling (2010) vor. Sie arbeiten, noch ganz im Einklang mit Bourdieu, allerdings unter Rückgriff auf Marcel Mauss, ebenfalls mit dem Begriff des Habitus, den sie als „a socially structured bodily disposition“ (Mellor und Shilling 2010: 30) verstehen. Diese körperliche Disposition integriere in ihrem Vollzug in der Interaktion die Menschen in Hierarchien und bestimme die Arten und Weisen ihres Wissens und ihrer Orientierung in der Welt. Davon ausgehend greifen sie, mit einer anderen Betonung als Collins, auf Durkheims Verständnis der Efferveszenz zurück. Hochgradige Erregung der Köper ist nicht bloss das Produkt von für das Soziale konstitutiven Interaktionen, sondern hat auch das Potenzial, die soziale Ordnung zu gefährden: Der Körper ist zwar das Medium für die Inkorporation sozialer Ordnung, gleichzeitig aber auch Ort für Exzess, wie z. B. dem „egoistischen“ Konsum von Halluzinogenen. Bei Letzterem ist die Efferveszenz nicht sozial bestimmt, sondern folgt den affektiven Präferenzen der Individuen und fügt damit die Individuen nicht in „overarching moral collectivities“ (Shilling und Mellor 2011: 31) ein:

„hyperexcitement seems to threaten the orders it reinforces, but is structured and steered respectively by customised bodily habits of reciprocity based upon collective memory that enforce reciprocity in the potlatch, and the myths and customised bodily practices common to the expenditure of the accursed share.“ (Shilling und Mellor 2011: 30).

Über die emotionale „Übererregung“, die in der Interaktion erzeugt werden kann, wird der Körper zum Träger asozialer Tendenz, gleichzeitig aber auch zum Ort emotionaler und sozial disziplinierter Verhaltensweisen. Das heisst, dass Interaktionen nicht ausschliesslich übergreifende soziale Strukturen reproduzieren müssen, sondern, dass Körper und Emotionen zwar das Vehikel dieser Reproduktion, aber auch ihr entgegengesetzter Tendenzen sein können. Gerade Vorgänge der Ritualisierung führen zu einer sozialen Standardisierung der Art und Weise der Erzeugung von und des Umgangs mit körperlicher Erregung, die sozial vorgeschrieben ist und über die diese potenziell asoziale Angelegenheit in Ordnung überführt wird.Footnote 27

3.2.3 Bedeutung

Sowohl in der Ritualtheorie als auch bei Praxistheorien ist die Frage der Sinnhaftigkeit des beschriebenen Handelns oder Verhaltens ein zentraler Diskussionspunkt. Insbesondere die Theorie der Interaktionsrituale kann wegen der ihr zugrunde liegenden theoretischen Entscheidung, vom Subjekt abzusehen und die Strukturiertheit von Interaktionen in nicht-symbolischen und nicht-bewussten, vorreflexiv affektiven Gefilden zu suchen, dahingehend befragt werden, inwiefern sie der Sinnhaftigkeit ihres Gegenstandes Rechnung trägt.

3.2.3.1 Positivismus

Auf den ersten Blick scheint Symbolen bei Collins ein hoher Stellenwert zuzukommen. Der entsprechenden Ebene schenkt Collins aber nur Aufmerksamkeit, um den situationsübergreifenden Stellenwert von Emotionen zu erfassen. Um die Frage, inwiefern Interaktionsrituale in einen symbolischen Kontext eingebettet sind bzw. wie sie als Interaktion bereits durch Bedeutungen strukturiert sind, kümmert sich Collins kaum.

Eine entsprechende Kritik an Collins findet in Parsons’ Diskussion von Durkheims Umgang mit „sozialen Fakten“ und insbesondere „Ritualen“ eine Vorläuferin. Ein Absehen von der sinnhaften Einbettung von Interaktionsritualen wäre im Sinne Parsons’ als „positivistisch“, das heisst als „raw empiricism“ zu verurteilen, der die Sinnhaftigkeit der sozialen Welt in der Analyse nicht berücksichtigt.Footnote 28 Im Rahmen seiner bereits im Abschn. 2.6.2.1 angesprochenen Auseinandersetzung mit dem Positivismus kritisiert Parsons, dass in entsprechenden Ansätzen der Werthaftigkeit der sozialen Welt ein bloss residualer Status zugeschrieben werde: Das Handeln des Einzelnen würde beispielsweise in utilitaristischen Ansätzen als nutzenorientiert thematisiert, ohne dass in analytischer Hinsicht der Situiertheit der Präferenzen in einem System von Werten, auf das sich die Handelnden beziehen, Rechnung getragen würde. Ein entsprechender sinnhafter Bezug des Handelns würde in einem solchen Modell ausschliesslich vom Wissenschaftler hergestellt:

„Then, from the point of view of the actor, scientifically verifiable knowledge of the situation in which he acts becomes the only significant orienting medium in the action system. It is that alone which makes of his action an intelligible order rather than a response to ‘meaningless’ forces impinging upon him.“ (Parsons 1949: 61)

Auch Evans-Pritchard (1965: 68) übte ähnliche Kritik und stellte bei Durkheim eine Vernachlässigung der Sinnhaftigkeit der sozialen Welt statt.: Für Durkheim erzeugten Rituale Efferveszenz, diese erzeugten Glaubensvorstellungen, welche wiederum zu Ritualen führten. Damit erkläre er einen sozialen Fakt über Massenpsychologie. Erhöhte Emotionalität führe, so Evans-Pritchard möglicherweise tatsächlich zu einer tieferen Bedeutung der Rituale für die Individuen, das könne jedoch nicht als kausale Erklärung von Ritualen als soziales Phänomen dienen.

Derselbe Vorwurf liesse sich mit Parsons gegenüber Collins formulieren: An Stelle der im Utilitarismus unterstellten universal gültigen Präferenzen als Faktor der Handlungsstrukturierung steht bei Collins die Annahme einer universalen menschlichen Tendenz, an Interaktionsritualen zu partizipieren, die emotional ansprechend sind. Da dies sogar unbewusst verläuft, das heisst, wie von Parsons im Zitat kritisiert, eine „meaningless force“ darstellt, sieht Collins dabei noch stärker von der Sinnhaftigkeit des Handelns ab als die von Parsons kritisierten Utilitaristen. Collins geht zwar nicht wie diese von einer in der Positivität des einzelnen Handlungsablaufs beobachtbaren Rationalität des Individuums, aber von messbaren Determinanten von Interaktionssituationen aus. Damit könnte er zum Ziel des Positivismusvorwurfes werden, wie ihn Parsons in der Structure an Durkheim formuliert. Allerdings bezieht Parsons diesen Vorwurf auf die mittlere Schaffensphase Durkheims, in der Interaktionen kaum eine Rolle spielen. In der wohlwollenden späten Auseinandersetzung von Parsons mit Durkheim findet sich dagegen eine Zurückweisung des Positivismusverdachtes hinsichtlich der Formes. Da sich Collins in seiner Theorie der Interaktionsrituale auf die Formes bezieht, könnte diese Diskussion auch dafür dienlich sein, die Theorie der Interaktionsrituale von ähnlichen Vorwürfen loszusprechen. So Parsons im Rückblick:

„We may suggest that for Durkheim this emotional excitement is both genuine in the psychological sense and socially ordered. In the latter context he emphasizes that the pattern of action and interaction is laid down in detail in the tradition of the tribe prescribing who should do what, in relation to whom, at what point in the time sequence. Thus, though the excitement is psychologically genuine, it is not a matter of spontaneous reaction to immediate stimuli. This meticulous ordering, of course, relates very much to the fact that the ritual actions are permeated with symbolic meanings, which refer in Durkheim’s emphases in particular to the structure and situation of the social system.“ (Parsons 1978b: 222)

Tatsächlich wehrt sich Durkheim gegen eine Massenpsychologie, die vom sinnhaften Kontext absieht. Es findet sich in seinen Ausführungen zu Ritualen zwar eine „kausale Theorie situationaler Aktivitäten“, diese stellt aber nur eine Komponente in seinem Bild von Interaktion dar und ist in der Analyse auf die ebenfalls ausführlich diskutierten Deutungen bezogen. Im Gegensatz zu der Massenpsychologie, wie sie von seinen Zeitgenossen wie Gustave Le Bon und Gabriel Tarde vertreten wurde, sieht Durkheim Rituale als eingebettet in und als konstitutiven Vorgang für symbolische Zusammenhänge (vgl. auch Lukes 1975a: 462–463). Diese Zusammenhänge werden nicht wie im von Parsons kritisierten Positivismus ohne die darin involvierten Bedeutungen analysiert – Durkheim erwähnt auch bei seinen Beschreibungen einzelner Ritualsequenzen (siehe die Referenzen in Abschn. 3.1.1) die darin involvierten Glaubensvorstellungen. Gleichzeitig stellen die Vorstellungen aber keine eigenständige Dimension mit Systemcharakter dar, wie es die Parsonsianische Rede vom „Symbolsystem“ impliziert, sondern sie sind, das zeigt bereits Durkheims Religionsdefinition, in einem „système solidaire“ mit den Praktiken vereint.

Parsons’ Kritik am Positivismus auf die Kritik an Collins beziehend, den Kontext zu vernachlässigen, gilt es somit den sinnhaften Kontext von Interaktionen, wie er beispielsweise mittels Symbolen besteht, zu berücksichtigen. Andererseits stellen, wie in Abschn. 2.6 diskutiert, die „Glaubensvorstellungen“ aber einen durchaus problematischen Ausgangspunkt für die Diskussion dar: Sie waren eine Grundlage für die Struktur/Kultur-Unterscheidung in der strukturfunktionalistschen Durkheiminterpretation und auch für die Vorstellung von Wertintegration, die gerade aus einer praxistheoretischen Perspektive zu kritisieren sind. Die Berücksichtigung der sinnhaften Dimension von Ritualen darf nicht in die entsprechenden Fehler zurückfallen. Gefragt ist also ein Konzept des Einbezugs von Bedeutung, das ohne ein Konzept eines separaten Symbolsystems und ohne Voluntarismus und Wertintegration seitens der Handelnden auskommt. Das heisst, es besteht Bedarf für ein gleichzeitig an Durkheim, Collins und die Praxistheorie anschliessbares Konzept der Rolle von Bedeutungen von und in Ritualen. Dafür soll ein zweites Mal auf Erving Goffman zurückgegriffen werden.

3.2.3.2 Frames

Mit Erving Goffman bietet die neben Durkheim zweite wichtige Referenz von Collins in der soziologischen Tradition Konzepte, mit denen sich der Kontext in die Analyse von Ritualen einbeziehen lässt. Goffman sah Interaktionsrituale in konstitutiver Weise von externen Faktoren strukturiert, wobei er nicht nach universalen Strukturen, sondern nach spezifischen Wirkungen suchte.

„Ritual concerns“, schreibt Goffman (1981a: 17) variierten grundsätzlich zwischen verschiedenen Gesellschaften und könnten nicht „pancultural“ verstanden werden, sondern seien offensichtlich von ihrer „cultural definition“ abhängig. Die zentrale Begrifflichkeit, die Goffman für die Fassung dieser Beziehung zwischen Kontext und Situation vorschlug, ist diejenige der frames:Footnote 29

„I assume that definitions of a situation are built up in accordance with principles of organization which govern events – at least social ones – and our subjective involvement in them; frame is the word I use to refer to such of these basic elements as I am able to identify. That is my definition of frame. My phrase ‘frame analysis’ is a slogan to refer to the examination in these terms of the organization of experience.“ (Goffman 1974: 10–11)

Wie bereits in Abschn. 3.1.2 kurz ausgeführt, stellt die Interpretation und Verortung von Goffmans Ansatz, seiner Beiträge und Begrifflichkeiten eine kontroverse Angelegenheit dar. Angesichts dieser Diversität von Einschätzungen scheint es am unverfänglichsten, nach dem Problemgesichtspunkt zu fragen, in den sich Goffmans frame-Begrifflichkeit einordnen lässt. Auch diesbezüglich macht es Goffman seinen Lesern jedoch nicht einfach und bestimmt nicht, so urteilt zumindest Scheff (2005: 371), welches Problem mit „Frame Analysis“ gelöst werden soll. Immerhin liegt aber die Vermutung nahe, dass es Goffman um die Vermittlung von Kontext und Interaktion gegangen sei: Dass die Wichtigkeit des Kontexts oft unterschätzt und in blossen Residualkategorien gefasst würde, habe Goffman (Scheff zitiert Goffman 1981a: 67) anerkannt und versucht, diese Leerstellen zu beheben. Mit dem Konzept der frames und Gesellschaft als „framework of frames“ (Gonos 1977: 862) bietet Goffman einen Weg an, wie sich der Einbezug des Kontexts in den Vollzug der Situation begrifflich fassen lässt.Footnote 30

Scheff weist darauf hin, dass Goffman in „Frame Analysis“ „Kontext“ jedoch selbst nicht klar definiert,Footnote 31 mit Ausnahme einer Klammerbemerkung: „Indeed, context can be defined as immediately available events which are compatible with one frame understanding and incompatible with others.“ (Goffman 1974: 441), wobei er auf der gleichen Seite weiter fährt, dass „the context, as we say, rules out wrong interpretations and rules in the right one.“ Die Handelnden werden dabei, so Goffman (1974: 202), im Rahmen von frames auch mit einer jeweiligen „capacity“ versehen. Aus der Perspektive der Situation stellen frames einen „channel or ‘track’“ für ihr Handeln dar. In diesem Sinne wären frames diejenigen Muster, die in der Interaktion die Situation definieren und bestimmen, worum es darin geht. Damit stellen sie Anschlussmöglichkeiten für Handlungen in diesem Rahmen her und erlauben es möglicherweise auch, die Situation verbal zu kategorisieren. Letzteres ist insbesondere notwendig, wenn eine Situation nicht einfach in das „primary framework“ gehört, dem sie mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zugeordnet wird. Dadurch, was Goffman (1974: 44) als „keys“ und als Vorgang des „keying“ bezeichnet, kann kommuniziert werden, wenn etwas nicht so gemeint ist, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, so z. B. kann Ironie mit Augenzwinkern markiert werden.

Definitionen der Situation entstehen nicht in der Situation selbst, sondern schliessen an frühere ähnliche Situationen und ihre Definitionen an – der Kontext stellt damit gemäss Goffman gewissermassen die Leitplanke für spätere Handlungen dar.

Als Beispiel kann das Händeschütteln bei Begrüssungen unter amerikanischen Männern dienen, das Goffman (1981b: 61–62) anführt: Die entsprechende Praxis ist durch frames vorgegeben, womit gewisse Dinge in dieser Situation angebracht sind und von den Beteiligten wie auch dem wissenschaftlichen Beobachter erwartet werden können (z. B. die Verwendung der rechten, nicht der linken Hand), anderes wird mehr oder weniger ausgeschlossen (z. B. in dem spezifischen Kontext das Küssen). Die Situation selbst eröffnet die entsprechenden Anschlüsse (z. B. durch körperliche Nähe und entgegengestreckte rechte Hände). Das Verhalten legt dabei bestimmte Interpretationen und Gefühle nahe, z. B. die Anerkennung gegenseitiger Anwesenheit. Das Beispiel zeigt auch den Stellenwert der sprachlichen Bezeichnung – je nachdem dürfte es als „Händeschütteln“, „Begrüssung“ oder „Ritual“ bezeichnet werden, die je nach Perspektive unterschiedliche Wahl der Bezeichnung ändert nichts daran, dass Einigkeit hinsichtlich der in diesem frame erwarteten Verhaltensweise besteht. Wenn also Goffman (1974: 8) davon ausgeht, dass sich Individuen in Situationen die Frage stellen „What is it that’s going on here?“, müsste das zumindest in einer praxistheoretischen Lesart nicht heissen, dass sie sich diese Frage tatsächlich so stellen und eine sprachliche Antwort suchen, sondern dass sie vor der Herausforderung stehen, sich mit eigenem Handeln in die Aktivität einzufügen und sich dafür typischerweise implizit in ihrem Handeln an frames orientieren, die situationsübergreifend sind und gewisse Selektionen nahe legen.Footnote 32

Grenzziehung

Mit Verweis auf den früheren Goffman kann der Bezug der Interaktion zu seiner sozialen Umwelt weiter charakterisiert werden: Goffman (1961: 28) stellte in seinen Studien von „encounters“ fest, dass diese filtern, was aus der Umwelt relevant ist und was abgeblockt wird. Goffman spricht von einem Sieb, das bestimmten externen Angelegenheiten erlaubt, in die Interaktion einzufliessen:

„a locally realized world of roles and events cuts the participants off from many externally based matters that might have been given relevance, but allows a few of these external matters to enter the interaction world as an official part of it. Of special importance are those properties in the wider world that constitute attributes of the encounter’s participants, for these attributes are potential determinants of the way in which locally realized resources are distributed.“ (Goffman 1961: 29)

Bereits hier findet sich damit die von Scheff geforderte Auseinandersetzung mit der Wirkung des Kontexts. Die Frage stellt sich, was einem „externally based attribute“ geschieht, „when it passes through the boundary of an encounter“ (Goffman 1961: 30). Goffman weist auf die Inversion von Machtunterschieden in Höflichkeitsfloskeln hin, in denen gerade Frauen und Kindern von Männern Privilegien eingeräumt werden – eine ähnliche Rollenumkehr fände sich auch bei Ereignissen wie dem Karneval. Es handelt sich also bei der Barriere zur Aussenwelt um einen „screen“ der „not only selects but also transforms and modifies what is passed through it“ (Goffman 1961: 31). Hier finden sich Transformationsregeln, die diesen Vorgang strukturieren. Ein Beispiel dafür sind „deference patterns“, das heisst Arten und Weisen, mit denen soziale Attribute, die in der breiteren Gesellschaft relevant sind, in konkreten Ereignissen von face-to-face-Interaktionen Einzug halten (vgl. Goffman 1961: 31). Eine entsprechende Berücksichtigung des Kontexts stellt eine Übereinstimmung mit Durkheim dar, der, wie bereits betont (siehe Abschn. 3.1.1.1), nicht den situativen psychologischen Effekt als entscheidendes Moment, sondern die emotionalen Episoden in ihrer Durchführung an einen Kontext gebunden sah.

Kritik am frame-Konzept

Bevor mit der Charakterisierung des Konzepts weitergefahren wird, ist auf zwei Kritiklinien einzugehen, mit denen Goffman diesbezüglich konfrontiert wurde:

Die erste davon kritisiert Goffmans Ansatz als zu „strukturalistisch“: Gerade der begriffliche Versuch, zu fassen, wie Situationen von einem Kontext mitbestimmt werden, handelte Goffman dezidierte Kritik von Mikrosoziologen wie Denzin und Keller (1981) oder Rawls (1987: 147) ein: Denzin und Keller sehen darin eine Variante des StrukturalismusFootnote 33, da die frames das Handeln determinieren würden, Goffman suche nicht nach „meaning“, sondern nach „system“ (Denzin und Keller 1981: 57), das „Selbst“ würde zum Zuschauer degradiert, der Symbolische Interaktionismus regelrecht verraten.Footnote 34 Auch Krüger (2006) warnt in seiner zurückhaltenderen Kritik davor, das frame-Konzept strukturalistisch zu verwenden, vielmehr müsse es interaktionistisch gelesen werden, wobei beispielsweise mit Schütz der Faktor der Deutung der frames durch die Individuen und die Pluralität von frames zu betonen sei.Footnote 35

Solcher Kritik kann mit Goffman zunächst einmal insofern bestätigend gegenübergetreten werden, als dieser in Frame Analysis ein Forschungsinteresse verfolgt, das sich nicht mit demjenigen radikaler Mikrosoziologen deckt, die die zu beobachtende Varianz über die Dynamiken der Interaktion erklären wollen. Auch die Kontrastierung mit einem Bild des Individuums, wie es in der Sozialphänomenologie vorherrscht, ist zutreffend. Goffman nimmt einen ganz anderen Blick auf Individuen ein:

„But the individuals I know don’t invent the world of chess when they sit down to play, or the stock market when they buy some shares, or the pedestrian traffic system when they maneuver through the streets. Whatever the idiosyncracies of their own motives and interpretations, they must gear their participation into what is available by way of standard doings and standard reasons for doing these doings.“ (Goffman 1981b: 63)

Das deckt sich mit Luhmanns (1984: 569) bereits diskutierter Position, dass die Erwartungsstrukturen nicht in den Interaktionen neu erfunden werden.

Der Einschätzung von Denzin und Keller inhaltlich zwar nicht unbedingt entgegengesetzt, hinsichtlich der Bewertung aber grundlegend verschieden, ist eine strukturalistische Goffman-Lesart, wie sie George Gonos vertritt: Goffmans Position unterscheide sich vom Voluntarismus seiner interaktionistischen Kritiker: Es gelte, beim frame anzusetzen, nicht beim Akteur (vgl. Gonos 1977: 863). Damit seien aber nicht „preestablished normative orientations“, also übergreifende Werte, wie sie bei Parsons und einer an ihn anschliessenden Rollentheorie zu finden sind, gemeint (vgl. Gonos 1977: 861). Die „framing conventions“ sind weder von der Aushandlung durch Individuen noch durch übergreifende gesellschaftliche Orientierungen bestimmt. In der Konzeption Goffmans, die Gonos als „strukturalistisch“ bezeichnet, wird jeder Bereich von Aktivität als ein System erfasst, das durch Regeln ausgezeichnet ist, die sich vom Individuum als vorsozialer Entität, wie es Mead oder Blumer gedacht hätten, und von einer mehr oder weniger ideellen Gesamtgesellschaft unterscheidet:

„Social action is contained, then, within micro-structures that have an integrity in their own right.“ (Gonos 1977: 861–862)

Die Position von Gonos stellt damit eine Absage an die Vorstellung einer wertintegrierten Gesellschaft, genauso wie an die informierte Weltkonstruktion der Individuen dar. Damit sei Goffmans Ansatz „sociological to the core“, so Gonos (1977: 866), wobei die Identifizierung und Analyse von frames des Alltags es gerade erlaube, sie in ihren Bezügen zu übergreifenden politischen und ökonomischen Ordnungen zu analysieren und so eine „Mikrosoziologie“ in die Soziologie zu integrieren.

Mit Strong (2013 [1982]: 7) ist wohl festzuhalten, dass Goffman nicht ohne Weiteres den „Strukturalisten“ oder den „Handlungstheoretikern“ zuzurechnen ist. Auf jeden Fall zeigen sich aber Parallelen von Goffman zu einem praxistheoretischen Ansatz, wie er sich bei Bourdieu findet, der sich dezidiert von Konzeptionen wie derjenigen Schütz’ abgrenzt, die seiner Meinung nach dem Individuum zu viel Gestaltungsfreiheit zuschreiben. Genauso grenzt sich Bourdieu aber von einem gesellschaftstheoretischen Objektivismus ab. Für die vorliegende Untersuchung sind Kritiken wie diejenige von Denzin und Keller keine Gegenargumente gegen ein an Goffman orientiertes Verständnis von frames; dieses fügt sich gerade insofern diese Kritik zutrifft in die hier gewählte theoretische Position ein.

Mit der Kritik als zu strukturalistisch durchaus verwandt ist der Hinweis darauf, dass Goffmans Kategorie der frames zu einem zu hierarchischen und zu stark geordneten Bild der Realität führt. Sich auf Ethnomethodologie und Sozialphänomenologie beziehend, kritisiert Sharrock (1999: 131) in ähnlicher Weise wie Denzin und Keller, dass sich Goffman nicht wirklich für den Vollzug der Situation mit seinen Dynamiken und Relevanzen, sondern als „orthodox Durkheimian“ sich für Ordnung als Produkt soziologischer Systematisierung interessiere. Diesem Interesse folgend gelange Goffman zu einer künstlichen Hierarchie von Ordnungen, wie z. B. einer Interaktionsordnung, die in der Ordnung der Berufswelt enthalten sei, denen aber auf der Ebene des Gegenstandes keine Wirklichkeit zukomme. Aus einer ritualtheoretischen Sicht übt Don Handelman (2004: 10) eine ähnliche Kritik am frame-Konzept: Mit diesem werde eine Eindeutigkeit des Ein- und Ausschliessens suggeriert, die der Vielfältigkeit und der Dynamik der Realität nicht genügend Rechnung trage. So sehe das, was Handelman als „lineales framing“ bezeichnet, eine hierarchische Anordnung von frames vor, die keine Überlappungen oder Konkurrenzen mit anderen frames vorsieht – dies stelle ein höchst künstliches Modell dar. Tatsächlich legen die Ausführungen Goffmans und auch die Anwendungen seines frame-Konzepts eher eine „Verschachtelung“ von frames dar, wie sie z. B. MacAloon (1984) in ein Modell von „Chinese boxes“ überführt. Es stellt sich die Frage, ob die ordentliche Hierarchie im Gegenstand selbst handlungsleitend oder ein Produkt eines wissenschaftlichen Ordnungsinteresses darstellt. Eine solche hierarchische Schematisierung ist attraktiv, da sie es erlaubt, frames über eine Dimension in Bezug zueinander zu setzen, die kritischen Anfragen erscheinen jedoch durchaus berechtigt.

Immerhin sieht Goffman Abweichungen und Konkurrenzen zwischen verschiedenen Deutungen vor, so z. B. „out-of-frame activity“, die alternative „Kanäle“ zu den vom frame Vorgegebenen anbieten: So kann die Aufmerksamkeit abgelenkt werden oder körperliche Indisponiertheit wie Wadenkrämpfe können die Weiterführung einer Tanzdarbietung unterbinden. Goffman (1974: 201) stellt auch angesichts der Strukturierung von frames fest, dass damit nicht gesagt sei, dass diese Strukturierung auch immer greife. Auch das framing derselben Aktivität kann durch verschiedene Beteiligte unterschiedlich erfolgen. So schreibt Goffman (1974: 8) eingangs seiner „Frame Analysis“, dass das, was Spiel für den Golfer ist, Arbeit für den Caddy darstellt. Mit der frame-Begrifflichkeit sollen die strukturierenden Konsequenzen des Kontexts erklärt werden, diese Strukturierung ist aber keine Determinierung, zumal sie durch andere Strukturen bzw. frames konkurriert wird. Das bedeutet, dass die Strukturierung durch frames nur die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Handeln erhöht – verschiedene Ursachen können zu Abweichungen führen, wobei gerade Konflikte und Widersprüche wichtige Faktoren sein dürften. Goffman liefert Begriffe wie das „Keying“, mit dem diese Abweichung thematisiert werden kann, was für Analysen hilfreich ist, aber dem wissenschaftlichen Beobachter die Aufgabe auferlegt, etwas als Standard im Feld zu identifizieren, von dem abgewichen wird.

Weiter kritisiert Handelman in grundsätzlicher Weise die Vorstellung einer klaren Demarkation der Realität durch frames in ein „Innen“ und ein „Aussen“. Dies sei deshalb problematisch, da dadurch die frames einen blossen Rahmen, ein Gerüst darstellen, eine „meta-communication“, die die Aufmerksamkeit von den Dynamiken, die innerhalb des rituellen Vollzugs ablaufen, ablenkt: „The borders, the frames of ritual, become crucial to comprehending ritual practice.“ (Handelman 2004: 10).

Bei Goffman sind frames jedoch keine blossen „metakommunikativen Regeln“, wie es Handelman vermutet, sondern integraler Teil der Kommunikation, die diese nicht nur einem Typus zuweisen, sondern die Weichen für ihren Vollzug stellen. So betont z. B. John MacAloon:

„(...) frame markers provide more than metacommunicative rules for evaluating the actual and variable contents of the performance enclosed within the frame. In and of themselves, frames have the additional properties of pretypifying and ‘inducing fitting actions.’ For example, the frame marker ‘This is ritual’ not only delivers the metacommunicative message that ‘all statements within this frame are true and represent the most serious things,’ it also orders us to expect reverential demeanor from the actors to conduct ourselves accordingly.“ (MacAloon 1984: 260; Hervorhebung im Original)

Das framing der Handlung ist untrennbar mit Handlungsanweisungen verknüpft. Frames sind also keine blossen Rahmen in dem Sinne, dass sie den Inhalt umgeben. Aus einer praxistheoretischen Perspektive ist Struktur über ihren Vollzug zu denken und zu beobachten. In diesem Sinn verstanden, stellen frames Teil einer Aktivität dar, durch die sie erst ihre Realität und ihre Eigenschaften erhalten und im Rahmen dieses Vollzugs stellen sie überhaupt erst ein „Innen“ und „Aussen“ her. Das framing führt eine Differenz zwischen einer Festlegung und dem Nicht-Festgelegten ein und erzeugt damit die Unterscheidung zwischen Situation und Kontext. Auch kodifizierte Regeln stellen da keine Ausnahme dar: Es handelt sich bei ihnen um Faktoren, die durchaus das Handeln mitbestimmen und definieren können. Ob sie das tun oder nicht, ist eine empirische Frage, wobei sozialwissenschaftlich das Handeln das Explanandum und den empirischen Ausgangspunkt darstellt; auch frames sind auf der Ebene der Aktivität, die sie wahrscheinlich macht, anzusiedeln, nicht auf derjenigen von vorformulierten Regeln.Footnote 36 Das heisst, durch das Verhalten entlang der mehr oder weniger expliziten Vorgaben bestimmter frames wird überhaupt erst die Differenz zwischen einer konkreten Situation und ihrem Kontext herbeigeführt. Wie Handelman die frames der einen oder anderen Seite dieser Unterscheidung zuzuweisen, scheint wenig zielführend.Footnote 37

Ein solches praxistheoretisches Verständnis, das die frames in der Praxis ihres Gebrauchs sieht, erübrigt damit auch eine Entscheidung darüber, das frame-Konzept entweder „strukturalistisch“ oder „interaktionistisch“ zu fassen – wie verschiedentlich gesehen, ist es genau diese Alternative, die Praxistheoretiker wie Bourdieu mit der Grundlegung ihres Konzepts aufheben wollen, und das frame-Konzept kann in dieses Vorhaben integriert werden.

Frame und Kontext

Von einem Verständnis von emotional besetzten Strukturen der wechselseitigen Aufmerksamkeit stellt Thomas Scheff (2005) unmittelbar einen Bezug zu Goffmans Konzept her: Frames sind die Bezüge zwischen einer Interaktion und ihrem Kontext, die vorgeben, worauf die Aufmerksamkeit in welcher Weise zu richten ist, was im Rahmen dieser Koordination zu erwarten ist und was erwartet wird.

Frames, so betont Goffman (1981b: 441) in expliziter Abgrenzung von Bateson, sind keine psychische Angelegenheit, sondern „inhering in the organization of events and cognition“. Als „organisation of events and cognition“ sind sie durch einen „obligatory focus of attention“ (Goffman 1974: 201) geprägt, der die Wahrnehmung der Beteiligten strukturiert. Dieser Fokus stelle einen wesentlichen Faktor dar, denn es sei für die strukturierenden Konsequenzen eines frames zentral, dass der Fokus von „out-of-frame activities“, mit denen immer zu rechnen sei, ferngehalten werden könne (Goffman 1974: 210).

Eine zentrale Leistung dieses framings besteht darin, zu bestimmen, was überhaupt als relevant angesehen wird und was nicht. Dies zeigt Adam Kendon (1985: 230) anhand der empirischen Untersuchung der Etablierung von frames in Interaktionen. Diese Etablierung ist unter den Bedingungen der Interaktion an die gegenseitige Wahrnehmung gekoppelt, die das Geschehen unmittelbar bestimmen kann.Footnote 38 Wie andere Mikrosoziologen weist Kendon auf die Rolle der Positionierung der beteiligten Körper hin, die, den Beteiligten unbewusst, eingesetzt werden, um eine Abstimmung zu erreichen, die den Interaktionsprozess ermöglichen (wie z. B. durch den ersten Blickkontakt vor der verbalen Begrüssung) und aufrechterhält (so die zunehmende Synchronisierung und Platzierung der Körper in gegenseitiger Reichweite). Die gegenseitige Wahrnehmung von Körpern ist die Ausgangslage für einen geteilten Fokus und damit die Etablierung eines frames, Kendon spricht von einem „working consensus“. Eine Routinisierung dieser Verhaltensweisen (vgl. Kendon 1985: 231–232) und dabei der Körperpositionierungen erhöht damit die Erwartungssicherheit weiter – Strukturierung bedeutet hier, in Übereinstimmung mit dem Strukturbegriff Luhmanns (1984: 139) die Etablierung von Erwartungen und wird im Rahmen von Ritualisierung durch routinierten Umgang mit dem eigenen Körper und den Körpern anderer erzielt.

Scheff betont – und Randall Collins dürfte das ähnlich sehen – dass diese Fokussierung nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Konsequenzen zeitige. Das gegenseitige „attunement“ und „the incentive for participation in the awareness structures of social facts is not only cognitive, but also emotional“ (Scheff 2005: 377). Die Beteiligung am kollektiven Fokus gehe mit „pride“ einher, gegenläufige Handlungen, so beispielsweise die Verweigerung eines angebotenen Handschlages, würden dagegen emotional negativ empfunden und seien gemäss Scheff (2005: 377) mit „shame“ besetzt. Bei dieser Interpretation bezieht sich Scheff auf Durkheim, der die positive Emotion als „respect“ identifiziertFootnote 39, was Scheff als durchaus kompatibel mit seinem Vorschlag, „pride“, erachtet.

Damit weist Scheffs Vorschlag in dieselbe Richtung wie derjenige Schegloffs: Als Regel dafür, ob ein Aspekt des Kontexts für die Analyse wichtig ist, soll nicht einfach die heuristische Ergiebigkeit einer bestimmten Variable dienen; es handelt sich also nicht um eine bloss analytische Kategorie, sondern entscheidend ist die Frage, ob die Variable für die Handelnden in der Situation relevant ist (vgl. Schegloff 1987: 218). Gemäss Scheff (2005: 384) ist mittels frames der Kontext in Interaktionen als „minimum amount of background information“ präsent, der notwendig ist, damit die Interaktion stattfinden kann. Dabei können frames, so Scheff an der selben Stelle, mehr oder weniger bewusst und explizit sein, das heisst, es handelt sich bei ihnen nicht notwendigerweise um Konzepte oder Deutungen, sondern auch um Handlungsdispositionen (vgl. auch Weinhold et al. 2006: 29).

Mit dem Konzept des frames kann damit der Einfluss des Kontexts begrifflich erfasst werden, ohne dass von einer Dualität von Kultur und Struktur ausgegangen werden müsste. Mit dieser Auseinandersetzung mit dem Kontext von Interaktionen unterscheidet sich Scheff mit Goffman von Mikrosoziologen, die die situative Aushandlung als einzige Ebene der Erzeugung des Sozialen in den Blick nehmen.Footnote 40 Ist damit die umgekehrte Kritik wieder gültig, dass das Framekonzept die soziale Welt zu statisch konzipiere, da es die interaktive Situation determiniere? Handelman führt als Beispiel gegen ein seiner Meinung nach zu statisches frame- und Ritualkonzept improvisierten Ausdruckstanz an: Rekursivität und Reflexivität, die zu unerwarteten Ergebnissen führen, seien Merkmal und Resultat solcher „Rituale“, wie überhaupt des ganzen Bereichs „neo-schamanischer Riten“ (Handelman 2004: 14). Als Kritik am Framekonzept taugt das jedoch wenig: Die frames, die mit Ausdruckstanz verbunden sind, dürften sogar hochgradig explizit sein, was bereits vor dem eigentlichen Geschehen die Teilnehmerschaft strukturiert. Das Label „Ausdruckstanz“ oder auch „neo-schamanische Riten“ zieht eine spezifische Klientel an, bestimmt also bereits die Teilnehmer an der Interaktion. Und auch wenn von diesen erwartet wird, dass die Bewegungen in der Situation in unerwarteter Weise vollzogen werden, sind bereits dadurch Erwartungen vorhanden und Verstösse, also z. B. Paartanz im Walzertakt, würden genauso auffallen wie Ausdruckstanz am Opernball. Frames und damit verbundene Erwartungen sind in beiden Fällen im Spiel, sie sind, mit Bloor (2001: 101; siehe Abschn. 2.2.2.3) gesprochen, das glossing, mit der die Interaktion als eine bestimmte, institutionalisierte Interaktion erkannt und weitergeführt wird.

Unterschiede zwischen Paartanz und Ausdruckstanz könnten nicht über die An- oder Abwesenheit von framing bzw. glossing erfasst werden, u. a. aber über das Konzept der Ritualisierung (siehe Abschn. 2.3.1). Improvisierter Ausdruckstanz dürfte weniger ritualisiert im hier verstandenen Sinne sein, das Bewegungsrepertoire ist offener als beim Paartanz. Dies ist gerade entsprechenden frames geschuldet, die mit bestimmten Konfigurationen von Ritualisierung einhergehen. Hier zeigt sich die Wichtigkeit, ein Konzept wie Ritualisierung durch Kontextvariablen wie „frame“ zu ergänzen.

In praxistheoretisch anschlussfähiger Form erlaubt ein an Goffman orientiertes Verständnis von frame die Erfassung der Sinnhaftigkeit von Situationen für Beteiligte und allfällige Beobachter: Frames können über implizite Regelbefolgung stattfinden – dabei würde erst der Wissenschaftler den frame verbal definieren – oder in expliziter Form die Situation und das Verhalten darin festlegen. In beiden Fällen (und den unzähligen Zwischenformen) handelt es sich um einen sinnhaften Vorgang, da ein glossing stattfindet und die Selektionen der Beteiligten daran orientiert sind. Über diese Sinnhaftigkeit wird auch Anschlussfähigkeit für weitere Handlungen hergestellt. In beiden Fällen dient gerade diese sinnhafte Festlegung des frames der Abgrenzung vom Kontext und durch den Handlungsvollzug entlang der Regeln eines frames strukturiert dieser Kontext die Interaktion.

3.2.4 Affektivität

Abgesehen von dem kurzen Verweis auf Thomas Scheff geriet bei den eben angestellten Erörterungen der Bedeutungsdimension von Ritualen Emotion aus dem Blick. Eine Theorie von Ritual und Bedeutung muss aber, will sie prinzipiell Collins folgen, diesen Faktor mit einbeziehen.

Typischerweise wird Emotion über den Begriff der Affektivität als situative Angelegenheit bezeichnet. So wird sie von Autoren wie Weber und zumindest teilweise auch von Parsons über ihre Unmittelbarkeit, das heisst ihre Ausrichtung auf die Gegenwart des jeweiligen Geschehens, gesehen: Während traditionales Handeln einen Bezug zur Vergangenheit herstellt und rationales Handeln über Vorgänge der Abwägung die Zukunft in die Planung einbezieht, ist affektives Handeln durch unmittelbare Gratifikation und darauf ausgerichtetes Verhalten geprägt (vgl. Weber 1972: 565; Parsons 1964b: 60).

Für eine praxistheoretisch angeleitete Position wäre ein Verständnis von Emotion interessant, dessen Betonung nicht in der Unmittelbarkeit der Interaktion, sondern in deren strukturierten und strukturierenden Bezügen liegt. Ein möglicher Weg für ein Konzept, das emotionale Unmittelbarkeit und die Reproduktion dauerhafterer Strukturen zusammenbringt, findet sich bei Collins, bei dem Emotion in Form von emotional energy, die den Symbolen anhaftet, die Situation überschreitet. Gerade angesichts des Positivismusvorwurfes, der an Collins gerichtet werden könnte (siehe Abschn. 3.2.3.1), gilt es, diese Beziehung zwischen Bedeutung und Emotion genauer zu betrachten. Dies soll mittels einer Diskussion der Beziehung von Emotionen mit Rationalität geschehen, da letztere mit Weber geradezu als Gegensatz zur Emotionalität eingeordnet werden kann, weil sie nicht durch Unmittelbarkeit, sondern durch Bezugnahme auf situationsübergreifende Kriterien und Ziele gekennzeichnet sei. In einem ersten Schritt gilt es Konzeptionen, die von diesem Gegensatz ausgehen, zu diskutieren, um in einem zweiten Schritt ihre Vermittlung zu thematisieren.

3.2.4.1 Affektivität und Sinnbezug als Alternativen

Rationalität stellt eine problematische und schwer zu definierende Kategorie dar. Immerhin scheint festzustehen, dass sie in einem engen Sinne, als aus einer objektiven Warte als „richtig“ zu beurteilendes Denken verstanden, für sozialwissenschaftliche Zwecke kaum verwendbar ist. Bereits Weber war hinsichtlich der sozialwissenschaftlichen Festlegung einer irgendwie universalen Rationalität im Sinne von Richtigkeit skeptisch: „‘Irrational’ ist etwas stets nicht an sich, sondern von einem bestimmten “rationalen” Gesichtspunkte aus.“ (Weber 1988a: 35, Fussnote 1, Kursives im Original gesperrt). Das heisst, dass „Rationalität“ nicht damit gleichgesetzt werden darf, was aus der Sicht des westlichen Wissenschaftlers als sinnvoll, zielführend usw. gesehen werden kann, wie es beispielsweise Frazer gemacht hatte.

Eine Alternative dazu, Rationalität mit einem bestimmten Gesichtspunkt gleichzusetzen, ist es, sie Weber folgend als Eigenschaft von Handeln zu sehen, das durch „bewussten Glauben“ und Bezug auf bestimmte Vorstellungen oder Werte und im Fall der Zweckrationalität zusätzlich durch Kalkulation und Abwägen geprägt ist. Rationalität ist in so einem Verständnis durch den expliziten Bezug auf Bedeutungen und Überzeugungen gekennzeichnet, im Spezialfall des zweckrationalen Handelns sogar durch Überlegungen hinsichtlich Aufwand und Folgen. Im Anschluss an ein solches Verständnis kann Affektivität als Gegensatz zu Rationalität gesehen werden: Affektives Verhalten erfolgt entlang „aktuelle[r] Affekte und Gefühlslagen“ (Weber 1972: 12), involvierte Bedeutungen spielen keine Rolle für das Handeln, genauso wenig zweckorientiertes Abwägen. Die momentane emotionale Gratifikation bestimmt das Handeln.Footnote 41

Bekanntlich handelt es sich bei affektuellem bzw. wert-/zweckrationalem Handeln im Sinne Webers um Idealtypen: Empirisch vorfindbares Handeln ist nie gänzlich als Streben nach emotionaler Gratifikation zu verstehenFootnote 42, diese kann graduell durch bewusstes, rationales Entscheiden ergänzt und abgelöst werden. Damit werden, so liesse sich kritisieren, Rationalität und Affektivität in ein Verhältnis des kontinuierlichen gegenseitigen Sich-Auschliessens gestellt – eine Kritik, die von Positionen geübt werden kann, die die Dimensionen Rationalität und Emotionalität nicht nur als negativ korreliert sehen wollen. Ein Versuch zur Berücksichtigung dieser Kritik kann darin bestehen, neue Handlungstypen einzuführen, die nicht nur affektiv und nicht bloss rational bestimmt sind, sondern beides zusammenbringen. So formuliert Pettenkofer (2012) im Anschluss an Dewey ein Konzept, das uneindeutige, kontingente Situationen zu fassen versucht, in denen nicht einfach stillschweigende Erwartungen bestätigt werden können. Gerade in der emotionalen Ergriffenheit der Situation könnten sich Alternativen auftun, zwischen denen reflexiv entschieden werden müsse. In der Spannweite zwischen dem Idealtyp des affektiven Handelns und wert-/zweckrationalen Handlungen schlägt Pettenkofer deshalb neue Zwischentypen „affektiver Reflexivität“ vor und versucht damit, ein Handeln zu fassen, das mit eingehender Reflexion verknüpft ist „(...) aber weiter durch Emotionen fokussiert bleibt.“ (Pettenkofer 2012: 213). In solchen Situationen können verschiedene Elemente einer Situation aus affektiven Ursachen in den Vorder- oder Hintergrund treten.

Zur Illustration dieser Kombination zwischen Emotion und bewusster Entscheidung verweist Pettenkofer (2012: 220) auf Goffmans frühe Schriften zu Stigmatisierung und Scham: Das Selbst ist das Produkt dauerhafter Darstellungsarbeit, indem es sich über Emotionen rekursiv stabilisiert und sich dabei in eine normative Ordnung einfügt bzw. diese seinerseits reproduziert. So werden Differenzerfahrungen über Stigmatisierungen vermittelt, die wiederum mit Schamgefühlen verknüpft werden. Dies nötigt das Individuum, sich als konform zu präsentieren. Solche Vorgänge sind durchaus bewusst und gesteuert, sogar berechnend, jedoch gleichzeitig Emotionen unterworfen: „Darum arbeiten sie [das heisst die Stigmatisierten, die sich an der Norm orientieren] mit hohem Engagement an der Stabilisierung von Normen, an deren Bestand sie keinerlei Interesse haben“, fasst Pettenkofer (2012: 213) zusammen. Das heisst die Individuen entscheiden sich ganz bewusst entlang ihrer Emotionen und realisieren dabei Normen, die sie eigentlich ablehnen.

Ein solcher Handlungstypus erscheint durchaus verwandt mit einem Bourdieu’schen Verständnis von Praxis: Menschen handeln zwar entlang ihrer persönlichen Interessen, leisten damit aber einen Beitrag zur Reproduktion bestehender sozialer Verhältnisse. Diese „Interessen“, so zeigen nun Pettenkofer und Goffman, können durchaus emotional begründet sein.Footnote 43

In Pettenkofers Vorschlag wird die Beziehung von Rationalität und Affektivität letztlich weiterhin als von einer negativen Korrelation geprägt gesehen. In der „affektiven Rationalität“ halten sie sich zwar die Balance, relativieren einander aber gegenseitig. Selbst wenn diese Lösung akzeptiert würde, wäre Pettenkofers Vorschlag aus praxistheoretischer Perspektive bereits im Ansatz keine befriedigende Antwort auf die Frage nach der genannten Beziehung. Im Unterschied zum Vorgehen bei Weber arbeiten Praxistheorien nicht idealtypisch oder anderweitig typologisch, das heisst, es wird auch auf der Ebene der begrifflichen Arbeit nicht einer „rationalen“ eine „affektuelle“ Praxis gegenübergestellt.Footnote 44 An Stelle der Arbeit mit Kontrasten und Gegensätzen wird von Beginn an mit einer Kategorie wie Praxis gearbeitet, die auf das Zusammenspiel zwischen Rationalität und Emotionalität zu befragen ist. Damit kann Pettenkofers Typus der „affektiven Reflexivität“ aus einer praxistheoretischen Perspektive nicht einfach zu den anderen Typen gesellt werden, und es soll hier auch nicht nach weiteren Formen von Handlungen zwischen Emotionalität und Rationalität gesucht werden. Statt einer Palette von Typen, gilt es im Grundbegriff der Praxis die Gleichzeitigkeit von Affektivität und Rationalität zu berücksichtigen. In dieser Begriffsstrategie findet sich eine Parallele zu Collins’ Theorie der Interaktionsrituale: Emotionen und Symbole stehen dabei zueinander in einem konstitutiven Verhältnis – ausserdem arbeitet auch sie wie praxistheoretische Ansätze und im Gegensatz zu Weber nicht typologisch (siehe Abschn. 3.1.3.2).

Damit ist nicht der Strategie Pettenkofers, sondern eher derjenigen Schützeichels (2012) zu folgen: Handlungs- und Emotionstheorie werden integriert, indem über „affektiv-intentionale Intentionen“ jedes Handeln, gerade auch das „rationale“, reflexive, als von Emotionen durchsetzt gesehen wird. Emotionen stellen dabei einen zentralen Faktor in der Konstitution, Reflexion und auch in der ex post-Rationalisierung von Handlungen dar. Doch wie lässt sich das aus einer praxistheoretischen Perspektive denken und auf Durkheims Anfänge einer Emotionssoziologie hin reflektieren?

3.2.4.2 Affektivität als Qualität jeder Interaktion

Emotion und Rationalität bei Durkheim und Parsons

Ein Blick auf Durkheim zeigt, dass dieser seinerseits nicht mit einer typisierenden Kontrastierung von Emotion und Rationalität arbeitet: Denn nicht nur für sein ritualtheoretisches Argument sind Emotionen zentral, sondern ebenso für sein epistemologisches Argument, das sich insbesondere im dritten Kapitel des dritten Buches der Formes und damit einem Teil des Werkes findet, in dem Durkheim sich ausführlich mit Emotionen beschäftigt (vgl. Durkheim 1994: 473–497, 501–527; Rawls 2004: 231–232). Wenn Durkheim (1994: 488, 518) darin den Übergang von den Folgen von Ritualen hin zu der daraus erfolgenden Strukturierung von Erkenntnis und Wissen analysiert, trennt er das Kognitive gerade nicht vom Emotionalen, sondern macht das Studium der Kognition von demjenigen der Emotionen abhängig (vgl. Rawls 2001: 54). Auch der rituelle Vollzug selbst ist gemäss Durkheim nicht arational, sondern sinnhaft besetzt, wie Durkheims ausführliche Erläuterungen zum symbolischen Kontext zeigen (vgl. Mellor 1998: 90).

Etwas unerwartet ist, dass sich hier auch mit Parsons’ Durkheim-Lektüre anschliessen lässt.Footnote 45 Immerhin lehnt auch Parsons, ähnlich wie der Praxistheoretiker Bourdieu (2000b: 12), ein idealtypisches Vorgehen ab: Eine über Kontraste arbeitende Methodologie führe zu Schwierigkeiten, ihr setzt Parsons ein einziges Handlungsschema entgegen, in dem die Elemente, die Weber den einzelnen Handlungstypen zuordnet, als gegenseitig notwendige Elemente gesehen werden (vgl. Holmwood 1996: 59). Dies führt für Parsons zur Notwendigkeit, Rationalität und Emotionalität zusammen zu denken – wenn er denn seinen Universaltypus des Handelns nicht der einen oder anderen Seite zuschreiben möchte. Dem scheint nicht so zu sein: Tatsächlich stellt Fish (2004: 128) fest, dass im Gegensatz zu den gängigen Lesarten, die betonen, dass Parsons ein Modell rationaler Ideen und Konzepte erstellt habe (so z. B. Barbalet 1998), durch Parsons’ Structure hindurch immer wieder nicht-rationale Elemente Erwähnung finden und Emotionen letztlich eine wichtige Rolle zukommt: Parsons konzipiert bereits in der Structure in Anlehnung an Durkheim ein Konzept von Internalisierung, das gerade nicht eine bloss kognitive Einsicht in Werte vorsieht, sondern auch deren emotionale Übernahme:

„A whole new field, that of attitudes, emotions and the like is opened up. The ego is no longer merely a photographic plate, a registry of facts pertaining to the external world.“ (Parsons 1949: 387)

Rationales Handeln sei von Werten bestimmt, diese Werte seien aber wiederum in einem emotionalen Vorgang internalisiert worden, das heisst, dass Emotionen konstitutiver Teil von Rationalität sind – so Parsons in einer gerade an dieser Stelle wiederholt auf Durkheim verweisenden Position.

Nützlich ist weiter eine seiner pattern variables, die ein Kontinuum zwischen „affectivity“ und „affective neutrality“ absteckt.Footnote 46 Dieses ist nicht als Alternative zwischen Emotionalität und Rationalität zu verstehen: Die Akteure bringen eine „need-disposition“ in die Handlung mit, gemäss derer sie sich eher für „affectivity“ als „immediate gratification“ entscheiden oder eben nicht (Parsons und Shils 1951: 80). Auch die „affective neutrality“ ist dabei, wie alle evaluativen Kriterien, darauf weist Parsons (1960: 480) an anderer Stelle hin, nicht frei von Emotionen. Auch über soziale Erwünschtheit eines Verzichtes auf unmittelbare Affektivität oder kulturelle Werte, die einen solchen Verzicht fördern, ist Emotionalität in der „affective neutrality“ vorhanden, da solche Werte ihrerseits mit Emotionen versehen sind und über diese Geltung für das Individuum erlangen (vgl. Parsons und Shils 1951: 80).

Teleoaffektivität bei Schatzki

Mit Durkheim und Parsons lässt sich also ein Konzept einer gegenseitigen Konstitution von Emotionalität und Rationalität erarbeiten, damit ist jedoch noch kein begrifflicher Anschluss an die hier vertretene praxistheoretische Position hergestellt.

Eine Möglichkeit für die Klärung dieses Verhältnisses findet sich im Praxisverständnis Theodore Schatzkis, in dem dieser Emotion und Rationalität zueinander in Bezug setzt. Wie andere Praxistheoretiker sieht Schatzki die Praxis nicht durch die souveränen Entscheidungen der Handelnden geprägt, rechnet diesen aber, wie auch Bourdieu und Giddens, ein gewisses, freilich vorstrukturiertes, Verstehen bzw. Wollen in ihrer Praxis zu, das sie in ihrem Handeln anleitet. Schatzki spricht von einer „practical intelligibility“ seitens des handelnden Individuums. Diese ist nicht mit Normativität und auch nicht mit Rationalität gleichzusetzen: Dass es Sinn macht, etwas zu tun, muss nicht im Sinne einer vom Beobachter zugeschriebenen Rationalität sein. Praktische Intelligibilität ist auch nicht Normativität. Was für den Handelnden Sinn macht, ist nicht unbedingt dasselbe, wie das, was als angemessen, richtig oder korrekt gilt (vgl. Schatzki 2002: 75). Wenngleich auch die begrifflichen Entscheidungen Schatzkis andere sind, kann damit an Bourdieus Verständnis von Praxis angeschlossen werden.

Im Unterschied z. B. zu Weber oder Pettenkofer widmet sich Schatzki der Beziehung zwischen Emotionalität und Rationalität nicht über die Identifikation von Typen, in denen diese in unterschiedlichem Masse das Handeln bestimmen, sondern platziert sie in Dimensionen der „practical intelligibility“, die jedem Handeln zukommen. Im Anschluss an Wittgenstein und in kritischer Auseinandersetzung mit Bourdieu identifiziert er dabei drei Dimensionen: Praktiken sind offene Sets von Handlungen, verbunden durch a) „pools of practical understanding“, das heisst nicht-explizites Handlungswissen, b) „arrays of explicit rules“, also ausformulierte Regeln und c) eine teleoaffektive Struktur. Den genannten drei Dimensionen, also dem Praxiswissen, den expliziten Regeln und der Teleoaffektivität kommt aber – so legen es Schatzkis Ausführungen zumindest nahe – eine unterschiedliche Grundsätzlichkeit zu. So kann Praxis durchaus ohne explizite Regeln auskommen und auch das praktische Wissen kann in nur geringem Masse vorhanden sein. Teleoaffektivität als sozial geformte Emotionsstruktur ist für Schatzki aber unabdingbare Komponente von Praxis:

„Teleoaffectivity governs action by shaping what is signified to an actor to do.“ (Schatzki 1996: 123)

Dabei stellt sie eine Verbindung von „understanding“ der Situation und dem „attunement“ der Befindlichkeit dar, die die Relevanz bestimmter Ziele und Verhaltensweisen bestimmt:

„Things mattering is people’s being in particular moods and emotions or having particular feelings, affects, and passions. How things matter omnipresently structures the stream of behavior. It usually accomplishes this by affecting what is teleologically signified as the thing to do.“ (Schatzki 1996: 123)

Dieses „mattering“ könne durchaus zunächst ohne das „understanding“ erfolgen. In der Abwesenheit eines differenzierten Verstehens und auch von Kompetenzen und Regeln bestimmt die „affectivity“ relativ unvermittelt menschliches Handeln, und der Aspekt des „telos“ geht fast gänzlich in der Affektivität auf (vgl. Schatzki 1997: 303). Praxistheoretisch ist das deshalb bedeutsam, da dem Individuum nicht zuviel an Bewusstheit und Überzeugung unterstellt werden soll, und stellt einen Unterschied zur auf Abschn. 3.2.4.2 angeführten Durkheim-Lesart von Parsons dar. Dieser sieht Internalisierung zwar ebenfalls als emotionalen Vorgang, in den aber notwendigerweise Werte involviert sein müssen, die Teil eines explizierten Wertsystems sind.

Doch wird damit wieder ein Gegensatz zwischen Affektivität und Rationalität eingeführt? Das ist nicht der Fall, denn Schatzki folgend ist Teleoaffektivität auch dann noch wirksam, wenn Regeln und Gewohnheiten in expliziter Weise greifen, das heisst, wenn das Handeln in Webers Verständnis eher wert- oder zweckrational ist. Die Emotionalität geht dabei nicht zurück, wirkt jedoch in stärker vermittelter, das heisst regel- oder gewohnheitsorientierter Weise: Die von Durkheim geschilderten Bestattungsriten gehen durchaus mit Bedeutungen einher, aber es wäre auch empirisch wenig plausibel, ein Mehr an Bedeutung der rituellen Handlungen bei höherer Informiertheit der Beteiligten mit einem Weniger an Emotionalität zu verbinden.

Mit dieser Betonung der Stimmungen und Emotionen für die Bestimmung von Interessen strebt Schatzki (1996: 120) an, die „pervasive temptation to overintellectualize action“ zu vermeiden. Gleichzeitig reduziert dies die Gerichtetheit des Wollens der Handelnden nicht auf letztlich materielle Interessen, sondern darauf, was für sie emotional ansprechend erscheint. Hier kann wieder eine Theorie von Ritualen und Emotionen wie diejenige Collins’ einsetzen, die es erlaubt, zu erfassen, wie empirisch ein jeweiliges Telos mit Affektivität versehen wird – denn wie die Dinge für jemanden Sinn machen, was sie bedeuten und mit welchen Gefühlen sie verbunden sind, hängt, so Schatzki (1996: 126), von den sozialen Praktiken ab, an der die Person partizipiert.

Das Konzept der Teleoaffektivität, dies hält Schatzki (2002) mit etwas anderer Betonung in einem späteren Werk fest, ist Teil einer teleoaffektiven Struktur, die im Zusammenspiel mit den anderen genannten Komponenten eine Praxis organisiert.Footnote 47 Die Teleoaffektivität motiviert die Interessen der involvierten Akteure und ordnet ihre Aktivitäten in Richtung der geteilten Praxis, ohne dass ein bewusster Plan oder Klarheit über die Motivation vorhanden sein muss. Damit lässt sich an Bourdieus Verständnis der unbewussten Einbindung in eine Praxis unter gleichzeitiger Verfolgung von Strategien anschliessen: Auch ohne strategische Absicht verfolgen Menschen bestimmte Strategien. Dies, weil ihr Handeln von einer Teleoaffektivität bestimmt ist, auf welche die Individuen wiederum, mit Bourdieu (2009: 165) gesprochen, im Rahmen ihrer Einbindung in eine soziale Praxis „konditioniert“Footnote 48 sind. Ein solches Bild lässt sich auch mit Collins’ Verständnis einer arationalen, durch Emotionen bestimmten Tendenz, gewisse Handlungsweisen den anderen vorzuziehen, verbinden.

Eine weitere Parallele besteht zum Habitus-Begriff Bourdieus, der in den Ausführungen zum Praxiskonzept kurz erläutert wurde (siehe Abschn. 2.2.2.1). Beim Habitus handelt es sich um ein Set kollektiver Dispositionen, mit denen Selektionswahrscheinlichkeiten einher gehen. Der Begriff der Teleoaffektivität fasst ebenfalls diese Wahrscheinlichkeiten, dies jedoch mit anderen Betonungen: Einerseits wird Emotionalität als Faktor für diese Wahrscheinlichkeiten genannt, andererseits ist Teleoaffektivität ein integraler Bestandteil von Praxis, während bezüglich Habitus zu vermuten ist, dass er eine separate Struktur mit einer gewissen eigenen Integralität darstellt. Die Rede von Teleoaffektivität statt von Habitus könnte ein Weg sein, die Kritik, die deswegen am Habitus-Konzept geübt wird, zu vermeiden.

Kollektive Efferveszenz

Als letzten Schritt in der Erarbeitung eines Verständnisses von Emotion gilt es, noch einmal einen Blick auf die Begrifflichkeit der kollektiven Efferveszenz zu werfen. Damit ist die Gefahr einer Engführung verbunden, die es ritualtheoretisch eigentlich zu vermeiden gilt: Die Suche nach Efferveszenz kann zu einer Konzentration auf Rituale führen, die einerseits durch hochgradige emotionale Erregung und andererseits einen einzigen geteilten Fokus gekennzeichnet sind:

Durkheim sieht die von ihm diskutierten Rituale bei den Aborigines von starker emotionaler Erregung gekennzeichnet. Die Rede von der „kollektiven Efferveszenz“ bei Durkheim und Collins, sowie die Rede von „Affektivität“ und „Emotion“ allgemein legen die Vermutung nahe, dass Rituale stets durch hochgradige Emotionalität im Sinne eines „kollektiven Überschäumens“ geprägt sind und eine gänzlich aus dem Alltag heraustretende Angelegenheit darstellen. Gerade in der Ritualtheorie sind entsprechende Versuchungen naheliegend: Ausseralltäglich, stark emotional besetzte Rituale, in deren Zentrum ein als gemeinsamer Fokus dienendes Geschehen steht, das auch die Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers auf sich zieht, dürfte als Untersuchungsobjekt ansprechender sein als emotional laue Routinen.

Die Ethnologin Mary Douglas, deren Werk sich als ausgedehnte Auseinandersetzung mit Durkheim verstehen lässt, berichtet von einer von diesem Bild herrührenden Irritation bei ihrer ersten Lektüre der Formes: Die von Durkheim berichtete kollektive Efferveszenz konnte sie anhand eigener Erfahrungen römisch- katholischer Rituale nicht nachvollziehen. Diese bewegten sich in emotional temperierten und strikt organisierten Bahnen (vgl. Douglas 2004: xvi–xvii).

Die Annahme hochgradiger emotionaler Erregtheit ist verbunden mit einem Bild stark fokussierter Rituale mit vielen Teilnehmern. Eine entsprechende Engführung kritisiert Anne Rawls (1989: 104) an einer Perspektive, mittels welcher Interaktionen als „focused, formal, institutional“ betrachtetet würden. Tatsächlich erarbeitet Collins, obwohl er sein Ritualverständnis mit Nachdruck in eine hoher Allgemeinheit verortet und auf „formal“ als auch „natural rituals“ bezieht, seinen Typus des Interaktionsrituals am Beispiel eines in Kendons (1988: 27–28) Worten „singly focused gathering“. Die Vermutung liegt nahe, dass mit einer solchen Einseitigkeit auch Ritualformen des modernen westlichen Christentums, die durch one-to-many-Kommunikation gekennzeichnet sind, zum heimlichen Prototypen von Ritualen erhoben werden. Das heisst, dass der Blick auf Rituale sich von der Beschränkung auf one-to-many-Rituale lösen muss und auch weniger fokussierte Interaktionen in den Blick genommen werden müssen, was Mead, Goffman, Garfinkel und Sacks nahelegten. Ähnliches fordert auch Bourdieu:

„Anders gesagt, muss man in die Theorie des Rituals die Theorie des praktischen Verstehens aller rituellen Akte und Diskurse wieder einbeziehen, die wir uns selber leisten, und zwar nicht nur in der Kirche und auf dem Friedhof.“ (Bourdieu 1993: 39)

Ansätze wie die Ethnomethodologie bieten Wege an, eine alltägliche Praxis, die sich im Rahmen von Gewohnheiten und ausserhalb des Überschäumens abspielt, zu thematisieren. Collins erwähnt die mundanity als bei Garfinkel vorkommende Emotion, die letztlich auf dem Gefühl „nothing out of the ordinary is happening here“ basiert und als „feeling of ordinariness“ funktioniert. Die mundanity spielt eine wichtige Rolle in der Herstellung sozialer Ordnung, wie auch Collins (2004: 106) betont.

Intensives emotionales Überschäumen wäre im römisch-katholischen Gottesdienst von Mary Douglas ebenso fehl am Platz wie bei einer alltäglichen Begrüssung. Das heisst, dass der Blick auf Emotionen nicht dazu führen darf, dass Interaktionsrituale als Maschinen betrachtet werden, die zu einer möglichst hohen emotionalen Intensität führen müssen, um soziale Ordnung herzustellen. Vielmehr sind sie, so lässt sich mit Riis und Woodhead (2010: 77–79) schliessen, Teil einer emotionalen Ordnung, also eines Kontexts, in dem bestimmte Emotionen in den Interaktionen als angebracht gelten oder nicht. Auch der soeben mit Verweis auf Garfinkel erwähnten Emotion der mundanity kommt dabei auch ohne offensichtliches Überschäumen eine hohe Relevanz zu, die sich dem Wissenschaftler beispielsweise an der Empörung bei Verstössen dagegen zeigen könnte. Auch wenn sie weder Resultat einer one-to-many-Interaktion mit vielen Beteiligten ist, noch sich durch offensichtliche emotionale Ausbrüche auszeichnet, muss sie als die soziale Ordnung strukturierende emotionale Folge ritualisierter Praxis in den Blick genommen werden.

Der Durkheim und Collins folgende Blick auf Ritual und die damit einhergehende Hervorhebung der Wichtigkeit von Emotion darf, so ist zu schliessen, nicht zu Einschränkungen des wissenschaftlichen Blicks auf Situationen hoher Emotionalität und starker Zentriertheit führen.

3.2.5 Ritualisierung und Interaktion

Abschliessend soll das vorangehend ausgeführte Verständnis von Interaktion mit demjenigen von Ritualisierung zusammengeführt werden.

Ausgangspunkt für die Thematisierung von Interaktion war die Definition, dass diese jeweils alles umfasst, was als anwesend behandelt wird. Über diese Festlegung differenzieren sich Interaktionen selbst von ihrem Kontext, wobei, wie bereits in den theoretischen Vorarbeiten im Abschn. 2.8 besprochen wurde, in modernen Gesellschaften generell eine zunehmende Entkopplung von Interaktion und Gesellschaft festzustellen ist. Damit ist die sozialwissenschaftliche Zuständigkeit festgelegt: Mikrosoziologen kümmern sich um den Gegenstand der Interaktion, wobei sie es, wie Randall Collins’ Theorie der Interaktionsrituale zeigt, mit Referenz auf Durkheim tun können. Mit Collins lassen sich der Fokus der Aufmerksamkeit, die körperliche Präsenz und Emotionen als entscheidende Faktoren des rhythmic entrainment identifizieren, die Interaktionen strukturieren. In der Positivitität ihres Vollzuges lassen sich diese mit dem entsprechenden Schema analysieren, das auch die Resultate solcher erfassen lässt: Gruppensolidarität, moralische Standards und emotional relevante Symbole gehören zu diesen Konsequenzen von Interaktionsritualen, über die das, was in der Interaktion ablief, dauerhaft an Bedeutung gewinnt.

Eine zentrale Rolle spielen für Collins Emotionen, verstanden als evaluative Reaktionen auf Situationen, die nicht auf Konzeptualisierungen oder Verbalisierungen basieren. Emotionen werden soziologisch als soziale Angelegenheit gesehen, eine Interaktion kann somit Ausgangspunkt (bei Collins beispielsweise durch einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und einen geteilten Rhythmus) und Trägerin von Emotion (z. B. in Form kollektiver Efferveszenz) sein. Die hohe Emotionalität einer Situation zeigt sich beispielsweise in einem gesteigerten Lärmpegel und hoher Verhaltenssicherheit der Teilnehmenden, die als Folge wiederum ein hohes Mass an unbewusster rhythmischer Koordination der Interaktionspartner nach sich zieht. Bemerkenswert ist Collins’ Konzept der emotional energy, wobei es sich gewissermassen um einen Aggregatszustand von Emotion handelt, der den rituellen Moment überdauert und sich in Zutrauen bzw. Selbstvertrauen einer Person äussert. Über das Verleihen von emotional energy und, oft in Verbindung damit, die Relevanzsetzung und Plausibilisierung von Symbolen beeinflussen Interaktionsrituale ihren Kontext.

Mit dem kleinteiligen Fokus darauf, was in Interaktionen stattfindet, stellt die Theorie der Interaktionsrituale eine Ergänzung zu Praxistheorien dar, da diese zwar der kollokalen Aktivität theoretisch einen hohen Stellenwert einordnen, ihren Schwerpunkt letztlich aber nicht in der Untersuchung des tatsächlichen Vollzugs von Praxis in Interaktionen haben. Aus praxistheoretischer Perspektive wiederum unterschätzt jedoch die Theorie der Interaktionsrituale, dass Interaktion ihrerseits eine strukturierte Angelegenheit darstellt. Die mikrosoziologische Vermutung, dass die Interaktion als Anfangspunkt in der Reproduktion sozialer Ordnung zu sehen ist, vernachlässigt die Bedeutung des sozialen Kontextes – eine entsprechende Kritik am Interaktionismus stellt einen wichtigen Schritt in Bourdieus Argument für eine Praxeologie dar.

Die Strukturiertheit von Interaktionen liesse sich anhand von Rollendifferenzierungen thematisieren, wie beispielsweise der Unterscheidung in Priester und Laien, die der Interaktion in einem religiösen Ritual vorausgeht und diese in ihrem Vollzug durch rituelle Arbeitsteilung strukturiert. Diese und weitere eher strukturell gelagerte Variablen wie die Verfügung über materielle Güter sind problemlos an Collins’ Konzept anzuschliessen – entsprechend wurden sie in diesem Kapitel nur ansatzweise thematisiert. Schwieriger ist es für eine Position, die die Theorie der Interaktionsrituale und Praxistheorien als Ausgangspunkte hat, die sinnhafte Dimension von Interaktionen konzeptuell zu fassen: Sowohl die Konzentration auf Emotionen und unbewusstes Arrangieren von Körpern bei Collins als auch die Betonung von Struktur und implizitem Wissen in Praxistheorien zeigen, dass der Sinnhaftigkeit wenig Aufmerksamkeit zugewiesen wird. Sinnhaftigkeit dürfte jedoch ein zentraler Faktor der situationsübergreifend gegründeten Strukturierung von Ritualen darstellen.

Wie in den Ausführungen zu Ritualisierung und glossing auf Abschn. 2.2.2.3 gezeigt wurde, muss von einer Sinnhaftigkeit zumindest dahingehend die Rede sein, als die Handelnden die jeweilige Praxis identifizieren und durch damit verbundene, mehr oder weniger explizite Regeln angeleitet handeln. Dieses glossing kann durch Goffmans Konzept von frame gefasst werden: Damit werden die Schemata bezeichnet, die den Handlungsvollzug und, falls vorhanden, auch deren Interpretation strukturieren und in seinem Verlauf reproduziert werden. Dabei bezeichnen sie das Mindestmass an Sinnhaftigkeit, durch welches die Individuen ihr Handeln als solches wahrnehmen und woran sie mit bewusstem oder unbewusstem Regelbefolgen anschliessen. Goffman bietet mit seinem Spätwerk genau den Anschlusspunkt, um Interaktion als mikrosoziologischen Gegenstand in ihren Kontext eingebettet zu verstehen und die Sinnhaftigkeit zu thematisieren, ohne von einem Konzept organisierter oder expliziter Bedeutungen ausgehen zu müssen.

Der oft betonte Gegensatz zwischen der Unmittelbarkeit von Emotion, in der Folge Webers als Affektivität bezeichnet, und Rationalität wird praxistheoretisch mit Theodore Schatzkis Konzept von Teleoaffektivität aufgehoben: Sie leitet den praktischen Sinn der Handelnden an, in dem sie Relevanzen durch Emotionen mitkonstituiert. Handeln kann mit mehr oder weniger bewussten und rational diskutierbaren Bedeutungen versehen werden, die in der Teleoaffektivität enthaltene Emotion ist jedoch unentbehrlich, da über sie Selektionen Relevanz erhalten. Durch die genannten Ingredienzen eines Interaktionsrituals wird Teleoaffektivität sozial koordiniert zugewiesen: Ein bestimmtes Verhalten in der Interaktion wird dadurch für die Beteiligten emotional ergiebig, wobei dies nicht durch explizite Deutungen, also gewissermassen rational vermittelt geschieht. Handlungsrelevanzen im Sinne von Teleoaffektivität werden damit durch in Interaktionsritualen erzeugte Emotionalität festgelegt.

Dies kann sich in einer ungeplanten, einmaligen Interaktion abspielen – in seinem weiten Ritualverständnis würde Collins auch sie als Interaktionsritual bezeichnen. Im Konzept von Ritualisierung, mit dem hier gearbeitet wird, würde die Ritualisierung nur gering ausfallen. So ist die Frage zu stellen: Wie strukturiert zunehmende Ritualisierung Interaktionsrituale, verstanden als Konfiguration von körperlicher Kopräsenz, rhythmischer Koordination, Emotion und Teleoaffektivität?

Ritualisierung bezeichnet eine Art und Weise der Strukturierung von Interaktion, die nicht in der Situation entsteht, sondern durch den Kontext und frühere Durchführungen eingespielt ist.

Diese Strukturierung erfolgt bereits über die Zuweisung zu einem frame. Regeln und Bedeutungen werden dadurch vorgeschrieben, die auf frühere Interaktionen verweisen oder sich zumindest implizit daraus speisen. Der von Goffman erwähnte Filter (oder Sieb – siehe Abschn. 3.2.3.2), der den Einbezug von externen Elementen in die Interaktion reguliert, erschwert gegenwärtigen Elementen des Kontexts die Beeinflussung des Verlaufs der ritualisierten Praxis: Diese richtet sich im Rahmen des Traditionsbezugs über Gewohnheit oder explizite Betonung an früheren Durchführungen aus. Die Praxis orientiert sich daran und nicht an den unmittelbar gegebenen Anforderungen des Kontexts der Situation. Auch der Zukunftsbezug wird durch Ritualisierung eingeschränkt: Insofern die Praxis ritualisiert ist, ist ihr Vollzug nicht an Resultaten der Handlungen orientiert, sondern an der Richtigkeit der Durchführung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein Ritual nicht aus Kalkül ausgeübt werden könnte – bloss die innere Struktur ihrer Durchführung schliesst sich gegen kurzfristige Umstellungen ab. Durch diese Vergangenheitsausrichtung werden dauerhafte und gegenüber den Umständen unempfindliche Praktiken reproduziert.

Neben dem framing können auch weitere Faktoren, wie z. B. ein bestimmtes räumliches Arrangement, zur Ritualisierung beitragen. Teilnehmende, die wiederholt an einer ritualisierten Praxis partizipieren, bringen bereits vorstrukturierte Teleoaffektivität in rituelle Handlungen hinein, sowie implizites Handlungswissen und auch verkörperte Fähigkeiten, bestimmte Praktiken durchzuführen. Ritualisierung kann durch Instruktion und räumliche Arrangements auch für Erstteilnehmende erzielt werden. Durch ein entsprechendes Setting kann die emotionale „tendency to act“ der Teleoaffektivität erstmals erzeugt werden. Das für manche Teilnehmer erstmalige Regelbefolgen wird durch die Strukturierung von Körpern und der Aufmerksamkeit sowie die Erzeugung von Emotionen ohne grössere Deliberation und Reflexion ermöglicht. Andererseits kann das implizite Wissen um die Regelbefolgung von den Teilnehmenden bereits mitgebracht und durch den frame aktiviert werden. Im Fall des Letzteren funktioniert Ritualisierung über Einübung, Gewohnheit und körperliche Dispositionen, im ersteren dürfte eine organisierte Struktur notwendig sein.

In beiden Fällen gewinnen durch Ritualisierung über die Interaktion hinausgehende soziale Ordnungen Geltung in der Interaktion: Frames geben die Form und den Inhalt der Interaktion vor und legen auch nahe, welcher Grad an Emotionalität in der Interaktion angebracht ist. Emotionalität wird, wie Collins betont, situativ erzeugt, dies Erzeugung ist jedoch, wie aus der Sicht der Praxistheorie vorgesehen, eine Folge situationsübergreifender Verhältnisse.

3.3 Religiöse Interaktionen

Die entwickelte Perspektive soll auf zwei Fälle angewandt werden, die aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit ausgewählt wurden: Einerseits mit einem christlichen Gottesdienst ein one-to-many Ritual mit einem entsprechend einheitlichen und zentral organisierten Fokus, andererseits ein buddhistisches Meditationsritual, das alleine und ohne äusserlich erkennbaren Fokus durchgeführt wird.

3.3.1 Evangelikales Ritual

In der Folge geht es um ein „Celebration“ genanntes Gottesdienst-Ritual einer evangelikalen Freikirche, dem „International Christian Fellowship“ (ICF). Dabei handelt es sich um eine 1990 in Zürich gegründete, auf Jugendliche und junge Erwachsene ausgerichtete Freikirche. Die Datenbasis für die folgende Analyse stellen die Besuche und Beobachtungsprotokolle mehrerer Celebrations dar, sowie ein Gruppeninterview mit Mitgliedern und Leitern der besagten Freikirche.Footnote 49

3.3.1.1 Emotionen erzeugen und intensivieren

Fokus der Aufmerksamkeit

Für das Interaktionsritual zentral ist der geteilte Fokus der Aufmerksamkeit, der in der Celebration auf dem Bühnengeschehen liegt. Die körperliche Präsenz des Predigers ist umfassend, er wird nicht von einem Rednerpult oder einem Altar verdeckt. Verstärkt wird diese Präsenz durch auf Grossbildschirmen gezeigte Nahaufnahmen. Andere Gegenstände oder Personen befinden sich nicht gleichzeitig mit dem Prediger auf der Bühne, auch die Band verlässt diese nach den Musiksequenzen inklusive ihrer Instrumente. Es herrscht eine strikte Regulierung der Bühnenanwesenheit, die das „Aufmerksamkeitsmonopol“ des Predigers gewährleistet.Footnote 50 Gleichzeitig ist der Prediger exklusiv mit den religiös zentralen Angelegenheiten befasst, Mitteilungen und Administratives werden von darauf spezialisierten Personen am Anfang und Schluss der Gottesdienste kommuniziert.

Interaktivität

Das Geschehen ist durch ein hohes Mass an Interaktivität geprägt. Dafür typisch sind die Darbietungen der Band, die Beteiligung des Publikums durch rhythmisches Klatschen, Tanzen und Singen, gefördert durch die Liedtexte auf den Grossbildschirmen. Auch die Predigt, anderswo strikte Einwegkommunikation, ist interaktiv: Ja/Nein-Fragen werden vom Publikum beantwortet, humoristische Elemente werden eingebaut und führen zu Lachern, was der Prediger wiederum aufnimmt und beantwortet oder seinerseits lacht. Ein Rhythmus von Äusserungen und Lachern spielt sich ein, in dessen Rahmen auch Wendungen Gelächter ernten, die dies als alleinstehender Witz wohl nicht würden.

Durch diese Interaktivität ist die Bühne nicht blosser Ausgangspunkt von Informationen, sondern das Zentrum konzentrierter Aktivität, über die das das eigene Handeln in Übereinstimmung mit dem Handeln der anderen gebracht wird, was zu einer sozialen Bestätigung des Individuums und positiven Emotionen führt.

Technik

Das Zusammenspiel aus Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit der rituellen Handlungen wird durch den Einsatz von Technik erleichtert. Die Grossbildschirme verstärken den gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit, in dem sie das Geschehen auf der Bühne aber auch im Publikum abbilden. Text wird nur in Form kurzer Zitate der jeweils diskutierten Bibelstellen gezeigt. Dargestellt werden nur Inhalte, die unmittelbar Teil des rituellen Geschehens sind. Im vorneherein eingespielte Sequenzen werden selten gezeigt, da diese Interaktivität verunmöglichen und zu einem „emotional drain“ führen würden.

Für den Fokus der Aufmerksamkeit als zentrale Variable des Geschehens ist die Beleuchtung von besonderer Relevanz. Die Zuschauerränge sind fast völlig dunkel, während die Bühne beleuchtet ist, was mehrere rituelle Konsequenzen hat: Erstens werden dadurch passives Verhalten, Zögern und arhythmische Bewegungen von Individuen, sowie auch die Demonstration von Rollendistanz unsichtbar gemacht. Ein entsprechendes Herausfallen aus dem Rhythmus der Interaktion, das Goffman (1961) als „flooding out“ bezeichnet, ist gerade bei wenig geübten Teilnehmern zu erwarten, zeitigt aber deshalb kaum Konsequenzen für das Interaktionsgeschehen, da es in der Dunkelheit weitgehend unbemerkt bleibt. Zweitens ist auch Abwesenheit kaum bemerkbar, da die Beteiligten nicht sehen, ob die Halle voll ist; leere Ränge führen damit nicht zu einem umgekehrten „emotional multiplier effect“ (Riis und Woodhead 2010: 153). Drittens gibt es damit keine Möglichkeiten der Ablenkung, beispielsweise ist individuelle Bibellektüre nicht möglich und möglicherweise konkurrierende Träger der Aufmerksamkeit sind nicht sichtbar.Footnote 51 Falls trotzdem entsprechende out-of-frame Aktivitäten erfolgen, sind sie zumindest nicht sichtbar.

Emotionen mässigen und fokussieren

Die eben geschilderte Form des Dargebotenen einer celebration wird im Schweizer Kontext eher mit dem frame eines Popkonzertes in Verbindung gebracht. Diese Inkongruenz mit den Ewartungen an einen Gottesdienst führt wohl auch dazu, dass in der medialen und wissenschaftlichen Beobachtung der Gemeinschaft die celebrations im Zentrum stehen. Interessant ist, was die keyings sind, mit denen signalisiert wird, dass es sich doch nicht um blosse Unterhaltung handelt.Footnote 52 Ein Mittel dazu ist die Regulierung von Emotionen.

Collins (2004: 134) folgend kann das Mass an Emotion durch den Geräuschpegel und die Intensität von Bewegungen der Beteiligten gemessen werden und je emotionaler die Interaktion ist, desto stärker wird Solidarität produziert. Doch diese Gleichung erweist sich als zu einfach, wenn die Perspektive derjenigen Leute, die das Ritual organisieren, in Betracht gezogen wird: Diese streben nicht Emotion um ihrer selbst Willen an, die Emotionen müssen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, eine spezifische Nachricht soll übermittelt und plausibilisiert werden. Auch wenn die Mechanismen der Produktion kollektiver Efferveszenz in einem evangelikalen Gottesdienst und einem Rockkonzert strukturell gleich verlaufen, sind beide in spezifische Interessen und Interpretationen eingebettet. Während die Abwesenheit von Emotion für den religiösen Zweck des Rituals verheerend wäre, wäre es genauso schädlich, wenn die Emotionen ausser Kontrolle gerieten. Die Frage nach der Produktion von Emotion muss also durch die Frage ihrer Einschränkung ergänzt werden.

Erstens verunmöglicht die Dunkelheit auf der Tribüne konkurrierende Aufmerksamkeitsfoki. Emotionale Ausbrüche der Beteiligten, die beispielsweise in Pfingstgottesdiensten willkommen sind, sind nicht Teil eines strikt evangelikalen Konzepts. Falls sie doch vorkommen, fänden sie bei ICF im Dunkeln statt und würden aufgrund des hohen Geräuschpegels auch kaum wahrgenommen werden.

Zweitens, wie soeben erwähnt, macht die Dunkelheit auch ein niedriges Level von Emotion im Individuum folgenlos. Neumitglieder oder Interessierte werden kaum das emotionale Level von überzeugten Anhängern erreichen. Zu viel kollektive Efferveszenz könnte für diesen Teil des Publikums abschreckend wirken. Die Dunkelheit erlaubt es ihnen, sich auch passiv zu verhalten, ohne fehl am Platz zu wirken. Damit hält die Dunkelheit die Eintrittsschwelle tief, was für den ICF eine entscheidende Tatsache ist.Footnote 53 Das Handlungswissen, der Anteil an einem „pool of practical understanding“ – ein Aspekt von Praxis, den Schatzki betont – kann damit gering sein, ohne dass das Individuum sich dabei beobachtet fühlt oder offensichtlich einen Ausreisser aus dem „rhythmic entrainment“ darstellt.

Drittens ist der Geräuschpegel Gegenstand kontinuierlicher Kontrolle durch technisches Personal, das die Verstärkeranlage auch während der Musikdarbietungen unter einem definierten Level hält. Die Lautstärke und damit auch das Publikum wird auf gemässigter Temperatur gehalten, da nach der evangelikalen Rockmusik die Predigt folgt und die Aufmerksamkeit gewährleistet sein muss. Eine zu exzessive Emotionalität während der Musik würde eine Herausforderung für den Prediger darstellen.

Wie der Gebrauch von Technik zeigt, ist das Hervorrufen und Mässigen von Emotionen das Resultat gezielter Organisation. Ritueller Erfolg ist das Resultat von Planung und nicht Improvisation. Ritual und Emotion sind damit das Produkt eines emotionalen RegimesFootnote 54, das nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form der Celebrations bestimmt. Damit sind „Ritualismus“ und „Efferveszenz“ nicht als antagonistisch zu sehen, wie z. B. Mary Douglas (1973: 103–114) vorschlug, sondern die Celebrations sind die Folge einer organisierten und ritualisierten Produktion von Efferveszenz. Douglas’ Unterscheidung passt jedoch insofern, als die erreichte Efferveszenz nicht als spontaner Ausdruck von Emotionen, sondern als Resultat orchestrierter und von den oberen Hierarchiestufen bestimmter Vorgänge zu verstehen ist. Seitens der Organisatoren besteht explizite Regelkenntnis, die durch die Bereitstellung der eben diskutierten Strukturen zu einem Geschehen führt, das den Beteiligten Handlungsmöglichkeiten anbietet, die durch die niederschwellige, auch ohne viel Handlungswissen mögliche Angleichung an das Verhalten anderer und das Einbinden in einen Rhythmus Handlungssicherheit und ein hohes Mass an Teleoaffektivität gewährleistet wird.

Bei kollektiver Efferveszenz, der verspürten Freude und dem Enthusiasmus handelt es sich um Kurzzeitemotionen. Um Relevanz für den Alltag zu erhalten und zu einer dauerhaften Gemeinschaft beizutragen, müssen sie in Langzeitemotionen umgewandelt werden, in Collins’ Worten, emotional energy. Träger dieser emotionalen Energie sind Symbole, die damit zu den wichtigsten Folgen der Rituale zählen.

3.3.1.2 Folgen der Rituale

Zentrale Emotion: Confidence/Vertrauen

Collins’ Konzept von Emotion und emotional energy verbleibt auf einer Ebene hoher Allgemeinheit, da die Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Emotionen nicht Teil seines Kernmodells darstellt. Emotion wird als eindimensionale Angelegenheit konzipiert, die über den Grad kollektiver Efferveszenz gemessen werden kann.Footnote 55 Im Anschluss an Durkheim lässt sich diese Langzeitemotionalität spezifizieren; er charakterisiert den emotionalen Effekt von Ritual und Religion als „confiance“, was als Zu- oder Vertrauen übersetzt werden kann.Footnote 56 In kollektiven Ritualen werden die Symbole, die gemeinschaftlichen Erinnerungen und Werte gestärkt, die Individuen fühlen sich in der Gemeinschaft aufgehoben, was eine Stärkung ihres Vertrauens in diese Erinnerungen, Werte und Symbole bedeutet (vgl. Durkheim 1994: 504–505, 536–567).

„Vertrauen“ kann als spezifischere Form von emotional energy gesehen werden, es bezeichnet „not merely energy, undirected and differentiated only by degree (...) the object of confidence is the actor’s prospective behavior.“ (Barbalet 1998: 87). Dabei muss Vertrauen nicht als explizite Motivation, die auf einer bewussten Hingabe der Akteure beruht, gesehen werden. Dem Soziologen Jack Barbalet (1998: 87) folgend, beruht die Emotion des Vertrauens (confidence) nicht auf der Bewusstheit der Individuen und ist eher als Disposition denn als Motivation zu sehen. Um diese Emotion weiter zu charakterisieren, ist Barbalets Unterscheidung dreier Aspekte von Vertrauen hilfreich: erstens als Glaube an die Fähigkeit einer anderen Person, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, zweitens als Gewissheit hinsichtlich der Zukunft und schliesslich als „confidence in oneself, indicating a willingness to act“ (Barbalet 1998: 87). Insbesondere im letzteren Sinne sind Gewissheit und Vertrauen die zentralen emotionalen Dispositionen, die das hier beobachtete Ritual hervorbringt: Durch die Bestätigung der Symbole in der rituellen Interaktion fühlt sich das Individuum in seinen Handlungen und Interpretationen der Welt bestätigt. Emotional durch erfolgreiche Interaktion abgestützt, fühlen sich die Leute „righteous about what they are doing“ (Collins 2004: 33).Footnote 57

Vertrauen ist einerseits eine ungerichtete Disposition, gleichzeitig werden diese Emotionen in Wechselwirkung mit religiösen Überzeugungen auch im Sinne einer Motivation gerichtet. Damit wirken die Emotionen auf den Kontext des Rituals, in diesem Fall auch die Gemeinschaft des ICF zurück.

Symbole

Symbole sind das wichtigste Resultat von Interaktionsritualen und ein zentraler Faktor in der Erzeugung einer über die rituellen Situationen hinausgehenden sozialen Ordnung wie im Fall von ICF Gemeinschaft. Diese Wechselwirkung zwischen ritueller Interaktion und Gemeinschaft wird im nächsten Kapitel behandelt, in dem das Beispiel Celebration/ICF entsprechend weiter analysiert wird (siehe Abschn. 4.2.1). Die Beobachtung der Interaktion lässt jedoch bereits einige Schlüsse zu:

Gemäss Durkheim (1994: 284, 294) sind Symbole als „materialer Ausdruck einer anderen Sache“ zu verstehen. Was ist also dieser materiale Ausdruck im ICF? Es finden sich nicht viele Objekte, auch beispielsweise das christliche Kreuz findet sich nur selten auf der Bühne. Prominenter ist die Bibel, die über kurze Zitate auf den Grossbildschirmen präsent ist. Den wichtigsten Fokus stellt jedoch der Prediger selbst dar – wie von Durkheim (1994: 290, 301) ausgeführt, scheint hier der Redner die Inkarnation und Personifizierung der Gruppe darzustellen.

Daran anschliessend ist mit Durkheim die Frage zu stellen, was diese Symbole repräsentieren: Im Fall charismatischer Führerschaft gilt der Prediger als aussergewöhnliche Person, die die Gemeinschaft durch die Verkörperung eines transzendenten Ziels darstellt. Dieses Charisma ist typischerweise auf eine Position beschränkt, was auf den ICF jedoch nicht zutrifft. Verschiedene Personen agieren in verschiedenen Gottesdiensten als Prediger. Auch bezüglich der Aussergewöhnlichkeit ist wenig Entsprechung zum Weber’schen Idealtyp auszumachen: Der Prediger präsentiert sich selbst als gewöhnliches ICF-Mitglied, gekleidet wie alle anderen und erzählt auch höchst alltägliche Geschichten, beispielsweise von seinem eigenen Umgang mit Versuchungen. Weit eher als ein Idol ist er ein Beispiel, „einer von uns“, der die eigene Beziehung zu Jesus durch paradigmatische Geschichten in seiner Predigt symbolisiert. In der Form des Predigers ist das gefeierte Symbol damit mit dem semantischen Fokus des Evangelikalismus deckungsgleich: Der Gläubige, seine persönliche Entscheidung für Jesus und sein Vertrauen in religiöse Symbole. Da der Glaube eine Sache individueller Erfahrung, Entscheidung und Handelns ist, ist das Vertrauen in das Symbol damit gleichzeitig auch Selbstvertrauen.

Die in der Predigt definierten Symbole werden mit dem rituell erzeugten Selbstvertrauen verknüpft, womit auch explizite, in der Predigt formulierte Regeln anschliessen können. Im Sinne von Schatzkis Teleoaffektivität werden so explizit definierte Ziele mit guten Gefühlen versehen.

3.3.1.3 Ritualisierung

Das Konzept der Ritualisierung erlaubt es, sowohl die Abgrenzung einer Interaktion von anderen Interaktionen als auch ihre Strukturierung durch situationsübergreifende soziale Ordnungen zu erfassen.

Diese Strukturierung ist bei ICF in hohem Masse organisiert: Der beobachtete Einsatz von Technik und auch die räumliche Infrastruktur bedarf einer dauerhaften Bündelung von Ressourcen und Know-How, die von einer formalen Organisation bereitgestellt werden. Die Form des Rituals ist als Variation des Gottesdienstes zu sehen, wie er in der Willow Creek-Gemeinde in einem Vorort von Chicago angeboten und propagiert wird und an dem sich der ICF gezielt ausrichtet (vgl. Kunz 2004: 18; Shibley 1998: 76).

Der frame der Celebration wird eindeutig kommuniziert: Der Gottesdienst ist räumlich und, durch einen auf die Leinwände projizierten Countdown auch zeitlich klar abgegrenzt. Bereits vor dem Beginn der Celebration erfolgt eine Ausrichtung von Körper und Aufmerksamkeit auf das rituelle Setting. Durch diese Strukturierung wird schliesslich eine Situation ermöglicht, in der im mit Collins rekonstruierten Sinn kollektive Efferveszenz erzeugt wird. Die Regeln des frames werden durch usher, Platzanweiser, die die Ankömmlinge auf die Plätze verteilen sowie verbale Anweisungen (z. B. in Form von Liedtexten) auf den Bildschirmen bzw. Leinwänden, durchgesetzt.

Repetitivität ist dadurch garantiert, dass der einzelne Gottesdienst in seiner Struktur eine gezielte Reproduktion früherer Durchführungen ist. Diese Struktur folgt dabei einer evangelikalen Missionierungslogik, die erstmals Teilnehmenden den Zugang erleichtern soll. Gerade aufgrund der Eingespieltheit der Interaktion für sie finden sich auch für sie keine Unsicherheiten oder Alternativen in der affektiven Besetzung von Handlungszielen während der Interaktion. Fokus und Handeln sind bestimmt, wie mit Collins gezeigt werden konnte. Die Frage stellt sich, inwiefern Teleoaffektivität dauerhaft festgelegt wird, so dass die Gemeinschaft nicht nur in der ritualisierten Situation die Ziele bestimmt.

Für diese Frage muss der symbolische und gemeinschaftliche Kontext erörtert werden, im Rahmen dessen die zeitliche Generalisierung von Relevanzen über die Interaktion hinweg möglich ist. Dies geschieht im Abschn. 4.2.1. Als nächstes gilt es, eine ganz andere rituelle Interaktion zu analysieren.

3.3.2 Zen-Meditation

Evangelikale Rituale scheinen mit ihrer manifesten und orchestrierten Emotionalität und in ihrer Struktur der one-to-many-Kommunikation geradezu prädestiniert für eine Analyse mit Collins’ Schema zu sein. Dieses – und auch der hier u. a. im Anschluss daran formulierte Ansatz – hat jedoch den Anspruch höherer Allgemeinheit, den es im zweiten Beispiel auszuloten gilt.

Eine Anwendung der Theorie der Interaktionsrituale über christliche one- to-many-Rituale hinaus findet sich bei David L. Preston (1988), der sich der „Social Organization of Zen Practice“ widmet. Untersuchungsgegenstand ist ein Zen-Zentrum in Kalifornien, das einerseits als Kommune feste Bewohner hat, andererseits aber auch „practising members“, die mehr oder weniger regelmässig im Zentrum an Meditationspraxis partizipieren (vgl. Preston 1988: 18). Zen wird dabei im Sinne einer japanischen Schule durchgeführt, zum Zeitpunkt der Untersuchung Prestons in den 1980er Jahren war dafür ein vor Ort lebender japanischer Zen-Lehrer massgeblich.

Preston beschreibt dreierlei Praktiken: Erstens die „sesshin“, bei denen es sich um „meditation retreats“ handelt, in denen in einer Gruppe mehrere Tage lang ein durch Meditation, kollektive Mahlzeiten und andere kollektive rituelle Praktiken strikt regulierter Alltag verbracht wird. Darin sind die Teilnehmenden genauen Bewegungs-, Ess-, Kleidungs- und Verhaltensvorgaben unterworfen, wobei Unzufriedene jederzeit den sesshin verlassen können (vgl. Preston 1988: 105–107). Zweitens Audienzen für Fragen/Abfragen der Schüler mit dem Zen-Lehrer (vgl. Preston 1988: 33), sowie drittens die individuelle Praxis der Zen-Meditation, Zazen, genannt, die für die hier gewählte Perspektive als Kontrastbeispiel zu der kollektiven Praxis der evangelikalen Gottesdienste von besonderem Interesse ist.

3.3.2.1 Meditation als Interaktionsritual

Bei Zazen geht es darum, den Körper in einer am Boden sitzenden Position ruhig zu halten und die Aufmerksamkeit einem im Raum vorhandenen Objekt, dem eigenen Atem oder, idealerweise, gar nichts mehr zuzuwenden. In dieser im Feld als Meditation bezeichneten Praxis wird Konzentration und Entspannung zu erlangen versucht, die letztlich zu einer Loslösung von unmittelbaren körperlichen Gegebenheiten oder Gedanken führen sollten (vgl. die Selbstberichterstattung von Preston 1988: 88–97). Die Dauer dieser Meditation kann unterschiedlich sein, sie kann zudem alleine oder in Anwesenheit anderer stattfinden.

Aufmerksamkeit

Dies weist auf unterschiedliche Antworten auf eine erste im Modell von Collins bedeutsame Frage, diejenige nach dem Fokus der Aufmerksamkeit, hin. Diesbezüglich findet sich ein Umschlagen von bewusster Ausrichtung in unbewusste Gewissheit. Die Aufmerksamkeit wird anfangs auf die Atmung oder ein Objekt gelegt, werde dann aber irgendwann hinfällig und durch Unbewusstheit, das heisst das Ablegen jeder Form von Aufmerksamkeit, ersetzt:

„With practice one finds the appropriate state of actively passive attention and lets behavior move along prescribed lines. Because the rituals have been done repeatedly, the body becomes trained.“ (Preston 1988: 113)

Körper

Preston sieht körperliche Fähigkeiten, in der Meditationsstellung auszuharren, als zentrale Bedingung für die Ritualdurchführung. Die Ritualteilnehmer werden Teil eines genau definierten und anstrengenden körperlichen Regimes: Haltungen (z. B. während der Meditation) und Bewegungen (z. B. Verbeugungen) sind genau reglementiert. Dieser, mit Bourdieu gesprochen, „Zustand des Leibes“ bedarf also der wiederholten Befolgung von Vorgaben und gibt damit situationsübergreifende Strukturen wieder, die im Moment ausagiert werden (siehe Abschn. 3.2.2).

Emotion

In emotionaler Hinsicht sieht Preston (1988: 113) diese Loslösung von einer gerichteten Aufmerksamkeit und der Irritation durch körperliche Schmerzen als Zunahme von confidence. Mit zunehmender Einübung gewöhnten sich Körper und das Bewusstsein an die Meditation und verspüren dabei confidence, die einerseits self-confidence, aber auch confidence in etwas sei, was über einen selbst hinaus geht. Unsicherheiten und Ablenkungen würden im Zuge dieses Zutrauensgewinns verschwinden.

Individuum und Gruppe

Bei Zazen handelt es sich, mit Goffman (1963: 66) gesprochen, um „auto-involvement“: Das rituelle Handeln ist auf die Ausrichtung des eigenen Körpers ausgerichtet, entsprechend wird die Aufmerksamkeit von allen anderen Angelegenheiten – und letztlich auch dem Körper selbst – abgewandt. Der Individuumsbezug ist jedoch die Reproduktion expliziter sozialer Vorgaben, denn Lehrer und Regeln spielen durch ihre Anleitungen zur Ritualdurchführung eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zur analysierten evangelikalen Celebration ist damit die Vermittlung expliziten Regelwissens, „arrays of explicit rules“, zentral. Die Erlangung dieses auto-involvement ist dabei neben diesen expliziten Vorgaben auch insofern sozial vermittelt, als die Einübung der Praxis in der Gruppe geschieht und ein kollektives „rhythmic entrainment“ wie in Collins’ Interaktionsritualen wichtig ist. Prestons Analyse zeigt die Wichtigkeit der Eingebundenheit in soziale Beziehungen in der Erarbeitung der Fähigkeit, Zazen auszuüben. In den ersten Wochen findet Meditation unter körperlicher Kopräsenz mit anderen Meditierenden statt. Kollektive Praktiken wie das Chanten würden helfen, die „self-consciousness“ zu beseitigen. Die Gruppe, so Preston (1988: 117–118), übe dabei einen beträchtlichen Druck aus: Dieser wirke gemäss seinen Interviewpartnern der körperlichen Anstrengung entgegen, entsprechend welcher eigentlich die Meditation abgebrochen worden wäre. Wie Prestons (1988: 121) Interviews zeigen, sind die sesshins als dauerhaftere Einbettung des Individuums ins Kollektiv und den darin geregelten Handlungsablauf für das Erlernen von Zazen entscheidend: Im Rahmen von sesshins durchgeführtes, stärker kollektiv organisiertes und realisiertes Zazen wird als emotionaler Höhepunkt wahrgenommen, so z. B. das gemeinsame einstündige Schreien der Silbe „Mu“.

„I’ve noticed the boiling in sesshin. \(\ldots \) I did a Mu Mu sesshin one time \(\ldots \) for a week. It was intense. We would all [make the sound] Mu at the top of our lungs for an hour. \(\ldots \) Talk about hara. That was something that built my hara up to a boiling point.“ (Ritualteilnehmer zitiert in: Preston 1988: 121; Hervorhebungen im Original)

Zur Einübung der Praxis und damit verbundenen „feelings“ ist die kollektive, gegenseitige Koordination von Handeln und Erleben anhand eines geteilten Fokus der Aufmerksamkeit zentral. Häufiges Chanten und gemeinsames Meditieren würde letztlich die emotionale Sicherheit in der Meditation stärken (vgl. Preston 1988: 114).Footnote 58

3.3.2.2 Kontext der Meditation

Die Meditationspraxis gewinnt ihren Stellenwert wiederum durch ihre Einbettung in andere Praktiken: So verweist Bell (1997: 151) auf diese Zen-buddhistischen Seminare als Beispiel für den Aspekt der Ritualisierung, den sie als „Invarianz“ bezeichnet. Sie stellt dabei die Strukturierung des gesamten Tagesablaufs der Teilnehmenden in den Vordergrund. Ritualisiert würde nicht nur die eigentliche Meditationspraxis, sondern auch Essen und Schlafen – die Interaktion ist also in der Phase ihrer Einübung nicht gesondert, sondern in eine umfassende kollektive Praxis eingebettet.

Die Frage stellt sich, welche Rolle die Ebene der Bedeutungen für diese Praxis einnimmt. Preston (1988: 68) verweist auf die explizite Ablehnung verbaler Sprache als Medium der Kommunikation essenzieller Inhalte. Im Unterschied zum bereits besprochenen evangelikalen Beispiel spielt der Transfer und die Plausibilisierung von Deutungsmustern in Form von Theologie eine geringere Rolle. Es geht um eine Technik, nicht das Erlernen eines Glaubens oder einer Philosophie (vgl. Preston 1988: 60), dabei ist es geradezu ein Ziel, Deutungsmuster und Emotionen – die Preston etwas unklar konzipiert – zu beseitigen:

„Usually, the person participates in the ritual, and the emotion and thoughts associated with it gradually diminish. No new interpretation is provided in place of the old one, at least not officially. The old meaning (emotions, ideas) just fades in doing the ritual over and over again. Practice comes to attenuate, diminish, and transform emotions and ideas and leaves just the doing in their place.“ (Preston 1988: 113)

Preston weist vor allem auf eine „reduced reflexivity“ hin. Die strikte Befolgung der rituellen Vorgabe untersagt Interaktionen mit anderen Anwesenden, das Schweifenlassen des Blicks oder anderweitige Abweichungen vom Aufmerksamkeitsfokus, z. B. durch Massenmedien, sind nicht vorgesehen. Alternativen zum Stattfindenden werden ausgeschaltet und das Setting werde nicht problematisiert. Das „Selbst“, so Preston, würde überhaupt erst durch eine entsprechende Reflexivität erzeugt und genau diese werde ausgeschlossen, um auch das Selbst auszulöschen.

Prestons Ausführungen weisen darauf hin, dass im Kontext der Rituale durchaus Reflexivität besteht: Das „Selbst“ als Problem wird ausführlich bedacht, wozu die Gemeinschaftsmitglieder sich ein entsprechendes Vokabular (z. B. „Hara“) angeeignet haben und auch anwenden. Preston wie auch seine Interviewpartner, das zeigen die entsprechenden Zitate unmissverständlich, haben also Deutungsmuster gelernt, mit denen Preston das rituelle Geschehen und die damit verbundenen Erfahrungen in explizite frames fassen kann.

Das ändert nichts daran, dass Zazen eine in seinem Vollzug höchst praktische, weniger diskursive Angelegenheit darstellt und es weit eher um eine Handlungspraxis als einen ideologischen Apparat geht. Es handelt sich aber um eine hochgradig durch Konzepte strukturierte Praxis, nicht um „natürliche Rituale“ im Sinne Collins’ (vgl. Preston 1988: 100).

3.3.2.3 „Zen Habitus“

Die Zen-Struktur wird durch die Befolgung der rituellen Vorgaben reproduziert und führt, wenn Intensität und Regelmässigkeit der Praxis gegeben sind, zu einem – Preston greift hier auf Bourdieu zurück – Habitus, der einen über das Ritual hinaus prägt (vgl. Preston 1988: 102). Preston betont auch die körperliche Dimension des Zustands: Puls und Atem würde sich verlangsamen, in einer Art und Weise, die mit Marihuana-Konsum vergleichbar wäre: „(...) both are based in physiological bodymind states that are cultivated by a certain technique and that require interaction with others to identify and learn the meaning of their consequences“ (vgl. Preston 1988: 63). Die Gruppenpraxis erzeugt kollektive Energie, unterstützt individuelles commitment und stärkt ein Set von Dispositionen, das von Preston (1988: 121) „Zen Habitus“ genannt wird.

Mit Schatzki könnte statt von Habitus von Teleoaffektivität gesprochen werden; dies suggeriert weniger eine Systemhaftigkeit, sondern bezeichnet eine Komponente der Praxis: Neben den mit dem Handeln verbundenen Bedeutungen und für ihren Vollzug notwendigen verkörperten Fähigkeiten führt die damit bezeichnete emotionale Besetzung der Praxis dazu, dass sie von Individuen vollzogen wird.

Festzuhalten ist, dass diese Praxis das Individuum in sein Zentrum rückt: Es gilt als Gegenstand, Ort und Mittel der Kultivierung. Die Transformation des Individuums und die Lösung von Problemen/Krankheiten überwiegt (vgl. Preston 1988: 62) und letztlich führt das Individuum die rituelle Praxis alleine aus. Meditationsrituale seien generell in neureligiösen, öffentlichen religiösen Bewegungen zentral, nicht Bekenntnis oder Busse und damit das Ordnen sozialer Beziehungen (vgl. Preston 1988: 104). Ebenfalls im Anschluss an Preston kann jedoch geschlossen werden, dass die Existenz solcher Formen von Religion, die als „cultes individuels“ bezeichnet werden können, eine soziologische Erklärung von Religion nicht in Verlegenheit bringen müssen, „denn die religiösen Kräfte, an die sie sich wenden, sind nur individualisierte Formen von kollektiven Kräften.“ (Durkheim 1994: 568, 607) – auf sich alleine gestellt würde Zazen als Ritual nicht funktionieren: Das Individuum führt das Ritual anhand expliziter Vorgaben durch, wobei es durch die Synchronisierung mit anderen Ritualteilnehmern bestärkt wird. Gleichzeitig ist das Meditationsritual im Rahmen von retreats in andere Praktiken eingebettet, die es zeitlich und räumlich umrahmen.Footnote 59 Und erst wenn eine Praxis mit den damit verbundenen Bedeutungen und verkörperten Fähigkeiten im Kollektiv eingeübt wurde und affektiv als Relevanz festgelegt wurde, ist das Individuum fähig und willens, sie auf sich gestellt durchzuführen. Auch die individuell vollzogene Praxis stellt die Reproduktion von etwas dar, was sozial vorgegeben wurde.

3.3.3 Ritualisierung und Training

Evangelikaler Gottesdienst und Zen-Meditation fokussieren die Aufmerksamkeit der Beteiligten im Rahmen einer kollektiven Zusammenkunft, in der bestimmten mehr oder weniger expliziten Regeln gefolgt wird, und sie erzeugen eine bestimmte Emotionalität in den Individuen, die die Form von confidence, einem Vertrauen darin, das Richtige zu tun, annimmt. Als Teleoaffektivität bestimmt diese in dauerhafter Weise das, was für die Individuen relevant ist, wozu unter anderem die regelmässige Durchführung des Rituals gehört. Beide beobachteten Beispiele sind durch eine geplante Ritualisierung seitens der Anbieter der Rituale geprägt, die für einen standardisierten Vollzug unter Befolgung der jeweiligen religiösen Vorgaben die notwendigen Räumlichkeiten, Infrastrukturen, Personal und Know-How bereitstellen.

Ein Unterschied besteht in der Niederschwelligkeit: Während die Celebrations von den erstmals Teilnehmenden wenig Kompetenzen abverlangen und die erfolgreiche Partizipation nicht in einem körperlichen Training bedingt ist, ist die Zen-Meditation anspruchsvoller: Übung ist notwendig, um die geforderten Positionen ohne grösseres Leiden für eine längere Zeit einnehmen zu können. An der Niederschwelligkeit scheint allerdings auch dort insofern gearbeitet zu werden, als dass diese Angewöhnung in kollektive Praktiken mit expliziter Emotionalität eingebettet ist, die weniger Kompetenzen abverlangt und ein schrittweises Heranführen an das Ziel der Einzelmeditation ermöglicht.

Die Etablierung einer Disposition, die eine Durchführung der Meditation auch ausserhalb der Gruppe wahrscheinlich macht, ist zeitraubend, während die unmittelbaren Anreize der Celebration bei Vielen bereits beim ersten Mal zum Zuge kommen dürften. Ähnlich lange wie das Erarbeiten des „Zen Habitus“ dauert im Fall des Evangelikalismus wohl das Antrainieren der Disposition, sich zu einer Gemeinschaft zu zählen und einem christlichen Ethos auch ausserhalb des Rituals zu folgen. Dazu wird in der besagten Tradition weniger wie im Zen-Beispiel auf die Übernahme körperlicher Fähigkeiten als auf die Übernahme bestimmter, gemeinschaftlich verankerter und vermittelter Symboliken gesetzt. Auf die so vollzogene Gemeinschaftsbildung wird im Kap. 4 eingegangen.