In diesem Kapitel werden neben Durkheims Grundmodell des Zusammenhangs religiöser Rituale und sozialer Ordnung die für die vorliegende Untersuchung zentralen begrifflichen Grundlagen geklärt. Obwohl definitorische Diskussionen langwierig sind und vom direkt relevanten Forschungsgegenstand zunächst einmal ablenken, können die damit verbundenen Problematiken nicht dadurch umgangen werden, dass sie nicht expliziert werden (vgl. Goody 1961: 142). Begrifflichkeiten und Theorien haben den Anspruch, die Thematisierung sozialer Zusammenhänge anzuleiten. Die Einsicht in die Perspektivität des wissenschaftlichen Umganges muss mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Reflexivität dieses Umganges verbunden sein. Die Thematisierung verwendeter Begrifflichkeiten ist jedoch mehr als nur Problembehandlung, sie leistet auch den Anschluss an bestehende Forschung. Durch die Orientierung an bestimmten Begriffsverständnissen werden einzelne Studien, ob sie nun empirisch oder theoretisch ausgerichtet sind, Teil der wissenschaftlichen Diskussion.

2.1 Durkheims Grundmodell

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung sind Emile Durkheims Formes élémentaires de la vie religieuse, auf sie wird im Verlauf der Analysen immer wieder zurückzukommen sein. Als erstes gilt es, einen Überblick über Durkheims religionssoziologisches Werk zu gewinnen, mit besonderer Berücksichtigung der Formes und Durkheims frühem Klassiker, der Division.

2.1.1 De la division du travail social

Emile Durkheim legte mit dem 1893 erschienenen Buch „De la division du travail social“, deutsch „Über soziale Arbeitsteilung“ (1992), ein für die Soziologie grundlegendes Werk vor, das von manchen als erster Klassiker der SoziologieFootnote 1 bezeichnet wird, von anderen aber auch als „his weakest work“ (Lévi-Strauss, Claude 1945: 513). Die Forschungsfrage des Werkes ist, so Durkheim (1992: 82, 1986a: XLIII)Footnote 2 im Vorwort zur ersten Auflage die Frage „nach den Beziehungen zwischen der individuellen Persönlichkeit und der sozialen Solidarität“. Im Zentrum steht dabei eine Unterscheidung zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Formen des sozialen Zusammenhaltes, nämlich der mechanischen und der organischen Solidarität. Erstere konstatiert er für Gesellschaften, die, durchaus an Tönnies’ Unterscheidung erinnernd,Footnote 3 auf gemeinschaftlichen Bindungen und damit auf der Gleichheit ihrer Mitglieder beruhen.Footnote 4 Organische Solidarität hingegen ist gesellschaftlich konstituiert und beruht auf der Koordination zwischen ungleichen Gesellschaftsgliedern in Form sozialer Arbeitsteilung.Footnote 5 In seiner Charakterisierung dieser Form von Solidarität legt er ein Konzept von Moderne vor, das er bis am Schluss beibehält: gesteigerte Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung und berufliche Spezialisierung (vgl. Müller und Schmid 1992: 511). Gleichzeitig scheint jedoch bei Rezipienten Einigkeit darüber zu bestehen, dass es Durkheim nicht gelang, zu zeigen, wie organische Solidarität funktionierte (vgl. z. B. Meier 1995: 138). Dagegen kommt seiner Charakterisierung mechanischer Solidarität breite Zustimmung zu (vgl. z. B. Pope und Johnson 1983; Collins 2004: 117). Für die Frage nach den Wirkungen von religiösen Ritualen in gemeinschaftlichen Zusammenhängen ist sie damit ein vielversprechender Ausgangspunkt und, obwohl Durkheim kaum mehr auf die Begrifflichkeit oder die Division als Werk verweist, auch für das Verständnis seines Spätwerkes wichtig.

Zusammenfassend lässt sich die Stärke sozialer Bindungen unter Bedingungen mechanischer Solidarität mit Durkheim über drei Variablen charakterisieren (vgl. Lukes 1975a: 151): Erstens geht es um das Grössenverhältnis und die Deckung zwischen dem gemeinsamen und dem individuellen Bewusstsein (vgl. z. B. Durkheim 1992: 182, 100). Mit der zweiten Variable ist die Intensität der Zustände der Gruppe zu fassen, die, je höher sie ist, desto weniger Platz für individuelle Divergenzen lässt. Drittens wird der Grad der Determiniertheit dieser Zustände gefasst (vgl. z. B. Durkheim 1992: 205, 124 f.). Diese drei Faktoren erzeugen jeweils eine Vereinheitlichung von Denken und Handeln, was zu einer starken „conscience collective“, einem starken KollektivbewusstseinFootnote 6 führt. Dieses ist durch die Unmittelbarkeit der Beziehung des Individuums zum Kollektiv und ein schwach oder segmentär intern differenziertes soziales Ganzes (vgl. Durkheim 1992: 230, 150) gekennzeichnet. Religion spielt in der mechanischen Solidarität eine umfassende Rolle, sie entspreche, so Durkheim „einem zentralen Bereich des Kollektivbewusstseins“ (Durkheim 1992: 224, 143).

Moderne Gesellschaft hingegen sei nicht durch mechanische, sondern durch organische Solidarität geprägt. Zentrales Merkmal dieser Form von Solidarität sei die Arbeitsteilung. Diese sah Durkheim nicht als ein bloss auf die Wirtschaft beschränktes Phänomen, sie zeitige ebenfalls in anderen Bereichen der Gesellschaft wie der Politik oder dem Recht, aber auch in der Kunst Folgen. Auch die Wissenschaft sei betroffen, Durkheim verweist auf die Philosophie, die keine einheitliche Disziplin mehr darstelle, sondern in eine Vielzahl von Spezialdisziplinen fragmentiert sei, jede mit ihrem Gegenstand und ihrer Methode (vgl. Durkheim 1992: 84, 2). Durkheim fragt danach, ob Arbeitsteilung für die Gesellschaft integrative (wie z. B. Adam Smith vermutete) oder disruptive (wie von Marx und dem Sozialismus geahnte) Konsequenzen habe. Fest steht für ihn, dass unter den Bedingungen der Arbeitsteilung das Kollektivbewusstsein zurückgeht: „[\(\ldots \)] die Rolle des Kollektivbewusstseins [verringert sich] in dem Mass, in dem sich die Arbeit teilt.“ (1992: 433, 356). Daraus schliesst Durkheim aber nicht, dass die Solidarität verschwindet: Im Vorwort zur ersten Auflage betont er (1992: 82, XLIII) vielmehr, dass mit diesem Rückgang die Autonomie des Individuums steige, gleichzeitig aber die Solidarität sogar zunehme. Das sei ein scheinbarer Widerspruch, den aufzulösen Durkheim sich zur Aufgabe machte.

Dass ihm dies gelungen ist, wird bezweifelt. Zahlreiche Rezipienten scheinen sich mehr oder weniger einig darin zu sein, dass es Durkheim nicht gelang, Klarheit über die von ihm angenommene Erzeugung von Solidarität in arbeitsteiligen Gesellschaften zu gewinnen (vgl. z. B. Rüschemeyer 1985: 175; Tyrell 1985: 182; eine Übersicht: Müller und Schmid 1992: 493).Footnote 7 Die Division sei „far from being complete or clear in many of its essential points“ urteilt auch Talcott Parsons (1949: 308), ähnlich fällt die Einschätzung von Lukes (1975a: 166) aus.Footnote 8

Klar scheint, dass Durkheim nicht einer einzelnen Institution wie dem Staat die Fähigkeit zusprach, Solidarität zu erzeugen. Diesbezüglich kritisierte er ausdrücklich Auguste Comte: Die mit der Arbeitsteilung einhergehende Diversität könne nicht durch zentrale Lenkungsmassnahmen eines politischen Akteurs wieder in Einheit überführt werden (vgl. Durkheim 1992: 430, 352). Und selbst wenn sich eine solche Einheit identifizieren liesse, wäre sie zu schwach und zu allgemein, als dass sie eine durch Differenzierung geprägte Gesellschaft tatsächlich strukturieren könnte. Viel eher würde sich ein „spontane[r] Konsensus der Parteien“ (Durkheim 1992: 429, 351; Hervorhebung im Original) einstellen, wobei dieser in der Interaktion in den verschiedenen ausdifferenzierten Teilbereichen der Gesellschaft erzeugt werde. Ein umfassender sozialer Konsens, wie er gemäss anderer Konzeptionen von einer zentralen Institution hergestellt werden müsste, scheint für Durkheim also gar keine Bedingung für Solidarität und die Verhinderung von Anomie im Sinne von Regellosigkeit zu sein. So sieht er auch keine Notwendigkeit dafür, dass die Individuen sich mit einem umfassenden Sinn der Gesellschaft identifizierten. Die Arbeitsteilung führe automatisch dazu, dass sich die Individuen in die für sie wichtigen sozialen Beziehungen einfügten. Der Einblick in den Sinn dieser Zusammenhänge würde sich jeweils in der Ausübung dieser Einbindung einstellen – so am Beispiel der Wissenschaft:

„Damit die Wissenschaft eine Einheit wird, ist es nicht nötig, dass sie zur Gänze im Blickfeld ein und desselben Bewusstseins liegt – was im übrigen unmöglich ist –, es genügt, dass alle, die sie pflegen, fühlen, dass sie am gleichen Werk mitarbeiten.“ (Durkheim 1992: 440, 365)

An anderen Stellen der Division sieht Durkheim aber doch noch eine gewisse Rolle für ein Einheitsbewusstsein vor. Das Kollektivbewusstsein schwinde, so Durkheim (1992: 227, 146) nicht völlig, werde jedoch stark verallgemeinert und lasse Raum für die Individualität der Menschen. Das Individuum, das in seiner Differenziertheit zentrales Element der organischen Solidarität sei, werde nun zum „Gegenstand einer Art von Religion“ (Durkheim 1992: 227, 147), die Durkheim (1992: 228, 147) auch als „Kult des Individuums“ (culte de l’individu) bezeichnet.

Neben den Verweisen auf diesen Kult und das dezentrale Einspielen von Solidarität in einer arbeitsteiligen Gesellschaft bietet Durkheim im Vorwort der zweiten Auflage der Division einen weiteren Antwortansatz auf die Frage nach dem Zusammenhalt moderner Gesellschaft, nämlich die Wichtigkeit von Organisationen, die sich entlang der Arbeitsteilung bilden: So sah er Berufsgruppen als neue Träger der Solidarität, sie würden solidarische Beziehungen hervorbringen, die konstitutiv mit der Arbeitsteilung verbunden seien und als intermediäre Gruppierungen, die arbeitsteilig untereinander vermittelt seien, den sozialen Zusammenhalt förderten.

Zwischen den Interpreten Durkheims besteht Uneinigkeit in der Frage, ob die Division die Grundlage für die folgenden Werke Durkheims darstellt (so z. B. Giddens 1995: 79) oder von diesem gänzlich beiseite gelegt wurde (so z. B. Müller und Schmid 1992). Zentrale Begrifflichkeiten wie „Kollektivbewusstsein“, „organische“ und „mechanische Solidarität“ liess er nach der Division zwar fallen; das heisst jedoch nicht, dass er mit den Begriffen die dahinter stehenden Konzepte verabschiedete (vgl. Tyrell 1985: 198). So könnte in den Formes der Begriff des Kollektivbewusstseins problemlos eingefügt werden. Unbestreitbar ist auf jeden Fall, dass sich Durkheim in seinem späteren Werk weiterhin der Frage nach der Beziehung zwischen struktureller Differenzierung und sozialer Ordnung widmet.

2.1.2 Zwischen Division und Formes

In der vorliegenden Untersuchung wird der Fokus auf der Division und den Formes liegen. In der langen Karriere dazwischen finden sich jedoch mindestens zwei Monographien, die einen beinahe ebenso grossen Einfluss auf die Soziologie ausgeübt haben.

Dies einerseits in den methodologischen und methodischen Ausführungen in Les règles de la méthode sociologique (1895, deutsch 1961), in denen er Konzepte wie dasjenige der sozialen Tatsache (fait social) oder des Kollektivbewusstseins (conscience collective) klärt. Andererseits in der empirischen Studie über Selbstmord, Le suicide: étude de sociologie von 1897 (im Folgenden zitiert nach 1990a; deutsch 1973), in der er nach den Ursachen von Suizid fragt. Einen engen Bezug sieht er dabei zu religiöser Zugehörigkeit: Je nach religiöser Tradition wirke Religion stärker integrierend, was zu einer geringeren Selbstmordrate führe. Gerade der Protestantismus, der die „freie Prüfung“ (libre examen) zum Standard erhebe und in dem die kritische Hinterfragung von Tradition die Regel darstelle, integriere weniger stark, weshalb – Durkheim verweist zum Beleg auf statistische Daten – die Selbstmordrate unter Protestanten höher sei als bei Katholiken (vgl. Durkheim 1973: 162, 159). Durkheim betont also die integrierende Wirkung von Religion, sieht aber ausdrücklich auch funktionale Äquivalente dazu, so z. B. die Familie oder politische Zugehörigkeiten (vgl. Durkheim 1973: 224, 222).

Die Betonung der Relevanz von Religion in Suicide ist Teil einer Entwicklung, in der Religion als Thema in Durkheims Soziologie einen immer prominenteren Platz einnimmt. Bereits in der Division spielt Religion eine Rolle, diese Relevanz steigt jedoch bis zu seinem Spätwerk an. Es stellt sich die Frage, wie es zu dieser verstärkten Betonung und dem Rückgriff auf Religion und Ritual zur Beantwortung der Frage nach sozialer Ordnung kam. Die Antworten darauf und die Meinungen dazu sind unterschiedlich.

Durkheims Interesse für Religion ist in seinem Kontext zu sehen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wächst die Relevanz von Religion als ethnologischem, philologischem, historischem und soziologischem Gegenstand. Wichtiger Faktor davon dürften im Fahrwasser des Kolonialismus erfolgende „Entdeckungen“ fremder religiöser Traditionen, die Übersetzung ihrer Schriften sowie die Auseinandersetzung mit „schriftlosen“ Völkern in den kolonialisierten Gebieten dargestellt haben.Footnote 9 Letzteres prägte vor allem die Ethnologie und damit Autoren wie James George Frazer (1976, erstmals 1899) oder Baldwin Spencer und James Gillen (1899, 1904), die einen direkten Einfluss auf den späten Durkheim ausübten. Auch bei Historikern findet sich jedoch die Anerkennung des Faktors Religion, z. B. bei Fustel de Coulanges, einem einflussreichen Lehrer Durkheims.

Durkheims Zuwendung zum Thema Religion wird gelegentlich als dramatischer Vorgang geschildert: So soll 1895 die berühmte révélation stattgefunden haben, die verschiedentlich als entscheidender Umschwung in Durkheims Soziologie gefeiert wird. Identifiziert hat Durkheim diese révélation selbst, dies allerdings erst retrospektiv im Jahr 1907 und zwar in einer Reaktion auf Kritik an seiner Person und seinem Werk, die zu jener Zeit laut geworden war: Durkheim wurde zu der Zeit zur Zielscheibe römisch-katholischer Kritiker, die der Meinung waren, Durkheim mache aus der Gesellschaft und damit einer in ihren Augen profanen Sache eine höchst metaphysische Angelegenheit. Dies wurde mit einer politischen Kritik ergänzt: Durkheim würde deutsche Theorie, nämlich Wilhelm Wundt, bei dem er in seiner Zeit in Leipzig studiert hat, reproduzieren, was vor dem 1. Weltkrieg in Frankreich ein sehr gewichtiger Vorwurf war. In Antwort auf diese Kritik betonte Durkheim 1907, dass es vielmehr ein britischer Wissenschaftler, nämlich Robertson Smith war, der ihn ab 1895 stark beeinflusst habe. Durkheim spricht diesbezüglich selbst von einer révélation (vgl. Pickering 2009: 61), da Robertson Smith ihn zu einer intellektuellen Konversion, zur Anerkennung der Wichtigkeit von Religion inspiriert habe. Genauer spezifizierte Durkheim die Folgen dieser révélation jedoch nicht. Wie schlagartig und umfassend sie auch gewesen sein mag, Auslöser seiner neuen oder zumindest stärkeren Betonung von Religion dürfte eine Vorlesung Durkheims zum Thema Religion gewesen sein, bei deren Vorbereitung er sich 1894–1895 ausführlich mit ethnographischer Forschung und den Werken Robertson Smiths und Frazers beschäftigte (vgl. Jones 1993: 32; Lukes 1975a: 237–241). Die Schriften Robertson Smiths zur sozialen Funktion totemistischer Rituale trugen an Durkheim wohl eine neue Perspektive heran, führten ihn aber auch zur Ausarbeitung bereits bestehender Ansätze in der Auseinandersetzung mit Religion (vgl. Lukes 1975a: 238): Wie Kuper (1985: 225) zeigt, war Durkheim schon zehn Jahre vor 1895 mit angelsächsischer Literatur zum Totemismus vertraut.

Neben diesem Einfluss durch die englische frühe Anthropologie dürfte die Zusammenarbeit mit dem Milieu der Année sociologique, seinen Schülern, insbesondere Marcel Mauss und Henri Hubert, aber auch Robert Hertz entscheidend für Durkheims Religionssoziologie gewesen sein, was in der Rezeption oft vernachlässigt wird (vgl. Moebius 2012: 618). Gerade Mauss, darauf lassen die Ausführungen von Moebius (2012: 623) schliessen, dürfte dabei als Bindeglied zwischen Durkheim und der englischen Anthopologie fungiert haben. Aufgrund seiner breiten Sprachkenntnisse und Reisetätigkeit war Mauss mit der religionswissenschaftlichen und ethnologischen Forschung allgemein vertrauter.

Ganz abgelehnt wird die révélation von Meier (1995: 130–131), der die Rede vom Bruch mit dem Hinweis darauf anzweifelt, dass bereits der frühe Durkheim Religion nicht individualistisch, intellektualistisch oder über den Bezug auf bestimmte symbolische Elemente wie Götter definiert habe.Footnote 10 Bereits in Aufsätzen vor der Division habe Durkheim die Bedeutung von Religion als sozialer Tatsache bemerkt (vgl. auch Wallwork 1984: 45). Mit entsprechenden Ideen dürfte Durkheim schon früh in Kontakt gekommen sein und dies nicht via ethnographische Berichte und ethnologische Analysen, sondern durch Historiker. Gerade beim oft als einer von Durkheims Lehrern genannten Numa Denis Fustel de Coulanges finden sich an den späten Durkheim erinnernde Konzepte hinsichtlich des Beitrages von Religion für den sozialen Zusammenhalt. So beispielsweise in der Annahme, dass der soziale Zusammenhalt der Familie der Religion geschuldet sei: Religion würde via Ahnenverehrung die moralischen Regeln installieren, die diesen Zusammenhalt garantierten und Rituale, so bemerkte bereits Fustel, würden ihnen ihre Geltung verleihen (vgl. Jones 1993: 41). Während vor allem der frühe Durkheim kritisch gegenüber solchen umfassenden Funktionszuschreibungen zumindest bezüglich moderner Gesellschaft war, sind die Parallelen zum Durkheim der Formes offensichtlichFootnote 11, wenn sich auch einige Unterschiede finden: So spielte in Fustels Konzeption durch die Betonung der Ahnenverehrung die individuelle Unsterblichkeit eine grosse Rolle, während bei Durkheim, der in verschiedensten Schriften die Rolle individueller Sinnprobleme für Religion als höchstens sekundär bezeichnete, die Gemeinschaft in den Vordergrund rückte (vgl. Jones 1993: 34) – eine Position, für die wiederum die britische Sozialanthropologie eine wichtige Referenz darstellte.

Auch wenn eine schlagartige Erkenntnis der Relevanz von Religion unwahrscheinlich scheint, ist entscheidend, dass mit Robertson Smiths ethnologischen Berichten Daten zur Basis von Durkheims Argumentation wurden, die er bisher ignoriert und einst sogar als „wirre[.] und flüchtige[.] Beobachtungen von Reisenden“ (Durkheim zitiert in Meier 1995: 139) bezeichnet hatte. Ebenfalls dürfte Robertson Smith zu einer Neubeurteilung der von Durkheim einst abgelehnten grundlegenden Funktion von Religion auch in modernen Gesellschaften geführt haben. Dieser Wandel wurde wohl auch von Veränderungen ausserhalb der Wissenschaft begünstigt. Neben dem Kolonialismus spielte auch die Situation in Europa selbst eine Rolle: Die steigende Relevanz von Religion als wissenschaftliches Thema ging mit der politischen Problematisierung ihrer Rolle für Staat und Öffentlichkeit einher, einer Diskussion, die in Frankreich ihren Kulminationspunkt in der Dreyfus-Affäre hatte, in der Durkheim wiederum eine wichtige Rolle spielte (vgl. Moebius 2012: 622). Die dritte Republik, die den Kontext von Durkheims Soziologie prägte, war in drei unvereinbare politische Lager geteilt: Konservative und Radikale kämpften gegen Republikaner, wobei die einen für eine monarchische Restauration, die anderen für eine sozialistische Revolution kämpften. Ein entsprechendes Krisenbewusstsein führte zur Frage nach der Möglichkeit von Einheit – Krech und Tyrell schliessen:

„Durkheims Religionssoziologie reagiert auf den das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in Frankreich, zumal soziologisch, geltend gemachten Mangel und Bedarf an gesellschaftlicher ‚Einheit‘ und institutioneller Stabilität.“ (Krech und Tyrell 1995: 48)

Die ethnologische „Entdeckung“ neuer Gegenstände vereinigte sich mit den in Europa präsenten Diskussionen um die Möglichkeit von Einheit angesichts sozialer Ungleichheit. Adam Kuper zieht, hinsichtlich der Frage, was der tatsächliche Gegenstand der daraus entstehenden Auseinandersetzung war, einen radikalen Schluss:

„The anthropologists took this primitive society as their special subject, but in practice primitive society proved to be their own society (as they understood it) seen in a distorting mirror.“ (Kuper 1988: 5)

Nicht nur die Fragestellung der damaligen Ethnologie sei von der eigenen Gesellschaft angeleitet worden, auch die „primitiven Gesellschaften“ seien als blosse Projektionen des Eigenen zum Untersuchungsgegenstand geworden.

2.1.3 Les formes élémentaires de la vie religieuse

Bereits Passagen in der Division lassen erkennen, dass aus Durkheims Sicht Religion und Rituale für die Erzeugung zumindest der mechanischen Solidarität zentral sind. Wie bereits erwähnt hat er sich in dieser Phase seines Werkes aber dem Thema Ritual nicht gewidmet (vgl. Wallwork 1984: 47), dies geschah erst in seinem Spätwerk, den Formes élémentaires de la vie religieuse, also den „Elementaren Formen des religiösen Lebens“, von 1912, in denen er sie als zentralen Vorgang der Herstellung von Solidarität identifiziert.Footnote 12 Dabei stellte er die Frage nach der Erzeugung des Sozialen in all ihrer Grundsätzlichkeit. Im Zentrum ihrer Beantwortung standen „primitive Gesellschaften“, gemeinschaftlich organisierte Stammesgesellschaften der Aborigines in Australien – ein für Soziologen ungewohnter Gegenstand.Footnote 13 Im Hintergrund stand für Durkheim aber die Suche nach der Erklärung der Erzeugung von Solidarität in modernen Gesellschaften.

Als Grund für diese Wahl führt Durkheim an, dass sich bei den Aborigines in elementaren und einfachen Formen erkennen lässt, was auch komplexere Verhältnisse prägt, dort aber schwieriger zu identifizieren ist. So sei das, was sich in den „Hochreligionen“ findet, auch bei den „primitiven“ Arunta oder Dieri vorhanden. Beispielsweise handelt es sich bei religiösem Opfer nicht um „ein spätes Produkt der Zivilisation“ (Durkheim 1994: 462, 489), bereits das Intichiuma enthalte „die Keime des Opfersystems“. Während in modernen Gesellschaften der „Grund des religiösen Lebens unter der verschwenderischen Vegetation“ (Durkheim 1994: 22 f., 7) verschwindet, ist er in den elementaren Formen einfacher zu erkennen. Dementsprechend will Durkheim (1994: 556, 593) über die Untersuchung des „Einfachen“ die Grundmuster eruieren, die sich auch im „Komplexen“ finden lassen. Als ursprünglichste Form der Religion identifiziert Durkheim nach einer Diskussion von Animismus und Naturismus den Totemismus, den er über Verweise auf Ethnologen wie MacLennan, Robertson Smith und Frazer als „System mit einer gewissen Allgemeingültigkeit“ (Durkheim 1994: 128, 125) identifiziert.Footnote 14 Das Hauptaugenmerk legt er dabei auf Australien. Bei der amerikanischen indigenen Bevölkerung würden sich zwar Spuren des Totemismus finden, in Australien seien jedoch die noch ursprünglicheren Formen auszumachen (vgl. Durkheim 1994: 131, 128). Ethnographische Berichte, insbesondere von Spencer und Gillen, eröffnen Durkheim (1994: 136, 134) den Zugang zu systematischen Darstellungen dieser elementaren Formen. In expliziter Abgrenzung von Frazer konzentriert er sich in seiner Untersuchung auf australische Beispiele unter bloss ergänzender Berücksichtigung von Studien zu nordamerikanischen Indianern. Da, so Durkheim (1994: 136, 133), „die sozialen Fakten in Beziehung zum sozialen System [stehen], dessen Teil sie sind“, lassen sie sich nicht verstehen, wenn sie von ihrem Kontext abgetrennt in einen komparativen Zusammenhang eingeführt werden. Deshalb konzentriert er sich in den Formes auf die Aborigines. Wenn bei bestimmten Völkern die Idee des Heiligen, der Seele, der Götter eine bestimmte Realität ausdrücke, müsse wissenschaftlich angenommen werden, dass im Prinzip dieselbe Explikation für alle Völker gelte, wo sich die selben Ideen mit den gleichen Grundzügen finden. Eine solche Induktion mit einer wohldefinierten Erfahrung sei weniger kühn, als viele der Generalisierungen, die versuchen, das Wesen der Religion zu erhaschen und gar keine Religion analysieren (vgl. Durkheim 1994: 594, 634 f.).

Während Durkheim in der Division gerade die Unterschiede zwischen „primitiven“ und modernen Gesellschaften betonte, sieht er also in den Formes zwei Formen des Sozialen als vergleichbar und möchte sogar von der einen auf die andere schliessen. Immerhin sah er aber eine Betrachtung der Veränderungen, die in der Geschichte dazugekommen seien, ausdrücklich als notwendig an (vgl. Durkheim 1994: 26, 11 f.), um auf moderne Gesellschaft schliessen zu können.

2.1.3.1 Epistemologisches Interesse

Es stellt sich nicht nur die Frage, wieso sich Durkheim ausgerechnet für die Aborigines interessiert, sondern auch, wieso er sie insbesondere über die Kategorie der Religion in den Blick nimmt. Fachgeschichtliche, biographische und politische Ursachen wurden bereits genannt, Durkheim selbst begründet diesen Fokus im Einstiegskapitel aber über sein epistemologisches Interesse. Dabei schliesst er an die philosophische Diskussion um die Herkunft der Grundkategorien des Denkens an:

„An der Wurzel unserer Urteile steht eine bestimmte Anzahl von wesentlichen Begriffen, die unser ganzes intellektuelles Leben beherrschen; es sind die Begriffe, die die Philosophen seit Aristoteles die Kategorien des Urteilvermögens nennen: Zeit, Ort, Substanz, Quatität [sic], Relation, Tätigkeit, Leiden, Verhalten, Befinden. Sie entsprechen den allgemeinsten Eigenschaften der Dinge. Sie sind die festen Regeln, die den Gedanken einengen; der Gedanke kann sich nicht davon lösen, ohne sich selbst zu zerstören, denn es scheint nicht möglich zu sein, von Dingen anzunehmen, dass sie ausserhalb von Zeit und Raum oder unzählbar seien.“ (Durkheim 1994: 27 f., 12 f.)Footnote 15

Er kontrastiert Positionen, in denen der Ursprung dieser Kategorien in der Erfahrung gesehen wird, mit solchen, die sie als a priori, ausser der Erfahrung stehend, sehen. Er selbst bietet nun eine ganz andere, soziologische Antwort. Auf der Suche nach dem Ursprung der Kategorien kommt Durkheim auf Religion:

„Wenn man die primitiven religiösen Glaubensvorstellungen analysiert, begegnet man zwanglos den hauptsächlichsten dieser Kategorien. Sie sind in der Religion und aus der Religion entstanden; sie sind das Produkt des religiösen Gedankens.“ (Durkheim 1994: 28, 13)

Religion sieht Durkheim wiederum als grundlegend soziale Angelegenheit. Das heisst, seine Antwort auf die Frage nach den Kategorien lautet: Sie sind ein Produkt des sozialen Lebens. Nicht das Bewusstsein, sondern die Geschichte muss nach ihnen befragt werden. Entsprechend sind sie nicht a priori gegeben, sie lassen sich durch soziologische Analyse in ihrer Entstehung erfassen:

„Die Kategorien hören also auf, als nichtanalysierbare Urfakten angesehen zu werden.“ (Durkheim 1994: 41, 27)

Und da gemäss Durkheim (1994: 27, 12) die ersten „Denksysteme [systèmes de représentations], die sich der Mensch von der Welt und von sich selbst gemacht hat“, religiösen Ursprungs sind, sind die ursprünglichsten Formen des Sozialen und auch der Kategorien in möglichst elementaren Religionen zu finden. Unter dieser Voraussetzung klärt er zunächst das Religionsverständnis und analysiert dann das, was ihm als „elementare“ Religion vorkam und zugänglich war. Damit ist Vernunft für Durkheim keine Angelegenheit a priori oder individueller Erfahrung, sondern ein Produkt des sozialen Lebens. Damit stehe sie weder ausserhalb der Natur noch ausserhalb wissenschaftlicher Erforschung und ihre Herstellung wird soziologisch, im Fall der Aborigines über den Gegenstand Religion, analysierbar (vgl. Durkheim 1994: 35, 21). Somit gründet Durkheim auf den Formes mehr als eine Religionssoziologie, nämlich eine ganze Epistemologie, so die Betonung von Rawls (2004). In den Worten Schluchters (2009) kann davon die Rede sein, dass Durkheim damit Kant soziologisiert.

2.1.3.2 Religionsverständnis

Neben dem epistemologischen Aspekt der Formes soll der Fokus auf ihren Implikationen für eine auf religiöse Gemeinschaften bezogene Ritualtheorie liegen. In den ersten Kapiteln der Formes identifiziert Durkheim Religion als Erzeugungs- und Erhaltungsprinzip des sozialen Lebens und des menschlichen Denkens. Bevor er dazu eine eigene Religionsdefinition entwirft, argumentiert er gegen andere Definitionsstrategien: einerseits gegen diejenige, Religion über das Übernatürliche zu definieren (vgl. z. B. Durkheim 1994: 49, 36) und andererseits gegen Definitionsversuche, die Religion an Gottesvorstellungen festmachen.

Von zentralem Stellenwert für sein Konzept und für die Struktur der Formes ist dabei folgende Differenzierung:

„Die religiösen Phänomene kann man auf natürliche Weise in zwei Kategorien aufteilen: die Glaubensüberzeugungen und die Riten. Die ersten sind Meinungen: sie bestehen aus Vorstellungen; die zweiten sind bestimmte Handlungsweisen.“ (Durkheim 1994: 61, 50)

Diese Unterscheidung zwischen „pratiques“ und „croyances“ findet sich bereits in der Division an zentraler Stelle und zwar bei der Charakterisierung mechanischer Solidarität (vgl. Durkheim 1992: 434, 357). Wie François Héran (1986: 247) zeigt, stand Durkheim mit dieser Unterscheidung in einer langen Tradition: Sie lässt sich bei Autoren wie Fustel de Coulanges, Hegel, Bergson und nach Durkheim auch Lévi-Strauss als Vehikel von Wertungen und Taxierungen ganzer Zivilisationen vorfinden, so über die Gegenüberstellung von Rationalität und Ritual, die parallel zur Kontrastierung zwischen Griechenland und Rom gesetzt wurde. Auch bei Robertson Smith (1927: 16), von dem entscheidende Wirkungen auf Durkheims späte Religionssoziologie ausgegangen sind sowie Frazer (1994: 72–73), mit dem sich Durkheim in den Formen ausführlich auseinandersetzt, charakterisieren Religion über die Unterscheidung zwischen Glaube und Handeln.

Diese Unterscheidung bringt Durkheim mit einer weiteren, nämlich derjenigen zwischen heilig (sacré) und profan (profane), zusammen:

„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.“ (Durkheim 1994: 75, 65)Footnote 16

Dazu gesellt sich eine funktionale Bestimmung von Religion, nämlich, dass sie zu moralischer Gemeinschaft führt.Footnote 17 Damit unterschiedet Durkheim Religion von Magie, die sich auch mittels Überzeugungen und Handlungen um heilig und profan dreht, aber keine Solidarität konstituiert.Footnote 18

2.1.3.3 Glaubensvorstellungen

Um eine Religion zu verstehen, so Durkheim (1994: 143, 141), müsse man die Ideen verstehen, auf denen sie beruhe. Im Zentrum der religiösen Vorstellungen der Aborigines sieht Durkheim das Totemtier, dieses ist zwar Gegenstand des Kultes, zum Glauben daran führt jedoch nichts, was dem Objekt intrinsisch wäre. Durkheim (1994: 284, 294) fragt: „Das Totem ist also vor allem ein Symbol, ein materieller Ausdruck von etwas anderem. Aber wovon?“ Einige Zeilen später gibt Durkheim die Antwort:

„Wenn es [das Zeichen, mit dem sich die Klane voneinander unterscheiden, Anm. RW] also sowohl das Symbol des Totems wie der Gesellschaft ist, bilden dann nicht Gott und die Gesellschaft eins?“ (Durkheim 1994: 284, 295)

Das Totem, oder, in Religionen in denen er die zentrale Rolle spielt: Gott, ist die Idealisierung der Gesellschaft. Dieses Ideal nimmt dabei die Form von Repräsentationen an, die gleichzeitig etwas von sich verschiedenes darstellen, nämlich die Gesellschaft und dabei ein aktives Moment sind, indem sie das von ihnen repräsentierte gleichzeitig auch konstituieren. So stellt das Totem den Klan dar und wird im Handeln und Denken seiner Mitglieder zum eigentlichen Bezugspunkt, da der Klan selbst eine zu abstrakte Grösse ist (vgl. Durkheim 1994: 302, 315). Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Totemwesen gibt die Grenzen zwischen Klanen wieder. Die Symbolik verkörpert damit die sozialen Verhältnisse. In wenig differenzierter Form wird der Totemismus durch unpersönliche Kräfte bestimmt, wie z. B. „mana“, daneben gäbe es aber auch einen „Individualtotemismus“, eine Symbolik, die das Individuum bezeichnet, aber gleichzeitig von der kollektiven Symbolik abhängig ist.

Unabhängig davon, ob eine Gesellschaft mehr oder weniger differenziert ist, zieht Durkheim in seiner Konklusion den Schluss:

„Eine Gesellschaft kann nicht entstehen, noch sich erneuern, ohne gleichzeitig Ideales zu erzeugen. Diese Schöpfung ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit der sie sich ergänzt, wenn sie einmal gebildet ist, es ist der Akt, mit dem sie sich bildet und periodisch erneuert.“ (Durkheim 1994: 565, 603)

2.1.3.4 Rituale

Die Autorität dieser Ideale als Symbolisierung des Sozialen, ihre moralische Kraft im Sinne Durkheims, schöpft sich aus der Emotionalität, mit der sie verbunden werden. Für die Erzeugung dieser Emotionen ist die Versammlung der Gruppenmitglieder notwendig:

„Damit die Gesellschaft sich ihrer bewusst werden kann und dem Gefühl, das sie von sich hat, den nötigen Intensitätsgrad vermitteln kann, muss sie versammelt und konzentriert sein.“ (Durkheim 1994: 565, 603)

Die einzelnen Familien des Stammes gehen normalerweise getrennt ihrem Leben nach, das durch Nahrungsbeschaffung geprägt ist. Dazwischen liegen jedoch Phasen, in denen sich der Stamm auf engem Raum versammelt, was emotionale Folgen zeitigt:

„Nun wirkt aber die Ansammlung allein schon wie ein besonders mächtiges Reizmittel.“ (Durkheim 1994: 297, 308)

Solche periodischen Versammlungen geschehen im Rahmen von Ritualen:

„Die Tradition, deren Erinnerung sie verewigt, besteht aus der Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft den Menschen und die Welt vorstellt. Sie ist Moral und Kosmologie und zugleich Geschichte. Der Ritus dient also dazu, und kann nur dazu dienen, die Lebendigkeit dieser Überzeugungen zu erhalten; zu verhindern, dass sie aus dem Gedächtnis schwinden, d.h. im ganzen genommen, die wesentlichsten Elemente des kollektiven Bewusstseins wiederzubeleben. Durch ihn erneuert die Gruppe periodisch das Gefühl, das sie von sich und von ihrer Einheit hat.“ (Durkheim 1994: 504 f., 536)

Diese Kollokalität ist mit einer Bestimmtheit des Handelns durch die Gemeinschaft verbunden, die zu einer Koordination der Handelnden und in Verbindung damit einer Einheit im Denken und Fühlen führt, insbesondere während Ritualen:

„Darum hat der Befehl im allgemeinen kurze, schneidende Formeln, die dem Zaudern keinen Platz lassen. In dem Mass, in dem er nur als Befehl auftritt und nur durch seine eigenen Kräfte wirkt, schliesst er jeden Gedanken an Überlegung und an Berechnung aus. Der Wirkungsgrad des Befehls hängt von der Intensität des Geisteszustands ab, in dem er gegeben wird. Diese Intensität ist es, die das ausmacht, was wir moralischen Zwang nennen.“ (Durkheim 1994: 286, 296 f.)

Die Gesellschaft fordert von den Individuen Dinge, ohne die sie nicht existieren könnte, und führt dabei zu Verpflichtungen, die nicht gemacht und nicht gewollt sind und den fundamentalen Instinkten zuwider laufen. Die Überzeugung verläuft aber nicht einfach über Zwang, sondern über den „véritable respect“ (Durkheim 1994: 296). Sie entsteht auch nicht über Einsicht und nicht über Kalkül, sondern über generelle emotionale Zustimmung. Die sich in solchen Situationen aufschaukelnden Emotionen führen dazu, was Durkheim (z. B. 1990b: 517) als „effervescence collective“, als „kollektive Efferveszenz“, bezeichnet.Footnote 19 Diese Efferveszenz ist für Religiosität unabdingbar:

„Wer eine Religion wirklich praktiziert hat, weiss genau, dass es der Kult ist, der die Freude, die innere Ruhe, den Frieden, die Begeisterung erregt, die für den Gläubigen der Erfahrungsbeweis für seinen Glauben ist.“ (Durkheim 1994: 559, 596)

Im Vollzug der Rituale findet eine Reproduktion und Idealisierung des sozialen Zusammenhanges, den sie jeweils verkörpern, statt, das Individuum wird damit an das Kollektiv gebunden:

„So existiert also eine Reihe von Zeremonien, deren einziger Zweck es ist, bestimmte Ideen und Gefühle zu erwecken, die Gegenwart an die Vergangenheit zu binden, das Individuum an die Kollektivität.“ (Durkheim 1994: 509, 541)

2.1.3.5 Heilig und Profan

Religiöse Überzeugungen unterscheiden gemäss Durkheim zwischen profan und heilig: „Wenn heilige Dinge untereinander Beziehungen der Zu- und Unterordnung haben, so dass sie ein System von gewisser Einheit bilden, das aber selbst in keinem anderen System derselben Art einbezogen ist, dann bildet die Summe der Überzeugungen und der entsprechenden Riten eine Religion.“ hält Durkheim (1994: 67, 56) fest. So kommt für Durkheim dem Totem als Zeichen eines Kollektivs gleichzeitig ein religiöser Charakter zu, da mit seiner Hilfe die Welt in religiös und profan eingeteilt wird. Die beiden Seiten schliessen einander vollständig aus und die Trennung ist absolut.

Die Unterscheidung hat einen für Religion konstitutiven Charakter, so dass sie für Durkheim auch auf den Ursprung von Religion hinweist. Zwei Dinge schliesst Durkheim zunächst, was diesen Ursprung angeht, aus: Einerseits, so Durkheims Kritik am Naturismus, könne nicht das Erleben der Natur die Ursache von Religion gewesen sein. Selbst wenn die Natur gelegentlich überwältigend wirke, werde sie doch durchwegs als etwas Profanes, Alltägliches, Kontrollierbares erlebt, weshalb sie nicht der Ausgangspunkt für die Unterscheidung heilig/profan und damit für Religion sein könne (vgl. Durkheim 1994: 122–126, 118–124). Andererseits lehnt Durkheim auch die Auffassung ab, dass die Erfahrung einer Beseeltheit der Menschen und Dinge Ausgangspunkt für Religion gewesen sei. Die Seele des Menschen spiele bei den Aborigines keine grössere Rolle (vgl. Durkheim 1994: 97, 91) und die Beseeltheit aller Objekte, die bei den Aborigines durchaus wichtiger sei, wäre eine kollektive Illusion; Religion sei zu bedeutsam um derart vollständig auf falschen Tatsachen beruhen zu können (vgl. Durkheim 1994: 103 f., 97 f.) – letzteres spricht für ihn auch gegen die naturistische Erklärung von Religion (vgl. Durkheim 1994: 117 f., 113 f.). Stattdessen sieht Durkheim die Wahrnehmung des Gegensatzes von heilig/profan aus dem Erleben von aussergewöhnlichen, efferveszenten Momenten in rituellen Situationen entstanden und dem Kontrast dieses Erlebens zur Normalität des Alltags. Dieser hinterlasse den Eindruck, dass es zwei ganz unterschiedliche, nicht miteinander vergleichbare Welten gibt (Durkheim 1994: 301, 313).

„Die Heiligkeit eines Dinges besteht, wie wir gezeigt haben, in dem kollektiven Gefühl, dessen Objekt es ist.“ (Durkheim 1994: 553, 590). Es sind also „hypostasierte kollektive Kräfte“ (Durkheim 1994: 437, 461), die zur Wahrnehmung eines Bereichs des Heiligen führen. Materielle Gegenstände können zu Verkörperungen des Heiligen werden. Die Heiligkeit ist dabei den Dingen nicht inhärent, sondern kommt ihnen zu, insofern sie in diesen kollektiven Vollzug einbezogen werden. Das heisst, dass die verschiedensten Dinge der Klasse des Heiligen zugerechnet werden können. Sind Gegenstände ins kollektive und emotionale Handeln involviert, gewinnen sie an Heiligkeit und können sie auch wieder verlieren, wenn sie Teil des alltäglichen Lebens sind.

Hinter der Vorstellung von Heiligkeit steht etwas auch wissenschaftlich nachweisbar Reales, nämlich die Gesellschaft, ihre Kraft ist es, die im Rahmen kollektiver Efferveszenz wahrgenommen und in Form von Gegenständen und Konzeptionen symbolisiert wird. Der Gegensatz zwischen dem Kollektiv und der Vereinzelung findet sich in der Unterscheidung zwischen heilig und profan wieder und konstituiert eine doppelte Natur des Menschen, eine soziale und eine egoistische:

„In ihm [dem Mensch, Anm. RW] befinden sich zwei Wesen [êtres]: ein individuelles, das seine Basis im Organismus hat und dessen Wirkungsbereich dadurch eng begrenzt ist, und ein soziales Wesen, das in uns, im intellektuellen und moralischen Bereich die höchste Wirklichkeit darstellt, die wir durch die Erfahrung kennen können: ich meine die Gesellschaft.“ (Durkheim 1994: 37, 23)

Der Gegensatz heilig/profan ist dabei nicht parallel zu positiv/negativ oder gut/böse zu sehen. Ob die Kommunion des Bewusstseins nun in Euphorie oder in starker Niedergeschlagenheit besteht, beides trägt gleichermassen zur Heiligkeit bei, innerhalb dessen sich dementsprechend positiv und negativ Gewertetes wiederfindet. Gott gilt als heilig, aber dies trifft auch auf den Teufel zu. In beiden Fällen stehen kollektive Gefühle dahinter (vgl. Durkheim 1994: 554, 591). Religion ist dabei als Einheit der Unterscheidung zwischen heilig und profan zu sehen und nicht bloss auf der Seite des Heiligen angesiedelt. Den Anfang von Religion macht die Erfahrung einer Differenz zwischen ausseralltäglichen und alltäglichen Situationen. Das Ziehen dieser Trennlinie, das entsprechende Unterscheiden der Welt ist das, was Religion ausmacht, nicht bloss die Ausarbeitung der einen Seite der Unterscheidung.Footnote 20

2.1.4 Durkheim differenzieren

Durkheim sieht Religion als Reproduktion und Idealisierung des sozialen Zusammenhanges, den sie jeweils verkörpert. An einer Stelle drückt er dies pointiert wie folgt aus:

„Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist.“ (Durkheim 1994: 561, 599).

Religion stellt dabei keine blosse Widerspiegelung sozialer Verhältnisse dar. Dies betont er noch einmal im Schlussteil der Formes, wo er sein Religionsverständnis vom historischen Materialismus abgrenzt. Zwar hänge auch in seinem Konzept Religion vom sozialen Leben ab, es handle sich aber nicht um eine blosse Übersetzung der materiellen Verhältnisse der Gesellschaft. „(\(\ldots \)) das kollektive Bewusstsein ist etwas anderes als eine einfache abgeleitete Erscheinung seiner morphologischen Basis, so wie das individuelle Bewusstsein etwas anderes ist als eine einfache Effloreszenz des Nervensystems.“ (Durkheim 1994: 567, 605). Das Kollektivbewusstsein (conscience collective) – damit verwendet er ein Konzept, das er in der Division eingeführt hat, in den Formes ansonsten jedoch nicht verwendet – ist das Resultat einer Synthese sui generis des Bewusstseins der Einzelnen.

Dieses Modell des Zusammenhanges von sozialer Ordnung und religiösen Ritualen ist Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung und seine Differenzierung ihr Ziel. Diese Differenzierung setzt am Explanandum, also dem, was erklärt werden soll, und dem Explanans, also dem Faktor, der entscheidend für die Erklärung ist und der Form der Erklärung selbst an:

  1. 1.

    Explanandum: Ausgangspunkt der Argumentation und massgeblich für die Struktur der vorliegenden Untersuchung ist die Differenzierung zwischen verschiedenen Formen von sozialen Ordnungen, wie sie im Abschn. 2.8 genauer beschrieben wird. Explanandum der Formes waren Gemeinschaften der Aborigines, die Durkheim mit dem Begriff der Gesellschaft (société) fasste, den er auch zur Bezeichnung des Frankreichs seiner Zeit verwendete. Der Begriff wird damit zu einem Vehikel der Generalisierung von Schlüssen von dem, was er als „primitive Gesellschaft“ fasste, zu dem, was auch mit Durkheim (1994: 294, 305) selbst als moderne Gesellschaft bezeichnet werden kann. In der Division hatte Durkheim selbst noch deutlich gemacht, dass es sich dabei um unterschiedliche Formen des Sozialen mit unterschiedlichen Formen der Herstellung von Solidarität handelt, in den Formes rückt diese Differenzierung zugunsten der Verallgemeinerung weitgehend in den Hintergrund.

    In der vorliegenden Untersuchung soll sie wieder einbezogen werden, weshalb die Ordnung der Gemeinschaft (Kap. 4) von derjenigen der Gesellschaft (Kap. 5) unterschieden und mit unterschiedlichen Antworten zum Einfluss religiöser Rituale gerechnet wird.

  2. 2.

    Explanans: Zudem wird von diesen zwei Ordnungen eine dritte unterschieden, nämlich Interaktion, worunter Kommunikation unter Anwesenden verstanden wird (Kap. 3). Ritual, also das Explanans in Durkheims Argumentation, wird als Form von Interaktion gesehen, die sich durch ein hohes Mass an Ritualisierung auszeichnet. Über die Diskussion eines entsprechenden Konzepts wird bereits im vorliegenden Theorieteil ein Verständnis von Ritual erarbeitet, das die eher vage Bestimmung dieses Begriffs bei Durkheim überschreitet (Abschn. 2.3). Durch die Fassung als Interaktion kann zudem an entsprechende neuere soziologische Theorien angeschlossen werden, die ihrerseits Durkheims Ausführungen zu Interaktionen in den Formes als Ausgangspunkt hatten. Interaktion ist in (Kap. 3) ihrerseits Explanandum (Wie strukturiert Ritualisierung Interaktion?), in den anderen zwei Kapiteln Explanans (Wie strukturiert ritualisierte Interaktion Gemeinschaft, bzw. Gesellschaft?).

  3. 3.

    Erklärung: Für die Diskussion des Zusammenhangs von Explanans und Explanandum wird insbesondere das Verständnis von Funktion zu diskutieren sein, das seit Durkheim zu seiner Charakterisierung verwendet, aber auch kontrovers diskutiert wird (Abschn. 2.4). Die vorliegende Arbeit reiht sich angesichts dieser Kontroverse nicht in die funktionalistische Tradition der Durkheiminterpretation ein, sondern in die praxistheoretische. Ein entsprechender Ansatz, der unter Abschn. 2.2 ausgeführt wird, stellt dazu die Ausgangslage her. Ein Verständnis von Praxis erlaubt es, das Verhältnis von religiösen Ritualen und sozialer Ordnung als eines von Handlung und Struktur zu begreifen und so in ein Verständnis der Reproduktion der sozialen Welt zu überführen.

Weitere der Fragestellung inhärente Konzepte, die es im Anschluss an Durkheim und über ihn hinaus zu charakterisieren gilt, sind Religion (Abschn. 2.7) und soziale Ordnung (Abschn. 2.5). Des Weiteren ist die Beziehung zwischen Glaubensvorstellungen und Ritualen zu klären – aus dieser Beziehung setzt sich gemäss Durkheim Religion zusammen, wobei die entsprechende Verhältnisbestimmung zu sehr unterschiedlichen Interpretationen von Durkheims Werk und dessen Antwort auf die hier massgebliche Frage geführt hat. Im Abschn. 2.6 soll die Debatte rekonstruiert und Stellung bezogen werden.

2.2 Praxis

Der Begriff der Praxis spielt in verschiedenen Ansätzen in den Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle. Soziologen wie Pierre Bourdieu und Anthony Giddens können mit ihm assoziiert werden. Auch Klassiker werden neuerdings praxistheoretisch gelesen, was insbesondere bei Durkheim der Fall ist, der von Anne Rawls (2004) einer entsprechenden Relektüre unterzogen wird. Hier wird, im Gegensatz zu früheren LesartenFootnote 21 der zentralen Unterscheidung zwischen Glaubensvorstellungen und Praktiken, den Letzteren der oberste Stellenwert zugeschrieben (siehe Abschn. 2.7). Die mit dem Praxisbegriff verbundene theoretische Bewegung wird verschiedentlich als „practical turn“ gefeiert. Die Notwendigkeit, einen weiteren „turn“ auszurufen, scheint jedoch gering und Kontinuitäten zu soziologischen Klassikern scheinen die Rede von der Wende nicht zu rechtfertigen (vgl. Bongaerts 2007). Zudem sind praxistheoretische Ansätze bisher weder zeitlich parallel noch inhaltlich einheitlich aufgetreten, sondern stellen eher ein „facettenreiches Bündel von Analyseansätzen“ (Reckwitz 2003b: 282) dar, dessen Vertreter sich oft gegenseitig nicht rezipieren.

Im Folgenden soll der Fokus auf dem einflussreichsten Praxiskonzept in der Soziologie liegen, demjenigen Pierre Bourdieus. Gerade in der Ritualtheorie hat es direkt, aber auch indirekt über die praxistheoretische Ritualtheoretikerin Catherine Bell, einen wichtigen Stellenwert erlangt. Dem Facettenreichtum der Praxistheorien soll insofern Rechnung getragen werden, indem auf die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins eingegangen wird, die am ehesten als gemeinsamer Nenner der verschiedenen Praxistheorien gelten kann. Darauf werden die Ansätze von Giddens und der Ethnomethodologie, die in der vorliegenden Untersuchung eine Rolle spielen, andiskutiert und in Bezug zur Praxistheorie Bourdieus gesetzt. Die Ausführungen über Praxis und Praxistheorien beginnen mit Karl Marx und damit demjenigen Klassiker, der meist als Ausgangspunkt für Praxistheorien genannt wird.

2.2.1 Praxis bei Karl Marx

Marx kann als Begründer der sozialwissenschaftlichen Praxistheorie gesehen werden (vgl. z. B. Ritzer 1996: 528). Dies erklärt auch, wieso praxistheoretische Ansätze nach den 1960er Jahren und damit in einem Zeitraum entwickelt und breit rezipiert wurden, in dem marxistische Ansätze im Rahmen zunehmender Kritik an strukturfunktionalistischen Positionen in den Sozialwissenschaften an Boden gewannen. Für Praxistheoretiker wie Bourdieu stellen dabei Marx’ Bemerkungen zu Feuerbach und die Deutsche Ideologie die zentralen Bezugspunkte dar.

Bei ersteren handelt es sich um elf lose zusammenhängende, postum von Engels herausgegebene Bemerkungen, in denen sich Marx von Feuerbachs philosophischer Religionskritik abwendet und stattdessen fordert, den Blick auf Geschichte und Gesellschaft zu richten. In diesem Bezug betont er die Wichtigkeit, Wirklichkeit nicht als Objekt, sondern als menschliche Praxis zu fassen: Das gesellschaftliche Leben sei letztlich „praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit“ (Marx und Engels 1978b [1845]: 6; Hervorhebung im Original). Marx grenzt seine Position damit gegen die deutsche idealistische Philosophie seiner Zeit ab, die sich, so Marx, den Ideen und der Anschauung verschrieben habe. Auch ein fortschrittlicher Idealist wie Feuerbach vertrete gemäss Marx einen „anschauenden Materialismus“ und ignoriere die aktive Seite des Menschen (vgl. Schluchter 2009: 57). „Feuerbach sieht daher nicht, daß das ‚religiöse Gemüt‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“ (Marx und Engels 1978b: 7). Die idealistische Geschichtsauffassung leite die Praxis aus den Ideen ab und nicht die Ideen aus der Praxis.

In der Deutschen Ideologie arbeiten Marx und Engels (1978a [1846]) an einer entsprechenden Gegenposition, deren Systematisierungsbasis die revolutionäre Praxis darstellt, wobei der Praxisbegriff beinahe zum „antiidealistischen Kontrastbegriff“ wider die „rationalistisch verhimmelte Vernunft“ (Tietz 2010: 67) wird. Den Autoren ging es dabei um die „Entidealisierung der Gesellschaft“ und „Historisierung der menschlichen Natur“ (vgl. Henning und Thomä 2010: 207). Die Deutsche Ideologie wurde, auf der Suche nach einem Verständnis von „Praxis“ und von den Feuerbachthesen her gelesen, zum Bezugspunkt für verschiedenste praxistheoretische Ansätze, so von Castoriadis, Giddens, Bourdieu und auch Habermas (vgl. Bluhm 2010: 7). Dieser breite Einfluss stehe, so Bluhm (2010: 7), im Kontrast dazu, dass „Praxis“ gar keine Zentralkategorie bei Marx darstelle. Noch weniger traut Heinrich Marx’ Praxisbegriff zu: Dieser stelle zunächst nicht mehr als eine Leerformel dar, die „für das Konkrete, Empirische, das im Gegensatz zu den philosophisch-abstrakten Konstruktionen der Junghegelianer als Ausgangspunkt und Erklärungsgrund genommen werden soll“ (Heinrich 2004: 261), stehe. Gerade diese Unbestimmtheit habe es ermöglicht, dass unterschiedliche Theorieprojekte mit Verweis auf die Feuerbachthesen an „Praxisphilosophien“ oder „Praxeologien“ arbeiteten.Footnote 22 Marx habe selbst, so Heinrich weiter, in späteren Werken auf den Praxisbegriff verzichtet, dies wohl nicht zuletzt aufgrund seiner zunehmenden Skepsis gegenüber einem darauf aufbauenden Empirismus: Marx erkannte zunehmend, dass die Produktion von Begriffen auch für die kritische wissenschaftliche Arbeit unausweichlich und eine „unmittelbare Empirie“ im Sinne eines unverfälschten Blickes auf die Positivität der Praxis nicht möglich war.

„Vor dem Hintergrund der Kritik der politischen Ökonomie erweist sich der Praxisbegriff der Feuerbachthesen und der Deutschen Ideologie, der als Synonym für das Empirische, das alle Mystifikationen der Theorie auflösen sollte, als ein vorkritischer Begriff: die Praxis selbst, so wie sie sich empirisch zeigt, ist in Mystifikationen befangen; Praxis ist gerade nicht der transparente Erklärungsgrund, auf den alles zurückzuführen ist, sondern selbst ein Erklärungsgegenstand.“ (Heinrich 2004: 267; Hervorhebungen im Original)

Dennoch, eine mit den Anliegen späterer Praxistheoretiker kongruente Grundlage ist bei Marx durchaus vorhanden: Einerseits findet sich wie in späteren Praxistheorien die Ablehnung „idealistischer Erklärungen“ der sozialen Welt, also Erklärungen, die in Ideen und Werten den Antrieb für das menschliche Handeln suchen. Andererseits findet Marx’ Ablehnung eines Bildes der Welt, das beim souverän handelnden Individuum ansetzt, ihre Fortsetzung in gegenwärtigen Praxistheorien. Die Tätigkeiten des Individuums sind bereits für Marx immer über die sozialen Verhältnisse und ihre Geschichte zu erklären. Für Marx bedeutete dies in der Deutschen Ideologie, sich von der Philosophie zunächst hin zur Geschichte und dann zur Ökonomie zu bewegen (vgl. Heinrich 1999: 114). So schreibt er im Vorwort zur 1. Auflage des Kapitals: „Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozess auffasst, den Einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er social bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ (Marx 1991: 10). Die Individuen tragen zwar zur Reproduktion dieser Verhältnisse durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte und damit die Herstellung von Werten bei, aber, so bringt es Marx (1991: 73) auf den Punkt: „Sie wissen das nicht, aber sie thun es.“ Auch wenn die Begrifflichkeit der Praxis für ihn dabei keine Rolle mehr spielt, bleibt mit einer solchen Position auch der späte Marx für Praxistheorien bedeutsam.

2.2.2 Praxis bei Pierre Bourdieu

2.2.2.1 Grundzüge

In einem Interview betont Bourdieu rückblickend, dass er gerade am Anfang seiner akademischen Karriere von den Feuerbachthesen stark beeinflusst gewesen sei (vgl. Honneth et al. 1986: 35). Mit Blick auf die im Abschn. 2.2.1 vorgestellten Einschätzungen Heinrichs ist allerdings ein Fragezeichen dahinter zu setzen, wenn beispielsweise Müller (2011: 57) darauf verweist, dass Bourdieu auf eine „Praxisphilosophie des jungen Marx“ zurückgreife, da von einer ausgearbeiteten „Philosophie“ bei Marx nicht die Rede sein kann. Doch wie bereits gezeigt: Genau weil der Begriff eine Leerformel dargestellt hat, konnten Unterstellungen hinsichtlich einer „Praxisphilosophie“ von Marx, wie sie sich schon bei Engels fanden, ungehindert Einzug halten. Seine marxistische Stossrichtung gewinnt der Praxisbegriff möglicherweise weniger durch Referenzen auf die Feuerbachthesen, sondern, so lässt sich mit Bluhm (2010) vermuten, durch die Einbettung in andere auf Marx zurückzuführende Kategorien und Perspektiven. Beispiele für diese Bezüge sind der Begriff der „Entfremdung“, der Blick auf Machtdifferenziale, sowie die Kritik am Idealismus und der epistemologischen Bevorzugung des Individuums. Entsprechende Verknüpfungen, wie sie bei Bourdieu offensichtlich sind, geben seinem Praxisansatz trotz des Fehlens einer Praxisphilosophie des jungen Marx eine marxistische Stossrichtung. Diese zeigt sich in Bourdieus Ansatz insbesondere in der Ablehnung von Positionen, die er dem „Subjektivismus“ zurechnet. Seine Theorie beruht aber noch auf einer weiteren Abgrenzung, derjenigen von dem, was Bourdieu als „Objektivismus“ bezeichnet. Mit seiner Theorie sucht er vielmehr nach einer Alternative zwischen Objektivismus und Subjektivismus.Footnote 23 Ersteren sah er insbesondere repräsentiert durch die Position des Ethnologen Claude Lévi-Strauss, letzteren durch die Sozialphänomenologie von Alfred Schütz, die Ethnomethodologie Harold Garfinkels und verwandte Positionen, die Bourdieu auch mit „Interaktionismus“ zusammenfasst. Objektivistische Positionen konzipieren menschliches Handeln als Ausdruck übergeordneter, objektiver, die soziale Welt durchdringender und prägender Strukturen. Durch Handeln und Kultur werden diese Strukturen, derer sich die Individuen kaum bewusst sind, realisiert (vgl. Bourdieu 1993: 180): Lévi-Strauss reduziere, so Bourdieu (1993: 180) „die Handelnden auf den Status von Automaten oder trägen Körpern, die von obskuren Mechanismen auf Ziele hinbewegt werden, von denen sie selbst nichts wissen.“ Ihre Aufdeckung und Identifikation erfolge erst durch den Wissenschaftler. Der Objektivismus vernachlässige die Ebene des Vollzugs im Handeln, das mehr als nur Ausdruck von etwas Übergeordnetem und Unbewusstem sei. Objektivistisch werde der sozialen Wirklichkeit damit ein Modell unterstellt, das nicht Grundlage der darin stattfindenden Prozesse sei, womit letztlich ein „Hervorbringen ohne Hervorbringer“ behauptet werde (vgl. Bourdieu 1993: 76). Lévi-Strauss’ Aufdeckung eines „in der Architektur der Welt enthaltenen Weltbilds“ mit seinen allgemeingültigen und ewigen logischen Kategorien, der „unbewussten logischen Geistestätigkeit“, stelle schliesslich eine eine Spielform von Idealismus dar (vgl. Bourdieu 1993: 77).

Aber auch die dem Objektivismus entgegengesetzte Position, der Subjektivismus/Interaktionismus, schaffe es nicht, soziales Handeln adäquat zu erfassen: Interaktionistische Positionen verstehen die soziale Wirklichkeit als durch die bewussten Interaktionen von Personen erzeugt und geformt. Damit seien entsprechende Ansätze nicht fähig, soziale Zusammenhänge zu fassen, die die stattfindenden Interaktionen und das darin Thematisierte überschritten. Selbst wenn Praxis entgegen objektivistischer Positionen nicht als Ausdruck übergeordneter Strukturen verstanden werden könne, nicht als eine durch die „vorhergehenden Bedingungen unmittelbar determinierte[.] Reaktionsform“ (Bourdieu 2009: 169), dürfe nicht dem „schöpferischen freien Willen“ das Wort geredet werden. Eine solche Position würde, gemäss Bourdieu, eine „Spontantheorie des Handelns“ darstellen, die die individuelle Entscheidung als letztes Prinzip vorsehe. Dies laufe letztlich darauf hinaus, „die kleinbürgerliche Sicht gesellschaftlicher Beziehungen als etwas, was man macht und was man sich macht, auf das Niveau einer Theorie der sozialen Welt zu erheben.“ (Bourdieu 2009: 150).

Bourdieu sieht Praxis als menschliche Aktivität, womit er wie der Subjektivismus das Handeln in den Blick nimmt. Dieses lässt sich für ihn jedoch nicht als die Realisierung individueller Ziele oder Strategien verstehen, denn ihr Verlauf werde nicht durch explizite und bewusste Zuweisungen von Bedeutungen bestimmt (vgl. z. B. Bourdieu 2009: 169). Den Individuen liegt meist kein Plan ihrer Handlungen vor, den sie in voller Bewusstheit zielgerichtet realisieren. Gleichzeitig ist Praxis jedoch nicht die blosse Widerspiegelung von übergreifenden Strukturen, denn sie erzeugt in ihrem Vollzug jeweils die Ausgangslage für ihre Fortsetzung, ist also ihrerseits produktives Prinzip. Damit schlägt Bourdieu einen Weg zwischen den genannten Ansätzen vor und setzt dabei über „Praxis“ mit einer Kategorie an, die er zwischen objektiven Strukturen und sinnhaften Interaktionen platziert.

Als Beispiel einer Praxis können Begrüssungsrituale dienen: Sie stehen nicht in einem von anderen Beziehungen und Bedeutungen leeren Raum, sie schliessen an vorherige Praktiken an, die die Ausgangslage für den aktuellen Vollzug geschaffen haben. Dass Grüsse geäussert und Hände geschüttelt werden, stellt eine Wiederholung früherer Durchführungen von Begrüssungen dar. Durch ihren erneuten praktischen Vollzug werden frühere Erfahrungen, Schemata des Denkens und Handelns aktualisiert. Diese Schemata, die als kollektive Dispositionen fungieren, bezeichnet Bourdieu als Habitus. Dieser wird in der Praxis reproduziert, er ist ihr „durch geregelte Improvisationen dauerhaft begründetes Erzeugungsprinzip“ (Bourdieu 2009: 170). Der Habitus ist ein Produkt der Geschichte, er bringt individuelle und kollektive Praktiken hervor und produziert damit seinerseits wiederum Geschichte. Über den Habitus sind frühere Erfahrungen präsent, die sich in den Individuen als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen. Mit der Praxis übereinstimmend bieten sie eine grössere Stabilität, als dass es formale Regeln und explizite Normen gewährleisten können (vgl. Bourdieu 1993: 101). Im Beispiel der Begrüssung wäre der Habitus die mehr oder weniger explizite Einsicht in die in einem Kontext geltende Notwendigkeit, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu begrüssen, die Praxis wäre die Aktivität, die vollzogen wird und zur Bestätigung des Habitus beiträgt. Als kollektive Disposition steht der Habitus in gegenseitigen Wirkbeziehungen mit Strukturen, wie z. B. Hierarchien oder ökonomischen Verhältnissen. Der Vorgang der Praxis stellt die gleichzeitige Realisierung und das In-Beziehung-Setzen von Dispositionen, also Habitus, und Strukturen dar (vgl. Evens 1999: 12).

Die praktische Reproduktion des Habitus zeigt, dass Praxis nicht nur Ausdruck oder Verkörperung von ihr übergeordneten, objektiven Zusammenhängen, sondern der Vorgang der Erzeugung dieser Objektivität und dieser Strukturen selbst ist. Praxis weist beispielsweise Handelnden und Handlungen Positionen zu, eröffnet Möglichkeiten für anschliessende Operationen und bestimmt Verhältnisse zwischen Dingen, Personen und Bedeutungen. Praxis ist also die fortwährende Produktion von Strukturen und Habitus, sie ist strukturierende Struktur. Entscheidend ist dabei, dass Bourdieu Praxis nicht als Realisierung eines Modells sieht, nicht als Rückgriff auf einen, wie Bourdieu (1993: 182) mit Verweis auf Jakobson schreibt, „Zettelkasten vorgefertigter Vorstellungen“, sondern als Resultat von Strategien, die sich im zeitlichen Verlauf der Aktivität entfalten und die Handlung in bestimmte Bahnen lenken. Praxis ist also nicht blosser Vollzug von etwas, was schon vorher bestimmt war: Der kabylische Bauer reagiert nicht einfach auf objektive Bedingungen, sondern auf die von ihm erzeugte praktische Interpretation dieser Bedingungen, „der die gesellschaftlich konstituierten Schemata seines Habitus zugrunde liegen.“ (Bourdieu 2009: 257).Footnote 24 In anderen Worten: Praxis ist eine Aktivität, die im Kontext von Strukturen steht und mit habituellen Dispositionen verknüpft ist, die die Handelnden mit Strategien versehen, denen sie folgen. Mit dem Begriff der Strategie schlägt Bourdieu vor, den von ihm für sein Praxisverständnis zunächst ausführlich bemühten, von Wittgenstein beeinflussten Regelbegriff zu ersetzen (vgl. Bourdieu 2009: 217). Das Bild von Strategien unterstellt Spielzüge, mit denen entlang bestimmter Interessen auf veränderte Situationen improvisierend reagiert wird, während das Bild der Regel – auch wenn es mit Wittgenstein freilich nicht so verstanden werden sollteFootnote 25 – ein zeitloses Arrangement von Elementen unterstellt. Mit dem Begriff der Strategie betont Bourdieu gerade die Zeitlichkeit der Praxis: Diese spiele sich immer unter Zeitdruck ab, sie ist geprägt durch Verzögerungen und Differenzen. Eine Erwartbarkeit des Handelns ist zwar im Spiel, dabei handelt es sich aber um Überzufälligkeit nicht um Determination – diesen Unterschied betont Bourdieu (1993: 182) mit Nachdruck.

Es ist gemäss Bourdieu (1993: 158) typisch für Praxis, dass sie wenig Kapazität für reflexive und explizite Selbstbeobachtung und -strukturierung hat. Die unter Zeitdruck stattfindende praktische Befolgung von Strategien, die von kollektiven Dispositionen bestimmt sind und in denen auf die Spielzüge der anderen, wie auch auf objektive Bedingungen reagiert werden muss, folgt keiner a priori bestimmbaren Logik. Damit können praktische Selektionen nicht aus einem Set von Prinzipien abgeleitet werden (vgl. Bourdieu 1993: 159). Dies trifft beispielsweise auf rituelle Praxis zu, sie folgt, so ist mit Bourdieu zu schliessen, keiner „logischen Logik“, sondern einer „praktischen“. Sie ist durch Struktur und Habitus bestimmt, gerade die logische Sparsamkeit der praktischen Logik, der sie folgt, ist massgeblich. So schreibt Bourdieu:

„Riten finden statt und finden nur deshalb statt, weil ihre raison d’être in den Existenzbedingungen und in den Dispositionen der Individuen gründen, die sich den Luxus logischer Spekulation, mystischer Ausstrahlung oder metaphysischer Unruhe nicht leisten können.“ (Bourdieu 2009: 257)

Das Erkennen dieser Sparsamkeit ist zentral für die Vermeidung intellektualistischer Unterstellungen an Rituale. Das führt zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Rekonstruktion des wissenschaftlichen Beobachters, der, in den Worten Bourdieus, einer „Praxis der Logik“ folgt, mit seinem Gegenstand, der einer „Logik der Praxis“ gehorcht.

2.2.2.2 Praxistheorie und wissenschaftliche Perspektive

Auf den ersten Blick könnte das Praxisverständnis Bourdieus auf genau denjenigen „naiven Realismus“ hindeuten, dem in der Deutschen Ideologie Marx gemeinsam mit Engels durch die wenig reflektierte Betonung von Praxis als unmittelbar empirisch fassbare Angelegenheit gefolgt sein dürfte (vgl. Heinrich 1999: 153). Einem solchen Realismus sagt Bourdieu (2009: 158) in seiner Praxistheorie jedoch explizit den Kampf an und erörtert die Rolle des wissenschaftlichen Beobachters sowie die Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchung eines praktisch konstituierten Gegenstands. Diese Überlegungen sind für die vorliegende Arbeit deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil die Diskussion um den „Sinn der Rituale“ und die Rolle der wissenschaftlichen und anderer Beobachter in dessen Konstitution eine für die Ritualtheorie zentrale Diskussion darstellt.Footnote 26

Wie hängen Praxis und wissenschaftliche Beobachtung zusammen? Wenn Beobachter in der Praxis eine Logik erkennen und diese in begriffliche Kategorien und Ausschlussregeln überführen, tun sie dies ausserhalb der durch sie kommentierten Praxis. Die Logik der Praxis ist, so Bourdieu (1993: 157), nicht diejenige der Logik. Über die Hinterfragung und Reflexion der Praxis verabschiedet sich der Beobachter aus ihr (vgl. Bourdieu 1993: 165). Das heisst, dass die Ausführungen des Beobachters in grundlegender Weise von ihrem Gegenstand unterschieden sind, weshalb der Fehler nicht gemacht werden darf, der Praxis die Regelmässigkeiten und Prinzipien als Faktoren zu unterstellen, die erst der Wissenschaftler formuliert – in den Worten Bourdieus:

„Dass Gymnastik Geometrie ist, lässt sich durchaus sagen, sofern man darunter nicht versteht, dass der Gymnastiker Geometer ist.“ (Bourdieu 1993: 170)

Sein Praxisverständnis ist für Bourdieu auch Mittel zur Reflexion des Verhältnisses des wissenschaftlichen Betrachters zum von ihm analysierten Gegenstand.

„Der Praxis muss demzufolge eine Logik zugeschrieben werden, die keine der Logik ist, um damit zu vermeiden, ihr mehr Logik abzuverlangen, als sie zu geben in der Lage ist, und sich auf diese Weise dazu zu verurteilen, ihr eine Kohärenz aufzwingen zu wollen.“ (Bourdieu 2009: 248)

Der praktischen Tätigkeit ist zwar eine Logik inhärent. Diese hat, wie soeben bereits angetönt, nicht die Form bewusster Überlegung oder logischer Nachprüfung durch Akteure.

„Die Idee der praktischen Logik als einer Logik an sich, ohne bewusste Überlegung oder logische Nachprüfung, ist ein Widerspruch in sich, der der logischen Logik trotzt. Genau nach dieser paradoxen Logik richtet sich jede Praxis, jeder praktische Sinn: gefangen von dem, um was es geht, völlig gegenwärtig in der Gegenwart und in den praktischen Funktionen, die sie in dieser in Gestalt objektiver Möglichkeiten entdeckt, schliesst die Praxis den Rekurs auf sich selbst (d.h. auf die Vergangenheit) aus, da sie nicht von den sie beherrschenden Prinzipien und den Möglichkeiten weiss, die sie in sich trägt und nur entdecken kann, indem sie sie ausagiert, d.h. in der Zeit entfaltet.“ (Bourdieu 1993: 167; Hervorhebungen im Original)

Die theoretische Sicht der Praxis darf nicht mit dem praktischen Verhältnis zur Praxis verwechselt werden (vgl. Bourdieu 1993: 148). Das heisst, was der wissenschaftliche Beobachter in seiner theoretischen Sicht beispielsweise als Handlungsursachen feststellt, muss dem Handelnden in seinem praktischen Verhältnis nicht als Grund vorgeschwebt haben. Genau dies hätte jedoch Saussure in seiner Linguistik angelegt, die Bourdieu (1993: 57–59) als prototypisch für den Objektivismus hält. Der Subjektivismus wiederum mache genau den umgekehrten Fehler, wenn er postuliere, dass das Eintauchen in die Praxis und das Aufgehen darin das wissenschaftliche Geschäft ausmachen solle (vgl. Bourdieu 1993: 63). Die wissenschaftliche Analyse, die nicht die Verkürzungen des Subjektivismus reproduzieren will, bedeutet eine schematische und verdinglichte Umsetzung der impliziten Schemata in Vorstellungen. Was der praktische Sinn ausagierte, ohne sich davon eine Vorstellung zu machen, wird damit „symbolisch gemeistert“ (vgl. Bourdieu 1993: 187). Auch auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes selbst finden sich entsprechende Explikationen und Symbolisierungen, z. B. in Form von Regeln der Grammatik, der Moral oder des Rechts. Solche „eingeborenen Theorien“ sind jedoch dann für den wissenschaftlichen Beobachter irreführend, wenn er sie als Erklärungen der Praktik übernimmt und sie damit eine „objektivistische“ Sicht der Praktiken bekräftigen (vgl. Bourdieu 1993: 189).

Die Gefahr des wissenschaftlichen Vorhabens besteht darin, das Modell der Realität als eine Realität des Modells zu sehen (vgl. Bourdieu 2009: 162), oder, mit Bourdieu (2009: 164) Marx zitierend, die Sache der Logik als Logik der Sache auszugeben. Diese Problematik verunmöglicht eine einfache Repräsentation analysierter Verhältnisse in den Produkten wissenschaftlicher Beobachtung. Über das Erarbeiten einer „logischen Erklärung“ bewegt sich der Wissenschaftler durch das Ausüben einer wissenschaftlichen Praxis und die Produktion einer Logik der Praxis von der Objektivität des Stattfindenden weg. Das ist nicht illegitim, nur darf die ausformulierte Logik des beobachteten Gegenstandes als solche weder den handelnden Menschen in Form von bewussten Absichten unterstellt werden, noch einer latenten objektiven Struktur zugeschrieben werden, deren blosse Realisierung die Praxis darstelle. Dies zeitigt direkte Konsequenzen für die Untersuchung von Ritualen, bei der typischerweise die Frage nach den Glaubensüberzeugungen, die das rituelle Handeln informierten, eine grosse Rolle spielt. Praxistheoretisch kann dies als Unterstellung der Logik des Wissenschaftlers an die Praxis des Gegenstands entlarvt werden. Darauf wird insbesondere im Abschn. 2.6 zurückzukommen sein.

Auch wenn Bourdieu den Objektivismus ablehnt, geht seine praxeologische Perspektive mit diesem einig, wenn sie ihre Analyse der Praxis in grundsätzlicher Weise von den Deutungen im Feld unterscheidet. Wie der Objektivismus konstruiert sie das Objekt der Wissenschaft gegen die Evidenz des Alltagswissens und orientiert sich damit nicht an bereits im Feld bestehenden Repräsentationen. Damit können diese Konstruktionen, so betont Bourdieu (2009: 149) nicht wie bei Schütz oder Garfinkel als Konstruktionen von Konstruktionen gesehen werden. Die Selbstbeobachtung im Gegenstand kann nicht als Wissenschaft der sozialen Welt gesehen werden und der Soziologe kann sich so nicht darauf beschränken, das aus einer etwas anderen Perspektive zu thematisieren, was im Gegenstand selbst thematisiert wird. Der Objektivismus falle jedoch wieder ins andere Extrem: Er beziehe die Sicht der Menschen auf die Dinge, das heisst die subjektiven Illusionen, „gegen die er seine Wahrheit erobern musste“, die überhaupt erst Bedingung für die Hervorbringung und kollektive Verneinung sind, gar nicht ein (Bourdieu 1993: 197). Das heisst, in der Praxis ist gerade die Verdrängung wirksam, deren Umgehung sich der Objektivismus verschrieben hat. Eine solche Aufdeckung ist auch für Bourdieu ein legitimes Ziel, aber die Verdrängung und damit die subjektiven Sichtweisen stellen doch Tatsachen dar, denen in der Analyse der sozialen Welt als Gegenstand Rechnung getragen werden muss.

Eine abschliessende Bemerkung betrifft die Beziehung des Konzeptes „Praxis“ zum Konzept „Diskurs“. Bourdieu spricht sich dafür aus, die Welt eher als Praxiswelt denn als Diskurswelt zu sehen (vgl. Bourdieu 1993: 158).Footnote 27 Diskurs kann mit Bourdieu als Reflexion der Praxis gesehen werden. Bereits das Nachdenken des Handelnden über sein eigenes Handeln bringt diesen dazu, einen Standpunkt einzunehmen, der von der Praxis verschieden ist – denn die Praxis lässt in ihrem Rahmen solche Fragen nicht zu (vgl. Bourdieu 1993: 165). Damit scheint die Reichweite des Praxisbegriffes eingeschränkt zu werden: Wenn solche diskursive und damit reflexive Kommunikation massgeblich für die Reproduktion der Praxis wäre und die Aktivitäten zumindest teilweise auch hervorbringen und formen, wie vielleicht für besonders „rationalisierte“ Bereiche der Gesellschaft wie die Wissenschaft vermutet werden könnte, hätte dies zumindest zur Folge, dass „Diskurs“ neben „Praxis“ als Grundbegriff für die soziologische Fassung des Sozialen treten müsste. Entsprechende Bedenken am Primat von Praxis lassen sich jedoch für den Praxistheoretiker leicht zerstreuen: Diskurse über Praxis sind ihrerseits als Praxis zu verstehen. Auch sie sind „strukturierte und strukturierende Struktur“. Dabei mögen sie zwar flexibler sein, als die von ihnen beobachtete „stumpfe Repetition“ einer Praxis und eine höhere Reflexivität aufweisen, aber trotzdem stellen sie die Reproduktion objektiver Beziehungen eines Feldes dar, das beispielsweise durch Unterschiede in Bildung und ökonomischem Kapital geprägt ist. Die Teilnehmer eines reflexiven Diskurses werden durch diese Ausgangslage in die Position gebracht und mit Interessen und Strategien versehen, die sie zu dieser Teilnahme bringen und in dieser Teilnahme strukturieren. Auch die Praxis der Logik, die als Diskurs stattfindet, ist eine Praxis. Und damit sind Diskurse ihrerseits nicht als Resultat freier individueller Entscheidungen zu verstehen, sondern als durch strukturelle Lagen beeinflusstes Handeln – letztlich treffen somit alle Eigenschaften, die auf Praxis zutreffen, auch auf Diskurs zu.

2.2.2.3 Bourdieu im Feld der Praxistheorie

Bourdieus Position lässt sich als eine neben anderen Konzeptionen in einem breiteren Feld von Praxistheorien beschreiben. Dieses Feld ist durch hohe interne Diversität geprägt, Reckwitz (2003b) folgend lassen sich aber doch Gemeinsamkeiten identifizieren und in drei Merkmalen zusammenfassen: 1) Praktiken werden als durch eine implizite Logik, nicht durch die Befolgung bewusster, expliziter Konzeptionen, angeleitet gesehen. 2) Damit einher geht eine Abgrenzung von Ansätzen, die Diskurs, Symbole und Werte in den Vordergrund stellen. 3) Die Materialität praktischer Aktivitäten, Bewegungen und Verrichtungen von Körpern in ihrem materiellen Umfeld wird betont.

Um Bourdieus Position im Feld der Praxistheorien etwas zu kontextualisieren, ist als erstes die bereits kurz erwähnte Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins zu diskutieren. Des Weiteren gilt es, Anthony Giddens’ Praxisverständnis anzusprechen, dem oft eine gewisse Parallelität zu Bourdieus Konzept attestiert wird. Schliesslich soll, um die Brücke zu Durkheim schlagen zu können, das sich u. a. auf Emile Durkheim und Harold Garfinkel berufende Praxisverständnis der Soziologin Anne Rawls erörtert werden.

Wittgenstein: Regel folgen

Die späte Philosophie Ludwig Wittgensteins stellt eine wichtige Referenz für zahlreiche Praxistheoretiker dar.Footnote 28 Zentraler Bezugspunkt ist Wittgensteins Verständnis von dem Befolgen einer Regel, auf das auch Bourdieu (1993: 49, 74–76) verweist. Dabei wird von Wittgenstein insbesondere die Betonung des impliziten Charakters der Regelbefolgung übernommen: Für Wittgenstein bedeutet das Befolgen einer Regel nicht eine Übereinstimmung von Meinungen, sondern eine Übereinstimmung in der „Lebensform“. Eine Regel wird nicht reflektiert, ihr wird gefolgt, wobei dieses Folgen im Fall der Befolgung sprachlicher Regeln in der Teilnahme an einem geteilten Gebrauch von Sprache besteht, einem „Sprachspiel“. Dieser geteilte Gebrauch bestimmt die Richtigkeit der Regelbefolgung – so ergibt sich das Erkennen von Farben aus der Einbindung in einen sprachlichen Zusammenhang:

„Wie erkenne ich, dass diese Farbe Rot ist? - Eine Antwort wäre: ‚Ich habe Deutsch gelernt.‘“ (Wittgenstein 1999: §381)

Die Regeln des Sprachspiels sind nicht in einer idealen Sprache bzw. in universalen Strukturen festgelegt, sondern im Gebrauch. Das heisst, dass es kein „Dahinter“ hinter dem Vollzug des Sprachspiels gibt, die Richtigkeit liegt in der Anwendung:

„Wenn du einmal weisst, was das Wort bezeichnet, verstehst du es, kennst seine ganze Anwendung.“ (Wittgenstein 1999: §264).

Die Regel besteht nur in dem, was als Regelbefolgung gilt. Einer Regel zu folgen ist deshalb nicht mit Deuten im Sinne der expliziten Zuweisung von Sinn verbunden. Um eine Deutung würde es sich nur handeln, wenn dieser Ausdruck einer Regel durch einen anderen ersetzt wird (vgl. Wittgenstein 1999: § 201), also Handlungen beispielsweise sprachlich aufgegriffen und beschrieben werden. „Regel folgen“, so Wittgenstein im darauf folgenden Paragraph, ist eine Praxis (vgl. dazu auch Bloor 2001: 95–96). Bedeutung gründet damit für Wittgenstein in einer Aktivität, nicht in Entsprechungen von Gegenständen und Wörtern. Letzteres, so zeigt Wittgenstein in den ersten Paragraphen der Philosophischen Untersuchungen, würde es nicht einmal erlauben, ganz einfache Sprachspiele zu verstehen, da mit Wörtern meistens nicht bloss Vorstellungen hervorgerufen, sondern Menschen in Tätigkeiten eingebunden würden: So kann das Wort „Platte“ in bestimmten Zusammenhängen bedeuten, dass eine Platte gebracht und dem Auffordernden überreicht wird (vgl. Wittgenstein 1999: § 2–6). Es wird nicht bloss ein Gegenstand bezeichnet, sondern eine Handlung eingeleitet.

Wittgenstein diskutiert dieses Konzept von Bedeutung mittels der Definition des Begriffes „Spiel“, die nicht über eine eindeutige und verbalisierbare Grenze zwischen den Angelegenheiten, die als Spiele gelten und solchen, die nicht als Spiele gelten, vorgenommen werden kann.Footnote 29 Dennoch wisse man jeweils, was ein Spiel sei, ohne dass diesem Wissen eine unausgesprochene Definition zugrunde liegen würde (vgl. Wittgenstein 1999: § 75–76). Wissen, was ein Spiel ist, bedeutet nicht, es wissen und nicht sagen zu können, sondern die Tätigkeit des Unterscheidens zu vollziehen, das heisst am Fall entscheiden zu können, ob das nun ein Spiel ist oder nicht. Sprache basiert nicht auf einer idealen Sprache, die Regeln enthalten würde, die (möglicherweise in nicht perfekter Weise) umgesetzt werden (vgl. Wittgenstein 1999: § 81), sondern auf ihrem Gebrauch.

Der Philosoph David Bloor führt dieses gegen ein rationalistisches Verständnis gerichtete Konzept Wittgensteins weiter: Welche Formen von Bewusstheit und Explikation der Regel beinhaltet dieses Regelfolgen? Bloor greift auf das bereits bei Wittgenstein angelegte Beispiel der Beteiligung an einem Spiel zurück: Ein Spiel spielt man – und denkt, dass man das Spiel spielt – wenn man mit dem Spiel und seinem Hintergrund in genügender Weise vertraut ist, um daran teilzunehmen, dabei die richtigen Zeichen der Beteiligung und damit verknüpften Erwartungen signalisiert und bei einem laufenden Spiel die angebrachten Reaktionen aufzeigen kann. Diese Fähigkeiten sind, so Bloor (2001: 99), „blind“ möglich, sie können vorhanden sein, auch wenn sie vom Spielenden nicht in sprachliche Regeln überführt werden können. Dementsprechend würden auch die Regeln gelernt: Sie würden typischerweise nicht in diskursiver Form übertragen, sondern, wie Wittgenstein in verschiedenen Paragraphen ausführt, durch die Durchführung seitens kompetenter Akteure und durch die Aufforderung „Tu dies!“

Diese anti-intellektualistische Perspektive bezieht Wittgenstein in seiner Kritik an James George Frazers „Golden Bough“ auch auf den hier relevanten Gegenstand, religiöse Rituale. So schreibt Wittgenstein über explizite Ansichten und ihren Bezug zur rituellen Praxis:

„Vielmehr ist das Charakteristische der rituellen Handlung gar keine Ansicht, Meinung, ob sie nun wahr oder falsch ist, obgleich eine Meinung – ein Glaube – selbst auch rituell sein kann, zum Ritus gehören kann.“ (Wittgenstein 1967: 240)

„Meinungen“ können zwar im Ritualvollzug mitschwingen, sie bestimmen diesen aber typischerweise nicht. Meinungen als Handlungsgründe identifizieren zu wollen entspräche, so hält mit Theodore Schatzki (1996: 120) ein weiterer wittgensteinianischer Praxistheoretiker fest, einer „pervasive temptation to overintellectualize action“.

Dies lässt sich auf Wittgensteins Verständnis beziehen, was es heisst, einer Regel zu folgen. Wittgenstein (2015: 422; vgl. Bloor 2001: 105) schreibt diesbezüglich: „Man folgt der Regel ‚mechanisch‘. Man vergleicht sich also mit einem Mechanismus. ‚Mechanisch‘, das heisst: ohne zu denken. Aber ganz ohne zu denken? Ohne nachzudenken.“ Die Befolgung der Regel erfolgt über die Einbindung in einen Kontext, die Teilnahme an einem bestimmten Sprachspiel, innerhalb dessen bestimmte Handlungen als Praxis institutionalisiert werden. Dementsprechend liegen gemäss Wittgenstein die Kriterien für die „Richtigkeit“ der Handlungen darin, dass sie richtig in einen Gebrauch eingebettet sind, sich in eine institutionalisierte Praxis einfügen und nicht darin, dass sie mit Deutungen verbunden sind. Regelbefolgung ist die Partizipation an einem solchen Gebrauch, der sich nicht, so Bloor, aus einem Prozess des „grasping the rule“ verstehen lässt, das heisst nicht aus einem Vorgang des individuellen Begreifens der Regel ausserhalb ihres Gebrauchs und einem darauf basierenden Entscheid zur Befolgung.

Bedeutet das, dass Praxis jenseits dessen steht, was sich im Sinne Webers als sinnhaftes Sich-Verhalten bezeichnen lässt, also gar nicht als Handeln zu bezeichnen ist? Bloor (2001: 101) sieht die handelnden Menschen nicht als unbewusste Vollstrecker einer übermächtigen Praxis. Er sieht Vorgänge des „glossings“ am Werk, die in der Identifikation der Praktiken durch die daran partizipierenden Individuen bestehen.Footnote 30 Erst durch sie, so Bloor, komme einer Praxis ein institutioneller Charakter zu, in Analogie zu einem Metallstück, das nur durch die Praxis des Bezeichnens ein Geldstück wird. Die Handelnden können zwar meist keine Logik ihres Handelns verbalisieren und werden nicht von einer solchen angeleitet, sind aber doch in der Lage, zumindest ihr Handeln als solches zu identifizieren. Bloor führt dies am Beispiel der Trauung aus, in der einer der zu Vermählenden sich denkt, dabei alle anderen zu täuschen, weil er/sie sich innerlich nicht damit einverstanden erklärt, obwohl er/sie dieses Einverständnis in der Trauung kommuniziert. Tatsächlich ist diese Person nach der Trauung aber verheiratet und weiss auch, dies über seine/ihre Teilhabe am glossing, dass sie sich an der entsprechenden Praxis beteiligt und dass diese unabhängig von ihren damit verbundenen Intentionen und Überzeugungen gerade stattfindet. Und sie weiss, dass dies unabhängig davon ist, was sie als Durchführende von dieser Praxis hält, über sie weiss und ob sie es ehrlich meint.

Wie das Beispiel zeigt, ist Bewusstheit im Spiel, aber eine Praxis, über deren Stattfinden man sich einig ist, erweist sich als recht unempfindlich gegenüber mentalen Vorgängen der Reflexion und inneren Intentionen. Diese Unempfindlichkeit, auf die Bloor hinweist, stellt auch Wittgenstein (1967: 236) fest. So schliesst er zwar nicht aus, dass es so etwas wie Reflexivität geben könne, aufgrund derer ein Mensch sein Handeln verändern kann. Gerade für die von ihm in seiner Kritik diskutierten „religiösen“ bzw. „magischen“ Rituale, die Frazer beobachtet, erscheint ihm eine solche Rationalität jedoch unwahrscheinlich. Solche Rituale seien nicht entlang von Meinungen strukturiert, die durch Entscheidung revidiert werden könnten, sondern, so liesse sich mit Bloor sagen, sie sind in einer institutionalisierten Praxis eingebettet, deren Befolgung nicht auf Reflexion und Entschlüssen beruht – vielmehr kommt ihrer Durchführung in ihrem Kontext eine gewisse Selbstverständlichkeit zu.

Gemäss Bloor, aber auch aus einer soziologischen Perspektive, ist die Frage zu beantworten, wie es zur Institutionalisierung einer Praxis kommt: Aus einer praxistheoretischen Perspektive werden gewisse Dinge dabei von den Teilnehmenden nicht erwartet, so explizite Regelkenntnis oder von allen Beteiligten geteilte Intentionen und Konnotationen. Andere Dinge werden erwartet, so eine „tendency to act“, die geteilte Disposition, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln, die zudem mit einem glossing, einem Bezeichnen oder zumindest Erkennen der Handlung als bestimmter Praxis, verknüpft ist. Um die Frage zu beantworten, ob es sich bei einer solchen Praxis um Handeln im Sinne Max Webers handelt: Von Handeln kann zwar die Rede sein, da es ein sinnhaftes Sich-Verhalten ist, aber die Bewusstheit beim Einzelnen leitet das Handeln nicht an.

Giddens: Praxis und structuration

Das in der Soziologie neben Bourdieus Ansatz bekannteste Konzept von Praxis stammt von Anthony Giddens, wobei er und Bourdieu kaum Bezug aufeinander nehmen. Giddens formulierte sein Praxisverständnis im Rahmen seiner Theorie der „structuration“, mittels derer er das Verhältnis zwischen agency und structure konzipierte. Dabei suchte er über die Rede von „Praxis“ einen Ersatz für Handlungsverständnisse wie dasjenige des normativen Funktionalismus bzw. Strukturfunktionalismus zu finden. Dessen „fascination with ‚value-consensus‘ or symbolic orders“ gehe auf Kosten der „more mundane, practical aspects of social activity“ (Giddens 1986: xxxvii). Entgegen einer solchen Betonung von Werten sieht Giddens die „Strukturation“ von Gesellschaft vor allem als Angelegenheit ihrer Ausdehnung, Einbettung und Verknüpfung in Zeit und Raum.

Giddens’ Praxisverständnis orientiert sich seinerseits an MarxFootnote 31 und Wittgenstein, was zu Betonungen führt, die durchaus mit Bourdieus Praxisbegriff vergleichbar sind. Zentral ist die Feststellung, dass gerade in Interaktionen die Beteiligten ihr Handeln zum grössten Teil nicht an verbalisierbarem Wissen orientieren, sondern dass dieses praktischen Charakter hat. Das heisst, dass alltägliche Interaktionen auf der implizit bleibenden Fähigkeit, das soziale Leben routiniert fortzuführen, basieren (vgl. Giddens 1986: 4–5). Das für das Handeln notwendige Wissen, die „knowledgeability“ „is founded less upon discursive than practical consciousness“ (Giddens 1986: 26). Auch zweckgerichtetes Handeln ist nicht das Aggregat separater Intentionen, Gründe und Motive, vielmehr findet Handeln als kontinuierlicher „flow of conduct“ statt und ist dabei in eine Praxis eingebettet. Auf diese kann von Beobachtern oder Beteiligen reflexiv Bezug genommen werden, wodurch Bezeichnungen und Begründungen Einzug halten können. Diese Diskursivität und die damit einhergehende Möglichkeit zur Reflexivität des Handelns sieht Giddens nicht als Bedingung, sondern als einen Faktor, der mehr oder weniger zum Zug kommen kann. Selbst wenn Reflexivität im Spiel ist, ist Gesellschaft auch bei Giddens nicht als Produkt gezielter Formung durch die Intentionen von Individuen zu verstehen (vgl. Giddens 1986: 26). Intentionen sind durchaus vorhanden, aber die Individuen reproduzieren dabei unbewusst und unintendiert die Konditionen, die das Handeln ermöglichen: „Human history is created by intentional activities but is not an intended project. However, such attempts are continually made by human beings, who operate under the threat and the promise of circumstance that they are the only creatures who make their ‚history‘ in cognizance of that fact.“ (Giddens 1986: 27)

Wie die letzten Sätze antönen, stellt die knowledgeability, wie implizit sie auch bleibt, Basis des Handelns dar und muss vom Soziologen erklärt werden, um die Reproduktion des Sozialen analysieren zu können. Die soziale Welt kann nicht, wie Giddens es den Funktionalisten vorwirft, über funktionale Gleichungen erklärt werden. Die Funktionalisten blenden bei ihrer Betonung der Nicht-Intentionalität die involvierten Wissensformen gänzlich aus. Damit erklären sie die Reproduktion des Sozialen allein aus Systemerfordernissen, von denen, so Giddens, im Funktionalismus nicht geklärt wird, wie sie das Handeln der Individuen anleiten, das letztlich für diese Reproduktion erforderlich ist. Im Vergleich mit Bourdieu scheint Giddens den Individuen, ihren Entscheidungen und ihrer Selbstbeobachtung das Potenzial für eine stärkere Rolle zuzuschreiben, die er mit Begrifflichkeiten wie Intentionalität und Reflexivität einräumt.

Wie Bourdieu macht Giddens explizite Anschlüsse an Wittgenstein. Aufschlussreich ist, dass er sich dabei gegen die Überführung von Wittgenstein in die „Logik der Sozialwissenschaften“ richtet, wie sie Peter Winch (1970) vorschlägt. Diesen verortet er bei den interpretativen Soziologien, diese arbeiteten mit „action as meaning rather than with action as praxis – the involvement of actors with the practical realization of interests, including the material transformation of nature through human activity. Second, partly as a consequence of the first, none [der Schlüsse interpretativer Soziologen, Anm. RW] recognizes the centrality of power of life.“ (Giddens 1993: 53). Denn nicht nur vom Funktionalismus, auch von dezidiert mikrosoziologischen Erklärungen der sozialen Welt, denen interpretative Soziologen oft zuzuordnen sind, grenzt sich Giddens mit seiner Theorie der Strukturation und seinem Praxisbegriff ab (vgl. Giddens 1993) – eine weitere Parallele zu Bourdieu.

Der Anschluss an Wittgenstein, die Abgrenzung von Objektivismus/Funktionalismus und Subjektivismus/interpretativer Soziologie sowie die Betonung von Macht und der Reproduktion materieller Strukturen stellen auffallende Parallelen zwischen Giddens und Bourdieu dar. Diese werden jedoch weit stärker von aussen (vgl. z. B. Karp 1986; Sewell 1992; Schatzki 1997) anerkannt als von den beiden Autoren selbst.

Bourdieu und Durkheim

Es stellt sich die Frage, in welchem Bezug eine praxistheoretische Position, wie sie soeben insbesondere mit Verweis auf Bourdieu diskutiert wurde, zu Durkheim steht. Durchaus lassen sich bei Durkheim Stellen finden, die Parallelen zu solchen Positionen aufweisen, so die Idee, dass das soziale Leben die Menschen in die Befolgung von Regeln einbindet, die sie weder gemacht noch gewollt haben (vgl. z. B. Durkheim 1994: 285, 295 f.). Und auch ein Konzept von „habit“ als bestimmender Faktor des menschlichen Lebens liesse sich bei Durkheim finden (vgl. Camic 1986).

Die Einflüsse von Weber und Marx auf Bourdieus Entwurf einer Praxistheorie sind jedoch weitaus offensichtlicher und bedeutsamer als derjenige Durkheims. Durkheims nachhaltiger Einfluss auf die französische Universitätslandschaft dürfte Bourdieus Denken stärker geprägt haben als bestimmte Elemente seiner Theorie (vgl. Robbins 2003: 23). Mittelbar könnte auch ein Einfluss über Marcel Mauss, Mitarbeiter und Neffe Durkheims, stattgefunden haben, an den Bourdieu in seiner Diskussion von Tausch und Habitus anschliesst. Darüber hinaus hatte Bourdieu mit Fragen um sozialwissenschaftlichen Positivismus und Strukturalismus zu ringen, die durch Durkheim entscheidend geprägt wurden. Typisch für die Verschiedenheit von Durkheim ist, wie er in seinen Arbeiten zu Algerien auf Quellen zu den Kabylen zurückgreift, auf die bereits Durkheim in seiner Division verwiesen hat. Der Zugriff Bourdieus erfolgt ganz anders, so z. B. unter Verzicht auf die Zuordnung zur mechanischen Solidarität, wie sie sich bei Durkheim findet (vgl. Robbins 2003: 24). Vielsagend ist auch der grundsätzlich von Durkheim verschiedene Bezug auf das Bildungssystem, das von Durkheim noch als Faktor sozialer Solidarität gesehen wurde, von Bourdieu aber kritisch als Faktor der Reproduktion von Ungleichheit thematisiert wurde (vgl. Robbins 2003: 27). Auch das Religionsverständnis Bourdieus unterscheidet sich in grundlegender Weise von demjenigen Durkheims: Nicht die Erfahrung des Sozialen im Rahmen kollektiver Efferveszenz im Gegensatz zum Alltag führt für Bourdieu (2000a: 63) zur Unterscheidung zwischen heilig und profan, sondern der radikale Gegensatz zwischen denen, die im religiösen Feld als Priester Monopolstellung erlangt haben und den Laien, die als dem Heiligen „fremd“ gelten. Damit stehen für Borudieu im Anschluss an Weber und Marx durch religiöse Arbeit reproduzierte Machtdifferenziale und nicht das Soziale oder in der Interaktion erzeugte Emotionen am Anfang von Religion.

In seinen praxistheoretisch bedeutsamen Werken verweist Bourdieu allerdings wiederholt und meist nicht abgrenzend, sondern positiv auf Durkheim. Dies beispielsweise, wenn es um die Unbewusstheit geht, die Menschen über die Vergangenheit haben, die sie und ihre Gegenwart hervorbringen (vgl. Bourdieu 1993: 105). An anderer Stelle ordnet Bourdieu Durkheim jedoch wiederum einem objektivistischen Funktionalismus zu, dem er mit seiner Praxeologie entgegentritt (vgl. Bourdieu 1993: 175–176, 2009: 256).

Während Bourdieu in seiner Praxeologie also kaum an Durkheim anschliesst, findet sich ein explizit an Durkheim anschliessendes und von Garfinkel beinflusstes Praxisverständnis bei Anne Rawls. Ihr Ausgangspunkt sind Durkheims Ausführungen zu Handlungen und Ritualen in den Formes. Hier zieht Rawls (2004: 142) eine Parallele von Durkheim, der soziale Vorgänge und nicht „belief systems“ im Zentrum der sozialen Welt sehe, zu Wittgenstein, der Gebrauch und nicht Referenz im Zentrum von Sprache sehe.

Das führt sie im Anschluss an Garfinkel zu einer Durkheiminterpretation, die im Gegensatz zu derjenigen des Strukturfunktionalismus steht und in der nicht Werte oder explizite Regeln, sondern lokale Ordnungen von Praxis im Zentrum stehen. Glaubenssysteme (Ideologie), so Rawls in einem mit Bonnie Wright (2005: 188) verfassten Text, basieren auf darunterliegenden „systems of witnessably enacted practice (praxis) in Garfinkel’s terms“. Glaubensvorstellungen sind dabei nur ein „second order phenomenon“ (Wright und Rawls 2005: 191). Damit bietet sie eine Durkheimlesart an, die durchaus in Richtung der oben referierten Praxistheorien anschlussfähig ist und weiter unten noch eingehender diskutiert wird (siehe Abschn. 2.6.3.3).

Mit Garfinkel und dessen Ethnomethodologie im Hintergrund gerät eine Position wie diejenige Rawls’ aus der Perspektive Bourdieus in den Verdacht, dem „Interaktionismus“ und „Subjektivismus“ anzugehören und damit genau einer Position, die seine Praxistheorie vermeiden möchte. Unbestreitbar spielt Interaktion bei Rawls eine zentrale Rolle : Die Wahrnehmung des Handelns Anderer und damit kollokale Interaktion steht im Zentrum ihrer Ausführungen und Analysen zu Praxis. Damit ist jedoch nicht zwingend ein Subjektivismus verbunden. Es wird im eben genannten Abschn. 2.6.3.3 zu diskutieren sein, ob unter Vermeidung eines Objektivismus Elemente einer entsprechenden Durkheimlesart in ein Verständnis von Praxis einfliessen können, mit denen sich der im Fazit zu diskutierenden Kritik an Bourdieus Position, nämlich objektivistisch zu sein, entgegenwirken liesse. Auch wenn Durkheim nicht zu den Klassikern der Praxistheorie gehört, könnte es sich also lohnen, ihn hier ins Spiel zu bringen.

2.2.3 Kritik an Bourdieus Praxisverständnis

2.2.3.1 Objektivismus

Praxistheoretische Konzeptionen werden ihrerseits kritisch diskutiert, wobei das Praxisverständnis Bourdieus insbesondere mit dem Vorwurf des „Objektivismus“ oder des „Strukturalismus“ – also Ansätzen, von denen er sich seinerseits abgrenzt – belegt wird. Letztlich werde der Handlungsfreiheit des Individuums nicht genügend Rechnung getragen, kritisiert beispielsweise Jeffrey Alexander (1995) an Bordieus Position. Während solche Kritik von Alexander, der im Anschluss an Talcott Parsons eine voluntaristische Handlungstheorie fordert, wenig überrascht, ist es doch bemerkenswert, dass innerhalb der praxistheoretischen Diskussionen ähnliche Kritikpunkte formuliert werden: Theodore Schatzki (2002: 45) kritisiert Bourdieu wie auch Giddens als Vertreter eines Strukturalismus. Entsprechende Konzeptionen würden abstrakte Strukturen in der Konstitution der sozialen Welt am Werke sehen, ohne deren Funktionieren zu erläutern. Die dabei identifizierten Regeln und RessourcenFootnote 32 würden, oft sogar prinzipiell in binärer Form, als in den Handelnden und ihrem praktischen Bewusstsein auf geheimnisvolle Art und Weise eingebettet gesehen: „These sets and families resemble grammatical rules conceived of as nonconscious principles governing linguistic understanding.“ (Schatzki 2002: 95). Wie, fragt Schatzki aus philosophischer Perspektive, seien denn entsprechende virtuelle Strukturen fähig, wirkliche Verhältnisse zu verändern?

„I have (\(\ldots \)) grown suspicious of ‚virtual‘ structures that allegedly configure sociality without being contained in some causal or governing factor or mechanism at work in social life.“ (Schatzki 2002: 95)

Praxistheoretisch, hier ist Schatzki beizupflichten, wäre dies ein Rückfall in ein Konzept der „Hervorbringung ohne Hervorbringer“ (Bourdieu 1993: 76).

Was lässt sich aus einer Bourdieu folgenden Perspektive darauf entgegnen? Zunächst einmal kann mit Bourdieu auf die Unvermeidbarkeit einer gewissen „Künstlichkeit“ wissenschaftlicher Beobachtungen, auch praxistheoretischer, hingewiesen werden. Bourdieu anerkennt die Konstruktionstätigkeit des Wissenschaftlers in der Explikation von Regeln (siehe Abschn. 2.2.2.2). Dabei führt das Ziel, Handlungen auf Ursachen zurückzuführen, die den Individuen nicht bewusst sind, zwangsläufig zu einem gewissen objektivistischen Einschlag einer Praxistheorie: Trotz ihrer Unerkanntheit durch die Handelnden, sind diese Strukturen jedoch nicht virtuell im Sinne von Schatzkis Kritik, sondern real: Herrschaftsverhältnisse, die Verteilung von Ressourcen und Kenntnissen sind nicht weniger wirklich, als es bewusste Motivationen und Ziele von Handelnden sind. Es muss also, um Schatzkis Kritik zu berücksichtigen, der unbewussten Übersetzung dieser Strukturen ins Handeln Rechnung getragen werden.

Dass die Handelnden selbst ebenfalls ein Bewusstsein ihres Handelns haben, wird zudem nicht einfach ausgeblendet; mit Bourdieu ist auch der Sinnhaftigkeit des Gegenstands durchaus Rechnung zu tragen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, das betont Bourdieu (2009: 158 Fn 25), die Frage der Ebenen und der Relationen der wissenschaftlichen Beobachtung zu den emischen Begrifflichkeiten. Auch auf der emischen Ebene finden sich Konzepte und Explikationen und diese sind ihrerseits für das Handeln relevant. Zum Gegenstand des Sozialwissenschaftlers gehören subjektive Sichtweisen auf die Verhältnisse, die der Wissenschaftler seinerseits beobachtet und benennt. Diese Anerkennung der subjektiven Sichtweisen werde, so kritisiert Bourdieu, durch eine objektivistische Perspektive vernachlässigt. Sie müsse deshalb „in ihre vollständige Definition des Gegenstands die ursprünglichen Vorstellungen über den Gegenstand wieder einfügen, die sie zunächst aufheben musste, um zur ‚objektiven‘ Definition zu gelangen.“ (Bourdieu 1993: 246). Individuen sind, so versucht nun Bourdieu dem Rechnung zu tragen, nicht durch ihr Sein definiert, sondern durch das, was sie sind, ihr „wahrgenommenes Sein“ (Bourdieu 1993: 246). Bourdieu anerkennt also durchaus die „sinnhafte Qualität“ seines Gegenstandes und sieht sie als den Gegenstand mitbestimmenden Faktor und damit als notwendigen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung von Praxis.

2.2.3.2 Materialismus

Vor dem Hintergrund der Objektivismus-Kritik ist weiter danach zu fragen, ob eine Praxistheorie nach Bourdieu nicht als Materialismus zu kritisieren wäre. Als Beispiel einer einleuchtenden Kritik an einem deterministischen Materialismus können die kritischen Anfragen gelten, die Laclau und Mouffe (1991) an Louis Althusser üben. Diese sind damit zwar nicht gegen Bourdieu gerichtet, aber gegen einen Autor, der wie Bourdieu Strukturalismus und Marxismus mit der Anerkennung der Deutungsebene oder, in anderen Worten, des Faktors „Kultur“, verbindet. Althusser habe mit Letzterem zwar, das erkennen Laclau und Mouffe an, einen nicht-determinierten Bereich des Symbolischen vorgesehen. Und dieser sei ihm zufolge zudem als „überdeterminiert“, in dem Sinn zu bezeichnen, dass es verschiedene mögliche Bestimmungen gäbe. Damit habe Althusser Kultur eigentlich gerade als nicht durch einen anderen Faktor determiniert konzipiert. Mit Aussagen über die Ubiquität der wesentlichen Bestimmung von Gesellschaften durch die Ökonomie ordne Althusser aber diese Unbestimmtheit dann doch wieder einer determinierenden und essenzialistisch verstandenen Ökonomie unter: Die kontingenten Variationen des Symbolischen seien den wesentlichen Determinationen der die Materialität regulierenden Wirtschaft letztlich untergeordnet (vgl. Laclau und Mouffe 1991: 147). Die Frage stellt sich, ob Bourdieu einen ähnlichen Fehler macht.

Wie im Abschn. 2.6 noch ausführlich zu zeigen sein wird, verzichtet die Praxistheorie auf eine Gegenüberstellung von Struktur und Bedeutung, die die Ausgangslage für kulturalistische Konzeptionen wie z. B. die Rede von Symbolsystemen darstellen kann. Damit erlaubt sie es auch, die scheinbar dem Kulturalismus gegensätzliche Position zu vermeiden, die Laclau und Mouffe bei Althusser feststellen. Bei einer solchen Position haben letztlich die materiellen Verhältnisse determinierenden Charakter, während die davon grundsätzlich unterschiedenen immateriellen Verhältnisse, zu denen die symbolischen Bezüge zu zählen sind, dem trotz (oder vielleicht gerade wegen) ihrer „Überdetermination“ wenig entgegenzusetzen haben. Die Identifikation und Anerkennung einer symbolischen Welt und ihre grundsätzliche Unterscheidung von einer materiellen Welt ist die Ausgangslage dafür, dass erstere als durch die objektiven und materiellen Verhältnisse letzterer bestimmt gesehen werden kann. Das heisst, dass der bei Althusser kritisierte Materialismus auf der dichotomen Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Materiellen beruht, die praxistheoretisch nicht zu ziehen ist. Wenn es eine Praxistheorie schafft, diese Dichotomie zu vermeiden, ohne dass dies bedeuten würde, nur die eine Seite des so von anderen Autoren Getrennten zu berücksichtigen, liesse sich die Materialismus-Kritik vermeiden. Und mit Bourdieu ist von einer solchen Untrennbarkeit symbolischer und materieller Verhältnisse auszugehen, so sieht er beispielsweise Glauben als inkorporierte und damit auch materiell konstituierte Angelegenheit (siehe ausführlicher Abschn. 2.6.4.1; vgl. auch Gartman 2007: 383).

Schatzki (1997: 298) befragt die Ansätze von Bourdieu und Giddens ebenfalls bezüglich Materialismus kritisch. Er betont, dass im Gegensatz zum Bild materialistischer Konzeptionen auch der Bezug und Einsatz von Ressourcen regelhaft vermittelt geschieht, womit nicht von einer direkten, irgendwie objektiven Wirkung von Materiellem ausgegangen werden kann. Wenn nun – und dies scheint das Praxisverständnis Bourdieus nahezulegen – die Praktiken durch Verzicht auf die entsprechende Unterscheidung weder rein materiell noch rein symbolisch zu verstehen sind, sind die dadurch hervorgebrachten Strukturen, zu denen auch die Verteilung materieller Ressourcen gehört, in ihrer Konstitution nicht alleine einer materiellen Welt zuzuordnen. Damit liesse sich auch dieser Kritik Schatzkis mit Bourdieu Rechnung tragen: Auch materielle Verhältnisse sind Resultat sozial geregelter Praktiken.

2.2.3.3 Homologe Strukturen

Mit der Aufgabe des Dualismus zwischen Materialität und Symbolik haben sich die kritischen Anfragen von Laclau und Mouffe jedoch nicht notwendigerweise erledigt: Der Grundsatz ihrer Kritik richtet sich, so Laclau (1990: 92), gegen die „non-recognition of the precarious character of any positivity, of the impossibility of any ultimate suture.“ Der Strukturalismus habe zwar die Relationalität aller Identitäten erkannt, sie jedoch zu einem System zusammengefügt und damit ein fixiertes Bild von Gesellschaft erzeugt. Auch diese Kritik richtet sich gegen marxistische Positionen wie diejenige Althussers, die Ideologie, also den symbolischen Überbau, unter anderem unter Rückgriff auf den Strukturalismus einbezieht, und nicht direkt gegen Bourdieu. Nicht nur die Verwandtschaft seiner Position mit der Unternehmung Althussers, sondern auch die von anderen Autoren an ihm geübte Kritik legen es aber auch hier nahe, weiterzufragen.

So gerät beispielsweise sein Konzept des Habitus in die Kritik. Über dieses werde sein Ansatz zurück in objektivistische Gefilde geführt. Es handle sich, so ein Bourdieus Theorie durchaus zugeneigter Autor wie William Sewell (1992: 16) um ein „unified and totalized concept (\(\ldots \)) which he conceptualizes as a vast series of strictly homologous structures encompassing all of social experience.“ Letztlich sei, so Sewell, Bourdieus Habitus-Konzept nicht in der Lage, „structural change“ zu thematisieren. Die Dispositionen bestimmen das Handeln. Sie sind von den Strukturen bestimmt, die die Dispositionen prägen, und von der Praxis des Handelns reproduziert, die sie bestimmen.

Bourdieu selbst (z. B. Bourdieu und Wacquant 2006: 165–171) verwehrt sich gegen diese Kritik. Und Gartman (2007: 388–390) sieht, die bereits erwähnte Kritik Alexanders an einem „ökonomischen Determinismus“ ablehnend, gerade in Begriffen wie Habitus und Feld die Berücksichtigung von Kontingenz: Der Habitus ermögliche gerade die Verkennung von ökonomischen Verhältnissen, da er letztere, beispielsweise konstituiert in der Verteilung von ökonomischem Kapital, nicht einfach so wiedergibt. So führe dasselbe Einkommen bei Personen unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit zu unterschiedlichem Konsumverhalten – Habitus wäre damit gerade ein Faktor, der rein ökonomische Determinationen verunmöglicht. Schliesslich anerkennt aber auch Gartman (2007: 399), dass Bourdieu keine befriedigende Theorie des sozialen Wandels ausgearbeitet habe: Selbst wenn Bourdieu die soziale Welt als ein durch Kämpfe gekennzeichnetes Feld sehe, würden die darin involvierten Kämpfer sich innerhalb der Regeln des Feldes bewegen und von Interessen geleitet werden, die ihnen von Struktur und Habitus auferlegt seien.Footnote 33 Mit einem solchen Modell wird die Autonomie des Individuums nicht berücksichtigt. Evens (1999: 13) sieht den Habitusbegriff Bourdieus noch kritischer und zwar als „feedback loop“, der die Praxis an der Struktur ausrichten und im Sinne einer geradezu evolutionistischen Logik den Akteur letztlich ausblenden würde. Wie Wacquant (Bourdieu und Wacquant 2006: 166) schliesst, werden sich letztlich die Bourdieu-Interpreten hinsichtlich der Frage, ob Habitus ein deterministisches Konzept darstellt, nicht einig.

Aus einer praxistheoretischen Perspektive wiegt der Verdacht, dass die Autonomie des Subjekts aufgegeben wurde, nicht so schwer und durch die Aufgabe des Kultur-Struktur-Dualismus scheint auch die Frage der Gewichtung der beiden Seiten, die beispielsweise Gartmans Diskussion umtreibt, nicht zentral. Entscheidend ist jedoch, ob der Praxis als Aktivität Rechnung getragen wird, oder ob sie als blosse Realisierung von Habitus oder Struktur gesehen wird. Würde dies zutreffen, wäre Praxis bloss noch Indikator für etwas Grundlegenderes. Zunächst ist der Habitus nur als Disposition zu verstehen, die mit einer Tendenz oder Wahrscheinlichkeit verbunden ist, dass auf eine bestimmte Art und Weise gehandelt wird. Auch wenn diese Dispositionen praktisch zum Zug kommen, ist jedoch mit Bourdieu Praxis nicht als determiniert zu sehen: In ihrem Vollzug interagieren verschiedene Individuen, die zwar sozial in ihren Interessen, Fähigkeiten und Kapitalausstattungen bestimmt werden und damit auch bestimmte Dispositionen aufweisen, in ihrer räumlich und zeitlich konstituierten Interaktion tauchen jedoch Unschärfen auf. Es kommt nicht nur zu Konkurrenzen, sondern auch zu Fehlern – und schliesslich bestehen die Regeln, denen diese Personen folgen, nicht aus schriftlichen Vorgaben. Praxis hat damit den Charakter der Improvisation, gespielt wird ohne Noten.

Aus praxistheoretischer Perspektive ist bezüglich des Determinismusvorwurfes dennoch zu schliessen, dass die Beobachtung und Analyse von durch solche Regeln geformten Praktiken weniger problematisch scheint als der Versuch, den Habitus bestimmter Gruppen zu eruieren, der diese strukturiert, aber eher indirekt zu erschliessen und mittels einer Praxis der Logik zu destillieren ist. Gerade, dass „Habitus“ konsequent im Singular verwendet wird, scheint auf ein implizites Konzept von Konsistenz hinzudeuten. Anthony King (2000: 431) sieht das Habitus-Konzept deshalb als Rückfall in den Objektivismus und sieht es letztlich mit Bourdieus Praxistheorie als unvereinbar an. Im Folgenden soll dieser Einschätzung insofern Rechnung getragen werden, als der Blick auf Ritualen liegt und damit ganz den Aktivitäten gilt und diese als durch Habitus oder Struktur beeinflusst aber nicht bestimmt gelten: Die Dynamiken der rituellen Praxis stehen am Anfang und im Zentrum der Untersuchung.

Ein weiterer Verdacht gegenüber Bourdieus Position sei zum Schluss noch angeführt: Bourdieu habe ein zu starres Modell von Denken und Handeln, mit der Folge, dass so der Reflexivität von Individuen nicht genügend Rechnung getragen werden könne. Die Ursache davon wird darin gesehen, dass Bourdieu seine Theorie an gemeinschaftlich verfassten Gegenständen wie den Kabylen entwickelt habe, von denen er nun auf komplexere Gegenstände wie moderne Gesellschaften schliesse:Footnote 34

„In many ways, Bourdieu never ceased to be an anthropologist and le sens pratique is close cousin to the Azande (\(\ldots \)), so enmeshed in the strands of their own coherent culture as to be unable to question their own thinking and incapable of acquiring the requisite distance for being reflexive about their own things.“ (Archer 2010a: 292; Hervorhebung im Original).

Ist also ein entsprechendes Verständnis einer sozialen Welt, die durch stark geordnete und körperlich konstituierte habituelle Praxis strukturiert ist, modernen sozialen Verhältnissen angemessen? Dieser Vorwurf ist zunächst einmal zu allgemein, als dass ihm in wenigen Zeilen begegnet werden könnte. Auch Bourdieus Studien zum Frankreich seiner Zeit räumen den Vorwurf nicht aus, da gerade aus religionswissenschaftlicher Sicht auffällig ist, wie er dieses als durch eine Religion, den römischen Katholizismus, geprägt sieht und so beispielsweise der religiösen Diversität moderner Gesellschaft wenig Rechnung trägt. Der blosse Verdacht legt nahe, den Kontext moderner Gesellschaft, in denen die untersuchten rituellen Praktiken situiert sind, in die Analyse einzubeziehen (siehe vor allem Abschn. 5.1) und das auch mit gesellschaftstheoretischen Referenzen, die zunächst einmal mit einem praxistheoretischen Ansatz wenig verwandt scheinen.

2.3 Ritual

Mit Ritualen beschäftigen sich Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen mit einer Vielzahl verschiedener Ansätze und Ritualverständnisse. Auch die als „Ritualtheorie“ bezeichneten Bemühungen interdisziplinärer Verknüpfungen liefern kein einheitliches Ritualverständnis. In der Vielfalt finden sich Herangehensweisen mit weiten Ritualdefinitionen, mit denen Ritual als eine universale Dimension menschlichen Handelns erfasst wird (z. B. Wuthnow 1987: 109; Collins 2004) und solchen, die spezifische Formen von Interaktionen als Rituale definieren (z. B. Tambiah 1981: 119; Giesen 1999: 83).Footnote 35

Während Durkheim ein Klassiker der Ritualtheorie darstellt, wird auf seine Ritualdefinition wenig zurückgegriffen, dies wohl mit guten Gründen (vgl. Pickering 2009: 329). Durkheim definiert Ritual wie folgt:

„Riten schliesslich sind Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat.“ (Durkheim 1994: 67, 56)

Damit expliziert er einerseits ein sehr breites Verständnis, so kann das Ausüben der Pflicht gegenüber dem Nächsten ebenfalls als Ritual bezeichnet werden (vgl. 2009: 327). Das deutet darauf hin, dass Durkheim selbst bei Ritual eher an eine allgemeine Praxis als nur an bestimmte geregelte und isolierte Handlungszusammenhänge dachte. Spezifiziert wird das Verständnis aber durch den Einbezug der „choses sacrées“, was auf eine Nähe des Ritual- zum Religionsverständnis hinweist, die Qualifikation von Ritualen als „religiös“ wird damit hinfällig. Die Breite von Durkheims Ritualbegriff und seine gleichzeitige Nähe zum Religionsbegriff sind Argumente, die deutlich gegen seine Übernahme in der vorliegenden Untersuchung sprechen.

Praxistheoretisch ebenfalls verdächtig sind Ritualtheorien, die die auch bei Durkheim zentrale Unterscheidung zwischen Glaubensvorstellungen und Ritualen übernehmen. Zahlreiche Ritualtheorien bauen, so bemerkt Catherine Bell (1992: 35), auf Dichotomien wie Kultur/Struktur, Glaubensüberzeugungen/Ritual, Denken/Handeln, Rationalität/Irrationalität auf. Ohne diesen Unterscheidungen einen heuristischen Wert und die Fähigkeit der Theoriegenerierung abzusprechen, fordert Bell ihre Ablösung als Basis von Ritualtheorien: Mit ihnen würde das Feld a priori theoretisch differenziert, wobei in den jeweils folgenden empirischen Beobachtungen festgestellt werde, dass das Getrennte wieder zusammen kommt. Dieses Zusammenbringen werde als Funktion von Ritualen identifiziert und dieser Einsicht der Stellenwert eines Resultats gegeben. Tatsächlich würde jedoch lediglich die empirische Beobachtung die theoretisch eingeführten Dichotomien verneinen (vgl. Bell 1992: 19–66, 1997: 76–83).Footnote 36

Ein Weg der Vermeidung dieser Dichotomie wären performance-Theorien. In diesen werden Glaubensvorstellungen (z. B. kosmologische Konstrukte) und rituelle Handlungen als in der Performanz verbunden gesehen:

„But the clue for synthesizing this seeming antinomy [between cosmological constructs and rituals; Anm. RW] has already revealed itself to us, in fact that cosmological constructs are embedded (of course not exclusively) in rites, and that rites in turn enact and incarnate cosmological conceptions.“ (Tambiah 1981: 229)

Der Vollzug von Ritualen wird nicht als Verweis, sondern als in sich selbst sinnhaft und strukturierend gesehen, wie das Zitat zeigt, die Dichotomie jedoch nicht definitiv abgelegt.Footnote 37 Im Gegensatz dazu sind Praxistheorien, so Bell (1997: 76) „less interested in specific types of acts, such as ritual or dance, and more interested in how cultural activity in general works.“ Beispielsweise weist Bourdieu (1993: 418) darauf hin, dass das Mass der Legitimität und sozialen Bedeutung eines Ritus an der kollektiven Organisationsform gemessen werden kann, auf die er angewiesen ist. Ein Verständnis von Ritual, das sich an den hier verwendeten Praxistheorien orientiert, ist dasjenige von Catherine Bell – auf sie soll hier zurückgegriffen werden.

2.3.1 Ritualisierung

Catherine Bell lehnt die Definition bestimmter Aktivitäten als „Rituale“ und damit deren Reifizierung als „special paradigmatic acts“ (Bell 1992: 7) ab und ersetzt sie durch ein Verständnis ritualisierter Praxis. Diese unterscheidet sich in ihrem Vollzug von anderen Praktiken durch Eigenschaften, die Bell mit dem Begriff der „Ritualisierung“ fasst. Praxis kann dabei mehr oder weniger ritualisiert sein (vgl. Bell 1992: 90). Bell (1997: 138; 1992: 91) zufolge ist Ritualisierung ein Vorgang einer bestimmten Strukturierung von Praxis, sie führt zu ihrer Ausdifferenzierung in einer bestimmten Form und zur Privilegierung ihrer Stellung.

Ritualisierung ist also bei Bell nicht nur ein Massstab für die Ausprägung bestimmter Eigenschaften von Praxis, vielmehr handelt es sich darüber hinaus um einen Vorgang, mittels dessen im Feld selbst Praktiken in Richtung bestimmter formaler Merkmale strukturiert, eben ritualisiert werden. Damit strebt Bell an, Rituale in ihrem Entstehungs- und Wirkzusammenhang zu analysieren und nicht aus wissenschaftlicher Perspektive über eine a priori Kategorie als bestimmte Eigenschaft zu charakterisieren. Das heisst die Methoden, Traditionen und Strategien der Ritualisierung (vgl. Bell 1997: 138) sind im Gegenstand beobachtbare Phänomene.

Ritualisierung, wie sie im Folgenden verstanden wird, äussert sich in einer Reihe von Merkmalen in mehreren Dimensionen. Für die Frage nach der Definition kann damit die Problematik abschliessender Definition durch den Verweis auf Familienähnlichkeiten (vgl. Wittgenstein 1999: § 67) ersetzt werden: Beispielsweise kann das oft genannte Merkmal der Repetition als eine solche Ähnlichkeit gesehen werden, ohne dass die Möglichkeit für „einmalig stattfindende Rituale“ definitorisch verbaut wird (vgl. Goffman 1982: 42–45).Footnote 38 Damit gilt auch, wie Rappaport (1999: 26) festhält, dass die einzelnen Merkmale von Ritualen, wozu er u. a. Formalität und Repetitivität zählt, nicht exklusiv bei Ritualen vorkommen.

Zu Kriterien von Ritualisierung sollen in der Folge formale Eigenschaften der rituellen Praxis erhoben werden: Im Anschluss an Catherine Bell und mit Anleihen bei Roy Rappaport und Maurice Bloch sind dies Formalisierung, Tradition und Repetitivität. Auf die Nennung bestimmter inhaltlicher Spezifika von Ritualen wird dabei nicht zurückgegriffen. Damit wird einerseits darauf verzichtet, bestimmte inhaltliche Bezüge (wie z. B. „Heiligkeit“) oder bestimmte Zwecke bzw. gerade das Ausbleiben von Zwecken (wie z. B. bei „nicht-instrumentalem Handeln“) als Ansatzpunkt für Ritualdefinitionen herbeizuziehen (vgl. Rappaport 1999: 29). Hinsichtlich des letzteren Punktes stellt sich die Frage, ob mit den drei genannten Kriterien nicht doch eine Spezifikation bezüglich Zweck Einzug hält: Dies stimmt insofern, als die Art und Weise des Ritualvollzugs, so wie er über die drei Dimensionen als ritualisiert verstanden wird, sich nicht an der Beobachtung der Umwelt, sondern den Regeln des eigenen Ablaufs orientiert – insofern wird die Diagnose des Ausbleibens einer „technischen“ Orientierung an bestimmten Umweltveränderungen, die sich in zahlreichen Ritualdefinitionen finden, übernommen. Gleichzeitig findet eine solche Übernahme jedoch insofern nicht statt, als dass die Frage, wofür das Ritual durchgeführt wird (z. B. Tradition oder Bemühung der Tradition zur Verfolgung spezifischer Zwecke hinsichtlich der Veränderung der Umwelt des Rituals) nicht in die Ritualdefinition einbezogen wird. Das heisst der Kontext von Zwecken, Motivationen, Deutungen, Funktionen wird für die Definitionsfrage ausgeklammert, stattdessen setzen die Kriterien am Ablauf der ritualisierten Praxis an.

Genausowenig wie auf intendierte Zwecke wird auf die Berücksichtigung unintendierter Konsequenzen, also Funktionen, verwiesen. Damit werden weder therapeutische Folgen für das Individuum noch solidaritätsstiftende Folgen für einen sozialen Zusammenhang Teil der Definition, dies aufgrund einer Problematik, die im Abschn. 2.4 ausführlich diskutiert wird: Entsprechende funktionale Definitionen sind genauso normativ beeinflusst wie inhaltliche, dies über die durch den Wissenschaftler erfolgende Festlegung eines Standards, auf den hin eine Funktion ausgeübt wird.

2.3.1.1 Formalisierung

Maurice Bloch (1989a) diskutiert anhand ritueller Sprache die Formalisierung von Handlungen. Ritueller Sprachgebrauch, z. B. in Form von Segenswünschen, Zauberformeln und Gesang, zeichnet sich durch ein eingeschränktes Vokabular aus. Sowohl die Auswahl der Äusserungen selbst, als auch die Verortung der sprachlichen Elemente im Ritual werden an eine als traditionell empfundene Struktur gebunden. Im von Bloch ausgeführten Beispiel wird diese Sprache von den am Ritual Beteiligten als blosse Wiedergabe der Äusserungen von Ahnen gesehen (vgl. Bloch 1989a: 22–23). Sowohl die Möglichkeiten was als auch wie es gesagt werden kann, sind durch Rückgriff auf Tradition und der damit verbundenen Notwendigkeit der Herstellung richtiger Anschlüsse in Ritualen beschränkt. Weitere Beispiele sind Beschwörungsformeln oder Begrüssungen, in welchen die bestimmten Äusserungen zugeschriebene Wirkung den Ritualvollzug an eine bestimmte Form bindet (vgl. Bell 1997: 142): „The ceremonial trappings of a highly formalized situation seem to catch the actors so that they are unable to resist the demands made on them.“ (Bloch 1989a: 24; Hervorhebung im Original).Footnote 39 Allenfalls involvierte Ritualexperten (z. B. Priester) sind dabei ebenfalls dieser Formalität unterworfen, auch für sie tritt die Möglichkeit individueller Entscheidungen oder des Ausdrucks individueller Gefühle hinter die Befolgung ritueller Regeln zurück (vgl. Bloch 1989a: 36; Tambiah 1981: 123).Footnote 40

Mit Rappaport (1999: 34) ist Formalität als graduelles Merkmal von Handeln zu sehen: Von stilisierten Floskeln in alltäglichen, wenig vorgegebenen Gesprächen, bis zu religiösen Ritualen ohne Improvisationsmöglichkeiten sind die formalen Vorgaben unterschiedlich. Hilfreich ist Rappaports Kriterium, den Stellenwert der Formalität einer Aktivität darüber zu beurteilen, wie entbehrlich formalisierte bzw. nicht-formalisierte Elemente für die Fortsetzung einer Kommunikation sind: Eine katholische Messe funktioniert, auch wenn die freie Predigt scheitert, sie ist dagegen auf die formalisierten Handlungen im Rahmen der Wandlung und der Kommunion angewiesen, ein Talkshow-Runde kann eher auf die Einstiegsfloskeln als auf die freien Beiträge verzichten. Entsprechende Urteile hängen von der Perspektive ab, unter der die ritualisierte Praxis als Akt im Sinne eines glossings bezeichnet wird (siehe dazu die Abschn. 2.3.1.5 und 2.2.2.3).

2.3.1.2 Traditionalismus

Rituelles Handeln basiert gemäss Bloch (1989b: 24) gerade in seiner Formalität auf einer traditionellen Geltung. Es beruht auf einer Form der Herrschaft, die „auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen“ (Weber 1972: 124) gründet. Diese Geltung kann als „automatische“ Fortsetzung einer eingelebten Gewohnheit erfolgen, aber auch als explizite Anerkennung bestimmter Handlungen als Fortsetzung einer Tradition. Während die jeweilige Traditionalität einer rituellen Praxis mehr im einen oder anderen Modus gründen dürfte, soll hier kurz der Unterschied expliziert werden:

  1. 1.

    Traditionales Handeln im Sinne von Max Webers Idealtypus funktioniert entlang der „Geltung des immer Gewesenen“ (Weber 1972: 19), es handelt sich um „eingelebte Gewohnheit“ (Weber 1972: 12). Traditionales Handeln wird dabei als unhinterfragte Wiederholung vorhergehenden Handelns gesehen und steht damit „(\(\ldots \)) ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ein ‚sinnhaft‘ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann.“ (Weber 1972: 12). Auch Bourdieu rückt Rituale in die Nähe des traditionalen Handelns und damit an den Rand dessen, was von den Handelnden bewusst mit Sinn verbunden wird. Auf seinem Praxisverständnis aufbauend unterstellt Bourdieu Ritualen eine „immanente Logik“ und nicht die Explikation eines subjektiv gemeinten Sinnes. „Riten als Praktiken sind sich Selbstzweck und finden schon in ihrer Ausführung ihre Erfüllung. Sie sind Akte, die man ausführt, weil ‚es sich so gehört‘, weil ‚das halt so gemacht wird‘, bisweilen aber auch, weil man schlicht nicht anders kann.“ (Bourdieu 1993: 39). In Ritualen drücken sich gemäss Bourdieu Klassifikationsschemata ohne diskursive Explikation aus. Durch die Verunmöglichung von Diskursen im Ritualvollzug kann dieser selbst einerseits als Ausdruck, aber auch als Faktor einer Stabilisierung von Tradition gesehen werden (vgl. Bell 1997: 149).

  2. 2.

    Im Unterschied dazu kann Tradition jedoch auch über den expliziten Bezug auf als althergebracht Geltendes erfolgen. Mit Gerhard Wagner kann von einem Kontinuum zwischen streng traditionalem Verhalten und wertrationalem Handeln gesprochen werden, wobei eine Verschiebung in Richtung auf Letzteres besteht, „(\(\ldots \)) je bewusster die Bindung an das Gewohnte aufrecht erhalten wird, je bewusster an dem [sic] religiösen Eigenwert der Tradition geglaubt wird (\(\ldots \))“ (Wagner 2007: 21; Hervorhebungen RW). Bereits Webers Vorgehen mittels Idealtypen führt ihn zum ausdrücklich Hinweis darauf, dass der Grad der Bewusstheit und damit der Übergang zum wertrationalen Handeln, also durch „bewussten Glauben“ gekennzeichnetes Handeln, fliessend sei (vgl. Weber 1972: 12). Im Anschluss daran geht beispielsweise auch Hervieu-Léger (2000: 87) von einem verschiedenen Mass an Expliziertheit traditioneller Bezüge aus. Dabei geht sie mit Weber einig, dass traditionale Verhältnisse keineswegs starr und unveränderlich sind. Veränderungen können jedoch nicht als Neuheiten mit Legitimität rechnen, sondern ihrerseits durch Referenzen als „von jeher geltend“ (Weber 1972: 131) und höchstens neu erkannt werden.

Der die traditionale Dimension von ritualisierter Praxis bestimmende Vergangenheitsbezug in der zeitlichen Dimension lässt sich Rappaport (1999: 32) folgend auch an der Zuweisung der Urheberschaft dieser Praxis wiederfinden. Rappaport sieht als Merkmal von Ritualen an, das sie nicht von den jeweils Handelnden spezifiziert werden: Die jeweilige Art und Weise der Durchführung wird nicht als durch diejenigen bestimmt, die die jeweilige Praxis gerade vollziehen, behandelt. Diejenigen, die das Ritual vollziehen, sind nicht die Personen, auf die die entsprechenden Festlegungen zurückgeführt werden.

2.3.1.3 Invarianz und Repetition

Von der durch Formalisierung geringen Zahl von Möglichkeiten ausgehend, verweist Bloch auf ein weiteres Merkmal von Ritualen, mit welchem Ritualsequenzen besondere Wichtigkeit verliehen werden kann, die Repetition. Über Wiederholung könne Dauerhaftigkeit und Tradition bestätigt werden (vgl. 1989b: 42; vgl. auch Rappaport 1999: 33).

Auch Bell (1997: 150) betont die Invarianz als Charakteristikum ritueller (Bell spricht vorsichtiger von „ritual-like“) Aktivitäten. Über die blosse Routine bei der Ausübung hinaus sieht Bell den Faktor einer kontrollierten Präzision, Disziplin und Selbstkontrolle des Ablaufs, was beispielsweise einen mönchischen Tagesablauf von Handlungen wie Fensterputzen unterscheidet, die zwar ebenfalls routiniert sind, jedoch typischerweise nicht Gegenstand von Kontrolle und verordneter Disziplin sind – oder höchstens in Bezug auf ihr Resultat, nicht auf ihren Ablauf. Diese Betonung der richtigen Durchführung stellt auch Turnbull (1962) fest: „For them [die Ituri Pygmäen, Anm. RW], the ritual act is the important thing. In their religious rites it is the correct performance of the ceremonial that counts most. If correctly performed it is bound to bring the desired results, regardless of the accompanying thought, if indeed there is any. All attention is focused on the act itself. And it must not only be performed correctly, but with a solemnity that betrays fear.“ Die „präzise Duplizierung von Handlungen“ ist der Massstab, an dem sich die rituell Handelnden orientieren. Im Gegensatz zur „Traditionalität“, so Bell (1997: 153), orientiert sich das Handeln dabei nicht an der Vergangenheit, sondern an der „timeless authority of the group, its doctrines, or its practices“. Angesichts des zweifachen Verständnisses von Traditionalismus wird eine solche Unterscheidung zur Invarianz jedoch erschwert. Vielleicht liesse sich die Differenz dadurch ziehen, dass es nicht blosse Gewohnheit ist, wie im Weber’schen Sinne traditionalen Handelns und auch nicht die explizite Referenz auf einen authentischen Punkt der Vergangenheit, sondern die gezielte Strukturierung des Handelns in Richtung Repetitivität, die nicht der Gewohnheit überlassen, aber auch keiner werthaften Begründung bedarf. Dies würde sich mit Bells Verweis auf Freuds (1940 [1907]) Ausführungen zu Religionsübungen decken, dass die Repetitivität zum Ziel selbst wird.

Auch wenn von Invarianz gesprochen werden kann, sind alle Rituale Gegenstand unabsichtlicher Veränderungen. Rappaport (1999) qualifiziert die Rede von Invarianz durch „more or less“. Ritualisierte Praxis ist nicht so spezifiziert, dass Variation nicht möglich wäre. Bei den meisten Ritualen ist die Teilnehmerschaft unterschiedlich. Rituale sind auch von Paraphernalien umgeben (z. B. Bauten), die unterschiedlich variieren können. Das heisst, dass die Invarianz etwas ist, was von involvierten Personen (seien es die Teilnehmenden selbst oder Leute, die das Ritual anleiten) angestrebt, jedoch nicht völlig realisiert wird.

2.3.1.4 Explikation und Trennschärfe der Dimensionen

Die genannten Dimensionen finden sich immer wieder in der Ritualtheorie – oft in unterschiedlicher Kombination mit weiteren Dimensionen, die hier nicht zur Definition herbeigezogen werden. Es ist nicht immer einfach, die genannten Dimensionen auseinanderzuhalten. Je nach gewähltem Beispiel scheint die Differenzierung zwischen den Dimensionen wenig einleuchtend: Das Tragen bestimmter Kleidungsstücke bei ritualisierten Handlungen kann über die Erfordernisse der Form, diese jedoch als Wiederholung vorheriger Durchführung und gleichzeitig als Fortsetzung von Tradition gesehen werden – analytisch sind diese Differenzen in der Form kaum auseinanderzuhalten.

Die Ausführungen zu den unterschiedlichen Formen von Tradition zeigen, wie eine Lösung aussehen könnte: Tradition als explizites commitment ist durch die Referenz auf als „althergebracht“ geltende Werte leicht erkennbar und von blosser Wiederholung oder der Hingabe an bestimmte Formen problemlos unterscheidbar. Auch hinsichtlich der anderen Formen von Ritualisierung lässt sich von einem Kontinuum von quasi-automatischer Befolgung hin zu erhöhter Bewusstheit sprechen: Die Formalisierung kann in der expliziten Festlegung des Handlungsablaufs auf bestimmte Formen sein, die als angemessen gesehen werden. Andererseits kann Beständigkeit in der Form blosse Konsequenz unreflektierten Verhaltens entlang des Üblichen darstellen. Auch Repetition kann sich aus Gewohnheit ergeben und als das Naheliegendste unreflektiert reproduziert werden oder zu einem eigenen Wert, zum „punctilious concern with repetition“ (Bell 1997: 153) werden, der von der Befolgung von in einer Tradition organisierten Werten und der Beschäftigung mit ausgeklügelten Formen unterschieden werden kann – bei der expliziten Repetition können die bisherigen und folgenden Durchführung des Rituals als Masstab gelten, ein traditioneller Kontext oder eine stilisierte Form sind nicht nötig, das heisst Repetition in expliziter Form stellt eine eigene Dimension dar.

Die Ausprägungen, die Form, Tradition und Invarianz annehmen, sind nur dann trennscharf identifizierbar, wenn sie Teil expliziter Verweise im Feld werden. Ist dies nicht der Fall, ist die entsprechende Trennung ein Resultat der Analyse, die die eine Dimension der Ritualisierung in drei analytische Facetten Form, Tradition und Invarianz auffächert.

Erschwerend kommt hinzu, dass auch im Feld die Explizierung ungleich verteilt sein dürfte: Rituale können Gegenstand theologischer Beobachtungen sein, die möglicherweise deren Form, Traditionsbezug oder Unveränderlichkeit thematisieren – für den wissenschaftlichen Beobachter ist es wichtig, zu sehen, inwiefern entsprechende Differenzierungen einen tatsächlichen Einfluss einerseits auf den rituellen Vollzug und andererseits auf dessen Bezug zur ihn umgebenden sozialen Ordnung haben. Es darf also nicht ohne Weiteres vom theologischen Diskurs der Explikation auf die rituelle Praxis geschlossen werden.

2.3.1.5 Ritualisierung und Ritual

Wie Ronald Grimes (2003: 128) an Catherine Bells Vorschlag, „Ritual“, durch „Ritualisierung“ zu ersetzen, kritisiert, kann damit die Kategorie „Ritual“ nicht gänzlich ersetzt werden. Der Ausdruck „hochgradig ritualisierter Praxis“ ist wenig handlich und sagt zudem Nichts darüber aus, wie bestimmte Handlungssequenzen als Einheit zusammengefasst und bezeichnet werden können. Die Konzeption von Ritualisierung als mehrdimensionales Mehr-oder-Weniger legt es nicht nahe, ein Anfang und Ende einer ritualisierten Praxis auszumachen. Dies erschwert es, bestimmte Handlungssequenzen als „Rituale“ zu bezeichnen. Das ist durchaus eine gewollte Folge des Ritualisierungskonzepts, das sich gegen die Identifikation einer bestimmten Menge von Handlungen als Rituale wandte; es zeigt sich aber auch in Bells eigener Arbeit, dass es sich selbst für eine Theoretikerin der „Ritualisierung“ kaum vermeiden lässt, von „Ritualen“ zu sprechen. Wie können also ein auf Ritualisierung basierendes Ritualverständnis und die Rede von bestimmten „Ritualen“ zusammengebracht werden?

Der Philosoph David Bloor bietet aus einer praxistheoretischen Perspektive seiner Kategorie des glossing eine Lösung für dieses Problem: Die Durchführung einer Handlung sei immer damit verbunden, dass die Handelnden denken, sie würden diese Handlung ausüben. Das heisst, ein Mindestmass an Sinn schreiben die Handelnden ihrem Tun zu, indem sie sich bewusst sind, dass sie die jeweilige Handlung vollziehen. „(\(\ldots \)) there is a class of actions, where M-ing implies that you think you’re M-ing“, schliesst Bloor (2001: 97; Hervorhebungen weggelassen) im Anschluss an G. E. M. Anscombe. Dies lässt sich auch mit Max Webers Unterscheidung von Handeln und Verhalten in Verbindung bringen: Mit Handeln wird, im Gegensatz zum Verhalten, von den Handelnden ein Sinn verbunden, sei es auch nur das Bewusstsein, gerade eine bestimmte Handlung durchzuführen.

Bloor gelingt es dabei, im Anschluss an Wittgenstein entsprechendes Handeln weiterhin als Regelbefolgung verstehen zu können: Das blosse Wissen des Handelnden darüber, welche Handlung er vollzieht, bedeutet nicht, dass er dessen Bedeutung, Zweck, oder explizite Regeln vor Augen hat, die Handlung kann also im Sinne Wittgensteins (1999: § 219) als blindes Befolgen von Regeln gesehen werden. Gleichzeitig zieht diese „minimale“ Zuweisung von Sinn, die Bloor mit glossing bezeichnet, jedoch eine Grenze und identifiziert eine Handlung, bzw. eine Praxis als Einheit. Diese Orientierung am glossing der an einer als ritualisierte Praxis identifizierten Interaktion Beteiligten ermöglicht dem Wissenschaftler die Identifikation von „Ritualen“, nämlich Sequenzen von Aktivitäten, die als Einheit gesehen werden.

2.3.2 Rituale als Praxis

Nachdem die Eigenschaften ritualisierter Praxis charakterisiert wurden, soll die Frage beantwortet werden, welche Akzentsetzungen mit der Betonung von Praxis im Gegensatz etwa zu „Kommunikation“ oder „Performance“ verbunden sind. Erstens ist die Verbindung mit dem Kontext zentral, zweitens wird das Individuum, das im Rahmen ritualisierter Praxis handelt, nicht voluntaristisch konzipiert und schliesslich wird, drittens, die praxistheoretische Alternative zwischen Objektivismus und Interaktionismus/Subjektivismus fruchtbar gemacht.

  1. 1.

    Wichtige Implikation des Praxisansatzes ist der Fokus auf Rituale als durch ihren Kontext strukturierte Angelegenheiten. Das Augenmerk liegt weniger als bei performance-Ansätzen auf den spezifischen Eigenschaften der rituellen Praxis, als in ihrem Bezug zum Kontext,Footnote 41 da dieser als starker Faktor die Aktivitäten sowohl strukturiert, als auch von ihnen strukturiert wird. Dabei sind ritualisierte Praktiken nicht die einzigen, sondern stehen neben anderen Praktiken. Bell begründet diese Position, an Saussure erinnernd, zeichentheoretisch:

    „Semiologically speaking, just as a sign or a text derives its significance by virtue of its relationship to other signs and texts, basic to ritualization is the inherent significance it derives from its interplay and contrast with other practices.“ (Bell 1992: 90)

    Bell betont auch, dass in einer praxistheoretischen Herangehensweise die Vorstellung zentral sei, dass Rituale die Autorität von Kräften durchsetzen, die ausserhalb der unmittelbaren Situation verortet werden (vgl. Bell 1997: 82). Gerade im Anschluss an Bourdieu interessieren Machtdifferenziale und -einflüsse der breiteren sozialen Ordnung und Praxis als ein Faktor ihrer Reproduktion. Bei diesem Fokus handelt es sich jedoch nicht um eine Unvereinbarkeit, denn auch performance-Theoretiker bestreiten nicht die Relevanz des Kontexts oder des Vollzugs, eher handelt es sich um eine unterschiedliche Ausrichtung des wissenschaftlichen Interesses.

  2. 2.

    Im Zusammenhang mit der Betonung der Strukturiertheit steht auch die Rolle des Individuums. Das Individuum wird im Anschluss an Marx, Bourdieu, aber durchaus auch Durkheim (vgl. z. B. in den Règles: Durkheim 1961) oder Giddens (vgl. z. B. 1993: 5) nicht als souveräner Urheber von Handlung gesehen. Dies hält auch Bell so, wobei sie Althusser als Referenz aufgreift: Dieser sieht das Subjekt und dessen Bewusstsein seiner selbst überhaupt erst als Resultat ritueller Vorgänge der „Anrufung“. Die Handlungen mögen materiell auf Subjekte zurückgeführt werden, diese Subjekte handeln jedoch nur, insofern sie durch das System bewegt sind, das die Praxis vorschreibt (vgl. Althusser 1977b: 139). In marxistischem Sinne („Sie wissen das nicht, aber sie thun es.“, Marx 1991: 73) wird dabei von einem relativ hohen Mass an Nichtwissen bei den Handelnden ausgegangen: Die an Ritualen Beteiligten erkennen oft nicht, wie sie durch ihr rituelles Handeln eine Ordnung reproduzieren, die über das Ritual hinausgeht (vgl. Bell 1992: 108).

    Ritualisiertes Handeln kann von den Handelnden nicht mehr vollumfänglich über Entscheidungen bestimmt werden, da beispielsweise die Form vorgegeben und ihre Nicht-Einhaltung entritualisierende Folgen hätte und die Handlung zu etwas ganz anderem machen würde. Diese praxistheoretische Position wird auch von eher diskurstheoretisch ausgerichteten Autoren wie Talal Asad (1993b: 16) auf den Punkt gebracht: „(\(\ldots \)) contrary to the discourse of many radical historians and anthropologists, agent and subject (where the former is the principle of effectivity and the latter of consciousness) do not belong to the same theoretical universe and should not, therefore, be coupled.“ Durch eine solche Kopplung würde, so Asad an gleicher Stelle, die Bedeutung der Bewusstheit überschätzt. Der hier entwickelte praxistheoretische Blick auf Rituale kommt dieser kritischen Anfrage entgegen, wenn aus seiner Perspektive nicht davon ausgegangen wird, dass die Bewusstheit über die Vorgänge das Handeln steuert – sondern möglicherweise bloss gewissermassen als „Zuschauer“ fungiert und Bedeutung „ex post“ zuschreibt. Die Anwendung eines Ritualverständnisses, das solchen Überschätzungen der Bewusstheit entgegenarbeitet, könnte auch bei der Behebung von analogen Problematiken, die Asad beim Religionsbegriff ausmacht, behilflich sein (siehe dazu Abschn. 2.7). Dabei könnte das praxistheoretische Verständnis von „Regeln folgen“, das weder einen „legalistische[n] Formalismus“, also die Befolgung expliziter Regeln bedingt, noch von einer geheimnisvollen „Transzendentalität der Regeln“ ausgeht (vgl. Bourdieu 2009: 159), einen Weg bieten, die Verknüpfung von „Glaubensvorstellungen“ und „Ritualen“ neu zu denken. Dabei könnte insbesondere eine Alternative zu einer kulturwissenschaftlichen Position, für die der frühe/mittlere Geertz paradigmatisch steht, geboten werden. So kritisiert Catherine Bell (1992: 24) die auf Durkheim zurückführbare Betonung der Unterscheidung zwischen „Glaubensvorstellungen“ und „Handlungen“, die im Strukturfunktionalismus und bei Geertz analytisch postuliert wird, um dann real stattfindenden Ritualen die Leistung ihrer Vereinigung zu unterstellen. Mit einem praxistheoretischen Regelverständnis könnte auf eine entsprechende analytische Trennung verzichtet werden. In den kommenden Kapiteln werden diese Leistungen näher zu betrachten sein (siehe auch den Abschn. 2.6 zum Zusammenhang zwischen Ritualen und Glaubensvorstellungen).

  3. 3.

    Schliesslich kann bei der Analyse von Ritualen die praxistheoretische Alternative zwischen Objektivismus und Subjektivismus/Interaktionismus nutzbar gemacht werden (siehe Abschn. 2.2.2.2). Positionen, die Bourdieu dem Objektivismus zuordnet, dürften für Bourdieu gleichzeitig wichtige Einflüsse als auch Kontrastfolien darstellen: Wie bereits im ersten Punkt betont, ist auch für die praxistheoretische Auseinandersetzung mit Ritualen die im Marxismus und im ethnologischen Strukturalismus zentrale Vorstellung, dass einzelne Phänomene Ausdruck übergreifender Strukturen sind, wichtig. Die Frage ist nur, ob eine solche, gegen den Interaktionismus, der die Dynamik der Interaktion als entscheidenden Faktor betrachtet, gerichtete Position, letztlich in einem Konzept einer „Hervorbringung ohne Hervorbringer“ (Bourdieu 1993: 76) resultiert.

Die marxistische Vorstellung, dass es eine sachlich-objektive Wirklichkeit jenseits der Subjektivität gibt, die dabei die Subjektivität und Konzeptionen prägt, war für Marx der Ausgangspunkt für die Zuwendung zur Wirtschaft (vgl. Heinrich 1999: 92). Die Vorstellung, dass es übergreifende Strukturen gibt, deren Ausdruck das einzelne soziale Phänomen ist, ist wiederum ein Ausgangspunkt des ethnologischen Strukturalismus. Auch wenn er einen solchen Objektivismus als Konzept einer „Hervorbringung ohne Hervorbringer“ (vgl. Bourdieu 1993: 76) ablehnte und über ein Konzept der Praxis durch den Aspekt der Aktivität betonte, blieb für Bourdieu die Rede von „objektiven Verhältnissen“ möglich. Diese Verhältnisse führten zu praktischen Zwecken, vom Habitus gesetzten Interessen und in der rituellen Situation erscheinenden Notwendigkeiten, die ihnen einen zwangsläufigen Charakter verleihen (vgl. Bourdieu 2009: 253). Sieht eine entsprechende Perspektive also Rituale als von ihrem Kontext determiniert an? Der in den Ausführungen zur Praxistheorie diskutierte Objektivismus-Verdacht stellt sich auch hier. Eine Ritualtheorie, die ihren Gegenstand nicht als blossen Ausdruck von etwas anderem sehen möchte, könnte mit einem entsprechenden Ansatz wenig anfangen.

Immerhin ist für Bourdieu der rituelle Corpus ein erst in der Praxis an Kohärenz gewinnendes System, das Produkt einer praktischen Beherrschung (modus operandi) (vgl. Bourdieu 2009: 250). Es gibt also keine Ordnung, weder eine symbolische noch eine strukturelle, die dieses System im Voraus determinieren würde. Gerade ihre expliziten Bedeutungen und auch ihre strukturelle Wirksamkeit gewinnen Praktiken nicht im Voraus, sondern erst im Nachhinein. So im Fall des Tausches, „da sich die subjektive Wahrheit der Gabe, wie wir gesehen haben, nur in der Gegengabe erfüllen kann, die sie erst zur Gabe macht“ (Bourdieu 1993: 192). Wie Bourdieu anhand des Beispiels Gabe zeigt, kommt es beim Gabentausch genau auf die zeitliche Verzögerung an. Es geht also gerade nicht um eine „mechanische Verkettung von Handlungen, wie sie gemeinhin mit dem Begriff des Rituals assoziiert werden.“ (Bourdieu 1993: 196). Die vorstrukturierten Interessen und Fähigkeiten mehrerer Akteure führen erst im Rahmen ihrer Verknüpfung im praktischen Vollzug, der von Ungeschicktheiten, Versprechern, Fehleinschätzungen usw. mitbestimmt ist, zur rituellen Praxis. Wenn beispielsweise im Fall ein Gegengeschenk ausbleibt, das Gegengeschenk zu schnell gegeben wird oder die Entfernung von Preisschildern vergessen wird, wird der Charakter der Praxis als Gabentausch zunichte gemacht.

Der Vollzug der Praxis ist mit den involvierten Zufällen, den nicht determinierten Fähigkeiten und Motivationen der Beteiligten also ein Faktor von Kontingenz. Wie oben gezeigt, sind Rituale nicht durch die Subjekte souverän bestimmt, aber sie sind auch nicht objektiv vorgegeben.

2.3.3 Rituale und Sinn

Die eben beschriebene Perspektive, die die Intentionalität in den Hintergrund rückt, kann, im Anschluss an die Kritik an Bourdieu, als Unfähigkeit kritisiert werden, der Ebene der Bedeutung den ihr angebrachten Stellenwert zuzuschreiben (vgl. z. B. Evens 1999: 19, sowie Abschn. 2.2.3.1). Tatsächlich schreibt Bourdieu im Hinblick auf Rituale:

„Sie [Rituale] können genaugenommen weder Sinn noch Funktion haben, es sei denn die Funktion, die in ihrer blossen Existenz impliziert ist, und den Sinn, der objektiv in den Gesten oder Worten, die man ausführt oder spricht, ‚um halt etwas zu sagen oder zu tun‘ (sofern sich nicht ‚etwas anderes gehört‘), oder genauer noch in den Erzeugungsstrukturen enthalten sind, deren Produkt diese Gesten oder Worte sind.“ (Bourdieu 1993: 39)

Der „objektiv“ eingeschriebene Sinn verweist dabei auf die Strukturierung, die rituelle Handlungen haben, da sie in ihrem Ablauf und in ihrer „Funktion“, bzw. den damit verbundenen Konsequenzen, nicht durch Intentionen und Selektionen der Ausübenden entworfen wurden. Einen „subjektiven Sinn“ für die Individuen, die sie durchführen, scheinen Rituale in so einer Perspektive nicht zu haben.

Dem kann mit Verweis auf die praxistheoretischen Anleihen bei David Bloor entgegengehalten werden: Der Handlungsablauf mag nicht von ihren Intentionen geleitet und der „objektive Sinn“ nicht von ihren Meinungen abhängig sein. Dennoch entbehrt rituelles Handeln für die Handelnden nicht jeglichen Sinns, da sie über das „Glossing“ durchaus wissen, was sie tun, ohne dass sie sich über irgendwelche tieferen Bedeutungen oder mögliche Konsequenzen oder sogar Funktionen bewusst sein müssten (siehe Abschn. 2.2.2.3). Auch mit Luhmann, dessen Position gleich noch ausführlicher zur Sprache kommen wird, ist zu schliessen, dass es, obwohl es sich um Kommunikationsvermeidungskommunikation handelt, um eine Selektion im Medium „Sinn“ geht. Durch das Tun von Etwas und das Lassen von Anderem wird eine Selektion getroffen. Sinn ist keineswegs auf diskursive Kommunikation oder auf subjektive Intention angewiesen.Footnote 42

Abgesehen von der Perspektive der Handelnden sind Rituale in andere soziale Praktiken eingebettet, die weniger ritualisiert sind und in denen explizite Deutungen mitgeführt und verhandelt werden. Gerade in Phasen, in denen Selbstverständlichkeiten unstabil werden, werden aus den Selbstverständlichkeiten Selektionen, die im Kontext, aber auch den Ausführenden selbst, explizit bewusst sind. Diese Einbettung wiederum macht es notwendig, dass Ritualtheorie die Bezüge zu nicht-rituellen Formen sozialer Ordnung genauso begrifflich fassen kann wie die rituelle Interaktion selbst.

Hinzu kommt der von Bourdieu bei der Diskussion wissenschaftlicher Aussagen immer mitzudenkende wissenschaftliche Beobachter, der den Ritualen ihrerseits einen Sinn zuschreibt. Damit wird klar, dass der Aussage, dass Rituale keinen Sinn haben, keine Verwandtschaft zu der hier gewählten praxistheoretischen Perspektive zukommt.

2.3.4 Rituale und Kommunikation

Aus einer praxistheoretischen Perspektive, aber auch in der Ritualtheorie Rappaports, werden Rituale als im Vorneherein festgelegte Form von Kommunikation gesehen. Alle drei der oben genannten Dimensionen von Ritualisierung weisen darauf hin: Rituale informieren nicht einfach, sie legen die Antworten fest, betont Rappaport (1999: 113), mit „liturgies do not argue“ fasst er (1999: 252) das später zusammen. Auch Cheal (1992) betont im Anschluss an Moore und Myerhoff, dass Rituale kritisches Nachfragen entmutigen.

Angesichts der Strukturiertheit von Ritualen durch objektive Strukturen und der Tatsache, dass sie in praxistheoretischer Sicht weniger Bedeutungen als Verhältnisse reproduzieren und sogar deren Nicht-Erkennen/Verkennen mitgedacht ist, stellt sich die Frage, inwiefern sie „Kommunikation“ darstellen. Dies scheint ein Gegensatz, da mit diesem Begriff oft Dynamik, Information und Entscheidung von sozialem Geschehen gemeint werden, mitgemeint werden.

Kommunikation ist gemäss Luhmann die Synthese dreier Selektionen, nämlich von Information, Mitteilung und Verstehen (vgl. Luhmann 1984: 196).Footnote 43 Die erste Selektion ist diejenige einer Information aus einem verfügbaren Verweisungshorizont von Sinn. Etwas wird als Information, also als „Neuigkeit“ für den Adressaten, ausgewählt. Die zweite Selektion ist die Wahl eines Mitteilungsverhaltens (wie z. B. einer mündlichen Äusserung). Die dritte Selektion, die des Verstehens, ist einerseits die Unterstellung eines Unterschiedes zwischen Mitteilung und Information, also der Identifikation von Kommunikation als Kommunikation und, darauf basierend, das Verstehen der gewählten Information.Footnote 44 An diese Kommunikation können neue Selektionen anschliessen, beispielsweise als Bestätigung, Widerspruch oder Nachfrage.

Kommunikation ist die Bündelung der drei genannten Selektionen im Medium Sinn.Footnote 45 Faktoren wie die Aufmerksamkeit psychischer Systeme, die Anwesenheit von menschlichen Körpern und die Höhe des Sauerstoffgehalts der Atemluft stellen typische Bedingungen für Kommunikation dar, sie sind jedoch nur Teil der Umwelt dieses sich selbst erzeugenden und an sich selbst anschliessenden Vorganges. Wie der Rest der Umwelt und die Kommunikation selbst, können zudem auch sie – wie gerade eben – in der Kommunikation thematisiert werden, aber auch dadurch werden sie nicht Teil, sondern nur Gegenstand von Kommunikation. Inwiefern kann angesichts von Formalisierung und Repetition bei ritualisierter Praxis von Kommunikation die Rede sein?

Zur Beantwortung dieser Frage ist nach der Differenzierung zwischen Mitteilung und Information zu fragen. In Ritualen findet sich ein Mitteilungsverhalten (beispielsweise in einem Begrüssungsritual die Äusserung von Lauten, die nach „Guter Tag“ tönen), womit etwas davon Verschiedenes gesagt (Information: Es wird ein guter Tag gewünscht). Diese Differenz wird verstanden und es wird ein ähnlicher Spruch entgegnet. Das Begrüssungsritual weist damit die Elemente von Kommunikation aus. Mit Bloch kann dem jedoch entgegengehalten werden, dass die Verarbeitungskapazität von Ritualen gering ist. Anschlüsse sind vorgegeben, von Selektionen könne nicht die Rede sein (vgl. Bloch 1989b: 31; Rappaport 1999: 113). Eine genauere Betrachtung des Beispieles bestätigt diese Interpretation: Der Ablauf der Kommunikation ist standardisiert und es gibt zwar verschiedene Möglichkeiten von Reaktionen auf den Gruss (z. B. „Hallo.“ oder gar „Wie geht’s?“), deren Bandbreite ist jedoch gering und sie sind in ihrer Bedeutung in der Begrüssung identisch. Es scheint nicht darum zu gehen, was genau gewünscht wird oder wie stark das Interesse am Wohlergehen der anderen Person ist. Es werden kaum Möglichkeiten für Selektionen von Informationen oder Mitteilungen eröffnet, beide werden in die Relevanz des Befolgens der rituellen Notwendigkeiten überführt, die das einzige Kriterium für erfolgreiche rituelle Kommunikation darstellt. Es geht darum „(\(\ldots \)) Fehler mit schwerwiegenden Folgen zu vermeiden.“ (Luhmann 1998: 235–236). Durch diese „ceremonial trappings“ rücken Information und Mitteilung nahe zusammen: Es geht darum, dass etwas Bestimmtes gesagt wird, wobei die Differenz dazwischen, was (Information) und wie (Mitteilung) es gesagt wird, beinahe aufgehoben ist. Die Selektion des Mitteilungsverhaltens bei Grussritualen (an bestimmte Personen gerichtete bestimmte sprachliche Äusserungen) deckt sich weitgehend mit der mitgeteilten Information (der gegenseitigen Signalisierung von Anwesenheit und der Anerkennung derselben).Footnote 46 Mit Bloch kann geschlossen werden, dass ein Verhalten wie das Unterlassen des Grusses oder die ausführliche Schilderung des eigenen Befindens eine „Revolution“ und ein Ende des Ritualvollzuges darstellen würde (vgl. Bloch 1989b: 29).

Dies erklärt, wieso ritualisierte Praxis keine hohe Kapazität zur Verarbeitung von Informationen hat, sondern eine Affinität zur Kommunikation einfacher Unterscheidungen oder Zustände aufweist. Die Kommunikation komplexerer, unerwarteter oder auszuhandelnder Informationen bedingt eine grössere Differenz von Information und Mitteilung, wofür die rituelle Praxis verlassen und beispielsweise durch eine Diskussion ersetzt werden müsste. Ritualisierte Praxis zeichnet sich dadurch aus, dass durch sie Komplexität in hohem Masse reduziert und nicht kommuniziert wird. Die Kontingenz von Situationen, also das Bestehen zahlreicher Möglichkeiten und weniger Notwendigkeiten, wird durch die Bereitstellung von notwendigen Anschlüssen reduziert. Rituale, so kann geschlossen werden, stellen zwar Kommunikation dar, diese tendiert jedoch dazu, Kommunikation möglichst zu vermeiden.Footnote 47 Diese Ambivalenz fasst Luhmann (1998: 235) mit dem Begriff der Kommunikationsvermeidungskommunikation.

Durch das Aufzeigen der kommunikativen Dimension von Ritualen und ihrer gleichzeitigen Fähigkeit, Kommunikation zu unterdrücken, kann eine einseitige Betonung von Ritualen als Praxis jenseits jeglicher diskursiver Möglichkeiten umgangen werden. Und es lassen sich kritische Anfragen wie diejenige Tambiahs aufgreifen, der, Bloch kritisierend, betont, dass Rituale nicht jeglichen propositionalen Gehaltes entbehrten (vgl. Tambiah 1981: 132).Footnote 48 Die Rede von „Kommunikationsvermeidungskommunikation“ verweist gleichzeitig auf die Implizitheit ritueller Kommunikation und auf die durch das Stattfinden einer bestimmten Kommunikation einhergehende implizite Verunmöglichung alternativer Kommunikationsformen und -inhalte und, sowie im Sinne Bourdieus (2009: 259), den Ausschluss der freien Deliberation entlang einer begrifflichen Logik.

Zusammenfassend können Rituale als Praxis definiert werden, das heisst als eine in ihrem Ablauf strukturierte und gleichzeitig strukturierende Aktivität. Diese Praxis ist hochgradig ritualisiert, das heisst formalisiert, traditional und repetitiv. Damit stellt sie Kommunikationsvermeidungskommunikation dar, das heisst Kommunikation, die in hohem Masse entlang ihrer praktischen Vorstrukturiertheit verläuft und damit nur beschränkte Möglichkeiten für die Mitteilung von Neuem oder Unerwartetem eröffnet.

2.4 Funktion

Der Zusammenhang von religiösen Ritualen und sozialer Ordnung wird gerade im Anschluss an Durkheim oft als eine funktionale Beziehung charakterisiert. In einem solchen Verständnis tragen Erstere zur Erzeugung und zum Erhalt Letzterer bei. Eine Auseinandersetzung mit besagtem Zusammenhang muss sich deshalb kritisch mit dessen funktionalistischer Thematisierung befassen.

Die Frage nach der Funktion von Religion stand lange im Zentrum der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion, dies insbesondere ausgehend von Durkheim, Malinowski oder Parsons. Mit Bryan Turner (1991: 38) lässt sich die Religionssoziologie des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf den Rückgang des Christentums als dominante Institution westlicher Gesellschaft beschreiben. Im Rahmen dieses Rückganges sei die Funktionsfrage relevant geworden, da der Zweifel an Plausibilität und Zukunft von Religion auf der einen Seite und (wohl aus Philosophie und Theologie geerbten) Annahmen zu ihrer Wichtigkeit auf der anderen Seite in einer Spannung standen.

Ausgehend von der Frage nach der Funktion von Religion haben funktionalistische Ansätze und die um sie geführten kritischen Diskussionen die Sozialwissenschaft als Ganzes geprägt, wurden jedoch mittlerweile weitgehend beigelegt und werden zunehmend ausgeblendet.Footnote 49 Während ein bis in die 1960er Jahre in ähnlich grundsätzlicher Weise kritisiertes Paradigma wie der Strukturalismus durch Poststrukturalismus in die Grundlegung neuer Ansätze eingebaut wird, bleibt der Funktionalismus zumindest als explizite theoretische Ausrichtung weitgehend ad acta gelegte Geschichte der Sozialwissenschaft. Religionswissenschaft, -soziologie und -ethnologie haben diese Verabschiedung, was explizite Bezüge zu mit „Funktionalismus“ betitelten Ansätzen angeht, weitgehend mitvollzogen. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass in einflussreichen gegenwärtigen Ansätzen in Religionswissenschaft und -soziologie funktionalistische Argumentationen weiterhin mehr oder weniger explizit einen wichtigen Stellenwert einnehmen.

Im vorliegenden Kapitel wird mit dem Strukturfunktionalismus ein paradigmatischer Zugang für die Funktionsfrage im Allgemeinen und die Frage nach der Funktion von Religion, ausgehend von den klassischen Wurzeln bei Durkheim und Malinowski, rekonstruiert. Zweitens werden die zentralen Kritikpunkte und drittens die Reaktionen auf diese Kritik und ihre Konsequenzen für das Stellen der hier verfolgten Frage nach religiösen Ritualen und sozialer Ordnung diskutiert.

2.4.1 Die Karriere des Funktionalismus

Funktionalistische Positionen in der Sozialwissenschaft lassen sich durch folgende Punkte charakterisieren (vgl. Pope 1975a: 361): Erstens wird Gesellschaft als System miteinander verbundener Teile gesehen. Dabei wird, zweitens, von einer Tendenz zum Systemgleichgewicht ausgegangen. Drittens steht die Frage nach der Möglichkeit von Gesellschaft oder sozialer Ordnung im Zentrum. Viertens werden gesellschaftliche Strukturen dahingehend thematisiert, inwiefern sie zur Erhaltung oder Entwicklung der Gesellschaft beitragen. Schliesslich werden, fünftens, Gemeinsamkeiten oder Konsens als letzte Basis sozialer Ordnung gesehen.Footnote 50 Diese Eigenschaften treffen auf die strukturfunktionalistische Position Talcott Parsons’ zu, die im Zentrum der hier diskutierten sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Frage der Funktion steht. Um den Strukturfunktionalismus in seinem Bezug zu dieser Frage zu verstehen, sind wiederum seine Wurzeln bei den Klassikern Durkheim und Malinowski zu erörtern. Da es diesen drei Autoren ein Anliegen war, im Anschluss an die allgemeine Frage nach der Funktion spezifisch nach derjenigen von Religion bzw. Magie zu fragenFootnote 51, lässt sich die Diskussion ihres allgemeinen Funktionalismus jeweils nahtlos in diejenige ihrer Position hinsichtlich Religion überführen.

2.4.1.1 Emile Durkheim: Erzeugung von Solidarität

Durkheims Werk stellt zweifellos den wichtigsten Ausgangspunkt für den soziologischen Funktionalismus dar. Bereits in seiner ersten Vorlesung an der Universität Bordeaux stellte er das Studium der Funktionen ins Zentrum der Sozialwissenschaft (vgl. Lukes 1975a: 138).Footnote 52 Der erste Schritt der Erforschung von Formen der modernen Gesellschaft, die er als durch Arbeitsteilung geprägt sieht, besteht für ihn darin, die Funktionen der einzelnen Teile der Gesellschaft, das heisst die Bedürfnisse, die sie befriedigen, zu eruieren (vgl. Durkheim 1992: 89, 8) – und kein Teil des Sozialen könne dauerhaft bestehen, wenn es keinen Bedarf decke, so Durkheim im Vorwort zur ersten Auflage der Division:

„Schliesslich und vor allem kann kein lebenswichtiges Faktum – wie die Tatsachen der Moral – überdauern, wenn es nicht zu etwas dient, wenn es nicht irgendeinem Bedürfnis entspricht.“ (Durkheim 1992: 80, VI)

Von Beginn weg schreibt er Religion eine wichtige Rolle zu, so sieht er Formen von Solidarität, die auf der Gemeinsamkeit ihrer Mitglieder beruhen, als in ihrem Kern religiös konstituiert: „denn jede religiöse Gemeinschaft stellte damals ein moralisches Milieu dar, und ebenso neigt jede moralische Disziplin mit Macht dahin, eine religiöse Form anzunehmen“ (Durkheim 1992: 55, XVI).Footnote 53

Endgültig tritt die Frage nach der Funktion von Religion in Durkheims religionssoziologischem Spätwerk in den Vordergrund – wenngleich die Antwort hinsichtlich ihrer Funktion in der Moderne auch hier nicht restlos geklärt wird (siehe Abschn. 2.1). Folgendes Zitat zeigt einen für Durkheims Formen und die ihm folgenden funktionalistischen Theorien konstitutiven Ausgangspunkt:

„Die barbarischsten und seltsamsten Riten, die fremdesten Mythen bedeuten irgendein menschliches Bedürfnis, irgendeine Seite des individuellen oder sozialen Lebens. Die Gründe, die der Gläubige sich selber gibt, um sie zu rechtfertigen, können falsch sein, und sie sind es meistens; trotzdem gibt es wahre Gründe [raisons vraies, Anm. RW]. Es hängt von der Wissenschaft ab, sie zu entdecken.“ (Durkheim 1994: 19, 3)

Würde Religion auf einem Irrtum beruhen, wäre es gemäss Durkheim unverständlich, wieso sie über Zeiten und Kulturen hinweg ein so beständiges Phänomen darstellt – das weise darauf hin, dass sie eine Funktion erfülle. Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist es nun „(\(\ldots \)) unter dem Symbol die Wirklichkeit [zu] erreichen, die es darstellt, die ihm erst seine wahre Bedeutung gibt“ (Durkheim 1994: 19, 3). Rituale und Symbole würden zwar von den von ihm untersuchten Aborigines durchgeführt, bzw. es werde an sie geglaubt und dies wiederum führe zur Erzeugung von Solidarität, diese Zusammenhänge seien jedoch den Aborigines selbst unbekannt und würden erst vom Forscher erschlossen. Durkheims funktionalistischer Zugriff ist damit durch das Identifizieren von Folgen von Religion gekennzeichnet, die von den Vertretern des Feldes unerkannt und unintendiert sind. Damit dürfte Durkheim den Weg für soziologische Argumentationen, die über nicht-intendierte oder angestrebte Konsequenzen argumentierten, geebnet haben – und damit für funktionale Analysen, da die ihnen zugrunde liegenden Theorieprogramme darauf gründeten.Footnote 54

Für die Einordnung der Funktionsfrage in Durkheims Arbeit ist wichtig zu sehen, dass Durkheim die Frage nach der Funktion spezifischer Institutionen und Bereiche der Gesellschaft, wie z. B. Religion stellte, im Gegensatz zu funktionalistischen Vorgängern wie Herbert Spencer und nach ihm Malinowski aber keine Funktionskataloge für die gesamte Gesellschaft ausarbeitete (vgl. Meier 1995: 135).

2.4.1.2 Bronislaw Malinowski: Bedürfnisbefriedigung

Neben der Soziologie wurden funktionalistische Ansätze insbesondere auch für Ethnologen attraktiv, da damit fremde und schwer verstehbare Zusammenhänge einem Sinn zugeordnet und Einzelbeobachtungen über die Vergleichskategorie „Funktion“ in Vergleiche überführt werden konnten. Zur Selbstbezeichnung einer Theorierichtung wurde „Funktionalismus“ in der Anthropologie Bronislaw Malinowskis,Footnote 55 der den späteren soziologischen Funktionalismus, auch wenn dies nur sehr begrenzt durch direkte Referenzen sichtbar wird, entscheidend prägte (vgl. Turner und Maryanski 1979). Für Malinowski bedeutet Funktion die Befriedigung von Bedürfnissen:

„(\(\ldots \)) Funktion muss definiert werden als Befriedigung eines Bedürfnisses durch eine Handlung, bei der Menschen zusammenwirken, Artefakte benutzen und Güter verbrauchen.“ (Malinowski 1949: 77)

Als Bedürfnisse (needs) bezeichnet Malinowski zunächst „biologische Bedürfnisse“, also solche, die auf die Fortsetzung des biologischen menschlichen Lebens ausgerichtet sind. Die Erfüllung dieser Notwendigkeiten erfolge bei Menschen mit kulturellen Mitteln. Malinowski formulierte das „Axiom“, dass Kultur ein instrumenteller Apparat zur Bedürfnisbefriedigung sei und damit letztlich alle Elemente von Kulturen auf solche Funktionen zurückgeführt werden könnten.Footnote 56 Über die Bildung von Kultur schaffe sich der Mensch eine sekundäre, künstliche Umwelt, aus der Folgebedürfnisse hervorgehen (vgl. Malinowski 1949: 76). Diese „abgeleiteten Bedürfnisse“ (derived needs) seien zwar genauso wichtig wie die nicht abgeleiteten,Footnote 57 doch auch ihre Grundlage seien letztlich die biologischen Grundbedürfnisse: „In erster Linie sehen wir also, dass die abgeleiteten Bedürfnisse gleich zwingend sind wie die biologischen; und das beruht darauf, dass sie stets in instrumentellem Zusammenhang mit organischen Notwendigkeiten stehen.“ (Jensen 2003: 152). Ausgehend von diesen Grundannahmen formuliert Malinowski universale Bedürfniskataloge, denen er bestimmte Mittel ihrer Befriedigung, wie z. B. „Religion“, „Magie“ oder „Technik“ zuordnete.

Die Kategorien „Funktion“ und „Bedürfnis“ erlauben es, Elemente aus verschiedensten Kontexten in einen vergleichenden Zusammenhang zu bringen. Damit strebt Malinowski an, über die blosse Charakterisierung von „Grillen und Absonderlichkeiten“ (Malinowski 1949: 79) hinauszukommen und eine Systematik zu erarbeiten, wobei er das Schema strikt ahistorisch und in gezielter Abgrenzung von Evolutionsmodellen anwendet, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Konjunktur hatten und beispielsweise von seinem Lehrer James George Frazer vertreten worden waren (vgl. Gouldner 1970: 130) – im Einklang damit kritisiert er auch die Annahme sozialer Urzustände wie der „primitiven Gesellschaft“, wie sie sich z. B. bei Durkheim finden (vgl. Kuper 1988: 9).Footnote 58

Hinsichtlich der Funktion von Religion unterscheidet Malinowski drei Ebenen: Auf der Ebene des Materiellen/Biologischen begleitet Religion Übergänge und Notwendigkeiten rituell, so z. B. indem Nahrungsmittel geheiligt und damit geschützt werden (vgl. Malinowski 1973 [1954]: 27–28). Auf der sozialen Ebene hält sie Ordnung aufrecht und wirkt u. a. der desintegrierenden Wirkung von Todesfällen entgegen (vgl. Malinowski 1973: 36). Schliesslich führt Religion auf der kulturellen Ebene zur Hingabe an und Aufrechterhaltung von Tradition und Wissen (vgl. Malinowski 1973: 40). Auch im Fall von Religion sind die abgeleiteten Bedürfnisse letztlich auf die unbedingten, biologischen Bedürfnisse zurückzuführen, so erklären sich für Malinowski auch kulturelle Deutungen und sozialer Zusammenhalt letztlich aus ihrem Beitrag für das Überleben des Individuums. Beispielsweise hindern Todesrituale Individuen an einer ihrem Überleben abträglichen Flucht aus dem Kollektiv.

Bemerkenswert an Malinowski ist, dass er sich im Rahmen seiner ahistorischen Herangehensweise nicht auf Funktion als Erklärung des Entstehens von Religion hinauslässt: „Ob dies [die Negation der Angst vor dem Tod im Ritual] durch eine Vorsehung geschieht, die in die menschliche Entwicklung unmittelbar eingreift, oder durch einen Prozess der natürlichen Selektion, in der eine Kultur, die einen Glauben und ein Ritual der Unsterblichkeit hervorbringt, überleben und sich ausbreiten kann, ist ein theologisches oder metaphysisches Problem. Für den Anthropologen genügt es, den Wert eines bestimmten Phänomens für die gesellschaftliche Integrität und für die Kontinuität der Kultur aufzuzeigen.“ (Malinowski 1973: 47). Diese Einschränkung des Erklärungsanspruches wird zum Ansatzpunkt für Kritik an Malinowskis Funktionalismus, wie in Abschn. 2.4.2.4 gezeigt werden wird.

2.4.1.3 Talcott Parsons: Normativer Funktionalismus

Parsons ist die zentrale Figur des soziologischen Strukturfunktionalismus,Footnote 59 der die Soziologie von Ende der 1930er bis anfangs 1960er Jahre entscheidend beeinflusste. Von einer Rezeption Talcott Parsons’ in der Religionswissenschaft kann kaum die Rede sein und es ist auch in der Soziologie selbst seit den 1970er Jahren wenig üblich, sich positiv auf ihn zu beziehen.Footnote 60 Kritiker wie Giddens (1985: 106), die nur noch eine geringe Relevanz der Theorie von Parsons feststellen, erkennen an, dass dieser doch entscheidend daran beteiligt war, über seine Rezeption in der „Structure of Social Action“ (1949 [1937]) Weber und Durkheim zu den einflussreichsten Figuren in der Entwicklung der Soziologie zu machen und die Aufmerksamkeit der Soziologie auf Fragestellungen zu lenken, die bis heute das Fach bestimmen. Einflüsse von Parsons sind auch auf Forscher zu finden, die ihrerseits von grosser Bedeutung für die Religionswissenschaft sind, allen voran Robert N. BellahFootnote 61 und Clifford GeertzFootnote 62. Wie Bellah und Geertz war auch Harold Garfinkel Doktorand bei Parsons, stark beeinflusst hat dieser ausserdem Niklas Luhmann und Jürgen Habermas – wobei insbesondere die drei letztgenannten sich kritisch von Parsons abgrenzten. Dabei sind sie Teil einer kritischen Auseinandersetzung mit Parsons, die die theoretischen Diskussionen in der Soziologie von Ende der 1950er bis in die 1970er Jahre bestimmt.Footnote 63 Zum hier gewählten praxistheoretischen Ritualverständnis und zu Praxistheorien im AllgemeinenFootnote 64 stellen Parsons und der von ihm geprägte Strukturfunktionalismus eine höchst einflussreiche Gegenposition dar.

Talcott Parsons besuchte als Student ein Seminar Malinowskis zu „Magie, Wissenschaft und Religion“ und sein Ansatz erinnert in einigen Punkten, insbesondere der Erstellung von Funktionskatalogen und der Unterscheidung zwischen den Ebenen von Individuum, Gesellschaft und Kultur (vgl. z. B. Parsons 1964b: 6), an Malinowski. Von Belang ist, dass Parsons sich kaum der biologischen Ebene widmete und sich explizit zwar nicht gegen die Möglichkeit, aber die Ergiebigkeit davon aussprach, von der biologischen, genetischen oder physiologischen Ebene, also den „sub-action determinants of behavior“, auf das Handeln zu schliessen (vgl. Parsons 1964b: 32).Footnote 65

In Parsons’ Werk lassen sich drei Phasen unterscheiden (vgl. Jensen 1980: 8–9)Footnote 66: Eine erste, in der sich Parsons in der Structure (1949) dem Versuch widmete, eine Konvergenz zwischen Klassikern der Soziologie, insbesondere Weber und Durkheim, herzustellen und in Richtung einer voluntaristischen Handlungstheorie auszuarbeiten.Footnote 67 Bei den von ihm identifizierten Klassikern machte Parsons gemeinsame Tendenzen in die Richtung einer solchen Theorie aus, die er gleichzeitig zu einer Absage an rationalistische und positivistische Positionen der Sozialwissenschaft ausbaute. In dieser Phase wird der für die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Religion bedeutsame Anschluss an Durkheims Verständnis von Ritualen und Glaubensvorstellungen das erste Mal hergestellt (siehe mehr dazu Abschn. 2.6.2.1). Die zweite Phase, angesiedelt in den 1950er Jahren, stellt die eigentliche strukturfunktionalistische Periode dar, in der Parsons eine allgemeine systemtheoretische Handlungstheorie formulierte, die sich um die Struktur von Systemen und den funktionalen Bedingungen ihrer Aufrechterhaltung drehte (vgl. z. B. Parsons 1964b [1951]; Parsons und Shils 1965 [1951])Footnote 68. Während er bis dahin mehrheitlich auf der theoretischen Ebene verblieben war, widmete er sich in der dritten Phase verstärkt Studien zu einzelnen sozialen Zusammenhängen und geschichtlichem Wandel auf der Grundlage des in den vorherigen Phasen ausgearbeiteten Instrumentariums. Die Dreiteilung von Parsons’ Werk kann mit einer vierten Phase ergänzt werden, in der er sich einer umfassenden funktionalistisch-systemtheoretischen Rekonstruktion der „conditio humana“ widmete und sich dabei wieder vermehrt zu Religion äusserte (vgl. Parsons 1974b, 1978a).

„Funktion“ fand in der ersten Phase kaum Erwähnung und wurde in der dritten Phase zunehmend von der Diskussion um Medien des Einflusses und gesellschaftlicher Evolution überlagert.Footnote 69 Hinsichtlich der Frage nach der Funktion ist die zweite Phase zentral. Just in der Phase war Durkheim der wichtigste Einfluss, wie Parsons (1974a: 56) selbst retrospektiv festhält. Gleichzeitig gehen von hier die wichtigsten Einflüsse von Parsons auf Religionssoziologie und -wissenschaft aus,Footnote 70 so auf Clifford Geertz’ (1973) ReligionsbegriffFootnote 71 als auch auf Robert N. Bellahs (1967) Verständnis von Zivilreligion. In dieser mittleren Phase strebte Parsons an, stabile Referenzpunkte, „strukturelle“ Aspekte sozialer und kultureller Systeme in den Blick zu nehmen, um davon ausgehend die Prozesse zu untersuchen, mit denen diese Strukturen erhalten werden (vgl. Lockwood 1956: 135). Eine „continual and systematic reference of every problem to the state of the system as a whole“ sah Parsons (1945: 47) als Mass, auf das hin die empirische Realität mit verschiedenen Variablen hin gemessen werden solle. Die entsprechenden Beobachtungen müssten auf ihre Funktion hinsichtlich dieses Standards hin befragt werden – Parsons (1945: 48) nannte die „functional significance to the system“ sogar als Kriterium für die wissenschaftliche Relevanz von Aspekten der empirischen Realität.

Geteilte Werte hielt Parsons für die Aufrechterhaltung sozialer Systeme als funktional unabdingbar, eine Einschätzung, die er aus der Structure übernahm und ausbaute.Footnote 72 In The Social System, einem der Hauptwerke der zweiten Phase,Footnote 73 betont er, dass Werte und Handeln in Systemen organisiert seien. Entsprechend definierte er die Soziologie als Theorie sozialer Systeme „(\(\ldots \)) which is centered on the phenomena of the institutionalization of patterns of value-orientation in roles“ (Parsons 1964b: 552). Werte sind in kulturellen Systemen organisiert, werden auf der Ebene des Individuums internalisiert und in sozialen Systemen institutionalisiert (vgl. Parsons 1968: 136). Durch Institutionalisierung wird Kultur in der Gesellschaft und durch Internalisierung im Individuum, das heisst auf der Ebene der personality, wirksam. Dies basiert auf einer Unterteilung des Handlungssystems in die drei aufeinander nicht reduzierbaren Systeme culture, society und personality (vgl. Parsons 1964b: 6). Society und personality operieren über Handlungen, während Kultur nicht in Form von Handlungen, sondern aus Symbolen besteht und über die sinnhafte und konsistente Einfügung von Symbolen in ein System funktioniert, das heisst über die Herstellung von „pattern consistency“ (Parsons 1964b: 17, 379).Footnote 74

Im Social System sah Parsons Religion als Form des nicht-empirischen Umgangs mit evaluativen Problemen.Footnote 75 Wissenschaft und Philosophie befassten sich dagegen damit, was überhaupt der Fall sei (siehe Tab. 2.1). Sie seien nicht evaluativ wie Religion ausgerichtet, in der es darüber hinaus darum gehe, was zu tun sei, also immer auch mit den Implikationen für das Handeln befasst ist (vgl. Parsons 1964b: 7, 331). Mit religiösem Glauben sei immer „a commitment to its implementation in action“ verbunden, was Parsons mit Hinweis auf sein auf religiöse Rituale bezogenes Lieblingsdurkheimzitat „c’est de la vie serieuse“ verknüpft (vgl. Parsons 1964b: 367).

„Religious beliefs then are those which are concerned with moral problems of human action, and the features of the human situation, and the place of man and society in cosmos, which are most relevant to his moral attitudes, and value-orientation patterns.“ (Parsons 1964b: 368)

Tab. 2.1 Die Verortung von Religion bei Parsons (1964b: 332)

Parsons thematisiert Religion als belief system und damit in seiner Systematik als kulturelles System. Die Funktion des so gestalteten Religionssystems liegt darin, Werte für das Handeln, das auf der Ebene sozialer oder personaler Systeme stattfindet, anzubieten und mit commitment zu versehen. Durch den Bezug auf das Übernatürliche können religiöse Symbole Perspektiven anbieten, die über den Alltag und die empirische Ordnung hinaus gehen. Religion stellt damit den Personen Deutungen zur Verfügung, die es erlauben, mit Orientierungskrisen, Schicksalsschlägen und Ungewissheit umzugehen.

In sozialen Systemen seien Frustration und Konflikt unvermeidlich (vgl. Parsons 1964b: 370): Das Problem des Bösen, dasjenige der Sinnlosigkeit und schliesslich der Tod führten zu Herausforderungen für das Erkennen („cognitive“) und das Handeln („evaluative“), die nicht durch die menschliche Einstellung zur „empirisch“ vorhandenen Welt gelöst werden könnten:

„The pressure in such a case is to a cognitive-evaluative orientation scheme, which can comprise both the successfully institutionalized and expectation-fulfilling aspects of the value-system, and the ‚irrational‘ discrepancies. It seems almost inevitable that such an inclusive orientation must include reference to supernatural entities in the above sense.“ (Parsons 1964b: 371; Hervorhebungen im Original)

Zentraler Funktionsmodus sei dabei die Temporalisierung von Erwartungserfüllungen: Diese werden auf das Jenseits oder die Transzendenz aufgeschoben, womit insbesondere auch Situationen „moralischer Irrationalität“ wie dem Problem des Bösen, des Todes und von Sinn überhaupt begegnet werden könne, in denen kognitive sowie evaluative Strategien und Erwartungen enttäuscht werden (vgl. Parsons 1964b: 371–373).

Für das soziale System stellen religiöse Symbole als letzte, durch ihren Transzendenzbezug die anderen Werte umfassende Werte, einen Rückhalt für andere Werte und konkrete Normen dar und stellen so soziale Ordnung sicher.Footnote 76 Diese „intellectual formulation, part determinant, part expression, of the cognitive basis of common ultimate-value attitudes“ hatte Parsons (1949: 426) bereits in der Structure identifiziert und Durkheim als Referenz für diese Feststellung angegeben.

Bis in die frühen 1950er Jahre legt Parsons den Fokus auf diejenigen Zusammenhänge sozialer Ordnung, die mit Lockwood (1992a: 400; vgl. auch Habermas 1981a: 175) als „social integration“ bezeichnet werden können, also als Beziehungen von Akteuren gegenüber anderen Akteuren und der darin zentralen Rolle von Werten. In der Folge – gemäss der vorliegenden Unterscheidung immer noch in der zweiten Phase – rückt jedoch „system integration“, also funktionale, unpersönliche, in ihrer Geltung nicht direkt auf Werten beruhende gesellschaftliche Zusammenhänge, wie z. B. strukturelle Differenzierung, ins Zentrum. Im Rahmen dieser Umorientierung geht es nicht mehr um Ordnung als „Sozialisationsproblem“ sondern als „Koordinationsproblem“ einer differenzierten Gesellschaft.Footnote 77 Mit dem AGIL-Schema, das bei ParsonsFootnote 78 bereits kurz nach dem Social System prominent wird, rückt die funktionalistische Argumentation noch grundlegender in den Vordergrund. Im Social System stellten noch die pattern variables, welche die Struktur von Handlungssystemen anhand der darin inhärenten Dilemmata diskutierten, den theoretischen Kern der Charakterisierung von Handlungssystemen dar. Nun stehen jedoch vier „funktionale Grunderfordernisse“ im Zentrum und stellen neu den Ausgangspunkt der Theoriebildung dar: Parsons (1953: 624–625) identifiziert sie wie folgt: (A) „Adaptation“, Anpassung an die Umwelt, (G) „goal attainment“, instrumentaler Umgang mit Objekten, (I) „integration“, die Aufrechterhaltung der internen Harmonie und Absenz von Konflikt, (L) „latent pattern-maintenance“, die Erhaltung der Struktur normativer und kultureller Muster und die Motivation zu entsprechender Konformität.

Dieses Schema allgemeiner Handlungssysteme arbeitet Parsons in eine Theorie funktionaler Differenzierung von Gesellschaft ein, denn als Handlungssystem sei auch das soziale System Gesellschaft entlang der Erfüllung der vier Grundfunktionen differenziert (vgl. Parsons und Smelser 1957: 53): Das „A“ wird von der Wirtschaft erfüllt, „G“ von der politischen Ordnung (polity), „I“ über „societal community“, also „vergesellschaftete Gemeinschaft“ (vgl. Gerhardt 2001). „L“ findet über die Ausrichtung individueller Motivationen entlang kultureller Werte statt, wofür das zuständig ist, was mit Blick auf die früheren Ausführungen zum Social System als „kulturelles System“ (cultural system) bezeichnet werden kann. Die Wichtigkeit von „I“ und „L“ zeigen die funktionale Notwendigkeit, die Parsons nach wie vor den Werten zuschrieb. Der funktionale Beitrag von Religion für soziale Systeme ist im Rahmen des L-Feldes, also der „latent pattern maintenance“ angesiedelt. Das kulturelle System begründe die normative Ordnung der Gesellschaft und Religion stelle dabei die Bezüge zu einer „letzten Realität“ her. Parsons schätzt in dieser Phase die Rolle von Religion nicht geringer oder grundsätzlich anders ein als früher. Je funktionalistischer die Betonungen von Parsons werden – und mit dem AGIL-Schema werden funktionale Differenzierungen zum Grundbaustein seiner Theorie – desto weniger werden jedoch religiöse „belief systems“ im Detail analysiert. So kritisiert sein Schüler Jeffrey Alexander (1990: 6): „the origins and internal processes of cultural systems are not of primary interest“ und die Interpretation von Kultur rücke in den Hintergrund.Footnote 79

In der dritten Phase nimmt Religion wieder einen prominenteren Stellenwert ein, so in Parsons Untersuchungen zur Evolution von Gesellschaften, die stark von Max Webers Aufsätzen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen beeinflusst sind (vgl. Parsons 1975 [1966]; 1971) – seiner Funktionszuweisung bleibt er dabei treu:

„Aber welche Stellung ein Legitimationssystem innerhalb dieser Entwicklung auch immer einnimmt, es ist stets angewiesen auf eine – und sinnvoll abhängig von einer – Begründung durch geordnete Beziehungen zu einer letzten Realität. Das heisst, seine Begründung ist immer im gewissen Sinn eine religiöse.“ (Parsons 1975: 23)

Die funktionalistische Dimension wird dabei um eine historische zumindest ergänzt: Während Parsons Religion in den früheren, funktionalistischeren Zugängen „very abstract, unhistorical, and highly nominalistic“ (Robertson 1982b: 310) thematisiert, geht es Parsons nun um den ausführlichen Einbezug von Religionsgeschichte und die Frage der Rolle von Religion darin. So verweist er beispielsweise darauf, dass mit zunehmender Differenzierung der Gesellschaft ein spezifischer Bereich kultureller Legitimation notwendig werde, über den das „Wir“ der Gesellschaft bezeichnet und konzeptionalisiert werden könne, eine Funktion die, so Parsons (1964a: 345), von der Religion ausgeübt werde, das heisst über eine „sacred tradition“ und die Referenz auf Götter funktioniere. In seinem letzten grossen Aufsatz, demjenigen zur „Human Condition“ (1978a), nimmt im Rahmen eines erneut erweiterten AGIL-Schemas die Funktionsfrage auch hinsichtlich Religion wieder eine wichtigere Stellung ein.Footnote 80

Bemerkenswert ist, dass Parsons insbesondere in seinen späteren Schriften die Säkularisierungsthese verneint und Religion als formative Kraft nicht nur in historischen Gesellschaften, sondern auch in der Moderne sieht (vgl. z. B. Parsons 1974b; mehr dazu auch im Abschn. 5.1.4). Dies ist durchaus als Konsequenz einer funktionalistischen Sichtweise zu sehen, die Religion theoretisch in einer Unverzichtbarkeit verordnet, die eine Säkularisierung funktionierender Gesellschaften unwahrscheinlich macht.Footnote 81

2.4.2 Kritik an Parsons’ Funktionalismus

Funktionalistische Zugänge geraten ab den 1950er Jahren immer stärker in die Kritik. Durch die Breite der Kritik, die sich am „doppelten Übel“ von Strukturfunktionalismus und der Betonung kultureller Werte, für das Durkheim und Parsons als Hauptreferenz gesehen wurden (vgl. Adams et al. 2005: 16), abarbeitete, verloren entsprechende Ansätze ihre Vormachtsstellung und wurden schliesslich in ihrer Vorherrschaft durch stärker auf Empirie (v. a. quantitative und später auch qualitative Sozialforschung), Interaktion (z. B. Ethnomethodologie) oder Gesellschaftskritik (z. B. aus marxistischen Positionen) abzielende Ansätze abgelöst.

2.4.2.1 Normen und Werte

Die Prominenz von Normen und Werten machte Parsons’ Ansatz attraktiv für das Studium von Religion, was der Erfolg des Konzepts „Symbolsystem“ in der Religionswissenschaft zeigt (mehr dazu im Abschn. 2.6.2.5). Die Rolle, die Parsons Werten und Normen zuwies, stellt jedoch gleichzeitig einen der zentralen Bezugspunkte seiner Kritiker dar, den auch Parsons wohlgesonnene Theoretiker wie Harald Wenzel (2003: 135) teilen: „Wenn man Parsons etwas vorwerfen kann, dann dass er die Werte zu ernst genommen hat – mit der Folge eines übersozialisierten, schablonenhaften Modells des Menschen.“Footnote 82

Entsprechende Kritiken finden sich mit unterschiedlichen Stossrichtungen:

  1. 1.

    Es wird darauf hingewiesen, dass es Parsons nicht gelinge, die Rolle von Werten mit anderen Dimensionen, insbesondere der materiellen, in Beziehung zu setzen. Im Anschluss an seine Durkheim-Lektüre konzipiere Parsons fälschlicherweise soziale Ordnung als ausschliesslich über Normen und Werte bestimmt, wobei diese quasi in der Luft hänge und analytisch nicht genügend mit den in der Realität ebenfalls folgenreichen materiellen und strukturellen Faktoren in Beziehung gesetzt würde. Der analoge Vorwurf an Durkheim, dass dieser keinen Mechanismus vorsehe, der zwischen Infrastruktur und conscience collective vermittle (vgl. z. B. Giddens 1995: 135), wurde damit auf Parsons ausgeweitet.Footnote 83 Einflussreich war Lockwoods Vorwurf, Parsons habe nicht-werthafte Faktoren, wie beispielsweise Machtbeziehungen, vernachlässigt. Diese seien jedoch omnipräsenter Teil der sozialen Wirklichkeit und mit der Ebene der Werte untrennbar verflochten. „In particular, sociology cannot avoid the systematic analysis of the phenomena of ‚power‘ as an integral part of its conceptual scheme“, schloss Lockwood (1956: 142). Sowohl theoretische als auch empirische Argumente würden dagegen sprechen, Soziologie ganz auf die Frage nach normativer Ordnung auszurichten.Footnote 84

  2. 2.

    Etwas andere Akzente setzt diejenige Kritik, die darauf verweist, dass Parsons die Ebene der Werte falsch und insbesondere zu deterministisch konzipiere. Von marxistisch beeinflusster Seite, so z. B. Michael Mann (1970), wird gefordert, das Konzept von Werten/Normen zu differenzieren, da beispielsweise „falsches Bewusstsein“ und pragmatisches Befolgen eine grosse Rolle spielen dürften. Gerade auch das Ausbleiben von Wertkonsens könnte integrativ wirken, da damit keine Interessen an oppositioneller politischer Mobilisierung bestehe (vgl. Mann 1970: 436). Mann und in Übereinstimmung mit ihm auch Hill (1990: 3) identifiziert eher „pragmatic acquiescence“ als „pragmatic acceptance“ als Grundlage der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung in modernen kapitalistischen Gesellschaften.

  3. 3.

    Dieser Wertdeterminismus wird nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene als das Bild einer überintegrierten Gesellschaft, sondern auch auf der Ebene des Individuums als „oversocialized view of man“ kritisiert, so z. B. seitens des psychoanalytisch ausgerichteten Soziologen Dennis Wrong (1995: 190). Parsons sähe Normen nicht nur als regulativ, sondern als konstitutiv für das Individuum und seine Ziele an (vgl. Wrong 1961: 186). Das Individuum entstehe für Parsons überhaupt erst durch die Internalisierung gesellschaftlicher Werte, wodurch die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft in einer Art und Weise gesehen werde, die die Möglichkeit von Konflikten zwischen diesen zwei Polen ausblende. Der Funktionalismus von Parsons, so kritisiert analog dazu Giddens (1986: 30), gehe davon aus, dass normative Verpflichtungen umfassend integriert werden, womit sie die „knowledgeability“ des Akteurs unterschätzten (siehe auch Giddens 1993: 103). Die normativen Elemente seien stattdessen, so Giddens, als kontingente Ansprüche zu thematisieren.

    In durchaus verwandter Weise kritisiert Jürgen Habermas (1981a) aus der Perspektive seiner Theorie des kommunikativen Handelns Parsons’ Verknüpfung von Werten, Handeln und Individuum. Statt wie Wrong die Autonomie der individuell-psychischen Komponente, vermisste Habermas in Parsons’ Konzept von Internalisierung/Institutionalisierung den Charakter der Aushandlung von Bedeutung und Konsens. An Stelle der blossen Übernahme kultureller Vorgaben gehe es gemäss Habermas um die „language-contingent consensus formation“ (Habermas 1981a: 179), also um einen kontingenten Vorgang, im Rahmen dessen über Sprache ein Konsens ausgehandelt wird. Die Parsons vorgeworfene Statik und Einseitigkeit der Durchdringung der Gesellschaft durch Kultur ist als Folge der Trennung des kulturellen Systems aus dem Handlungsvollzug zu verstehen.Footnote 85

  4. 4.

    Noch weniger scheinen Verfechter interaktionistischer Ansätze Parsons’ Handlungs- und Werttheorie abgewinnen zu können. Der Ethnomethodologe Harold Garfinkel, seinerseits Doktorand bei Parsons, wandte sich entschieden von der Beschäftigung mit Werten als expliziten Konzeptionen des Wünschenswerten ab. Stattdessen gehe es in der Ethnomethodologie um „locally produced, naturally organized, reflexively accountable phenomena of order“ (Garfinkel 1988: 106).Footnote 86 „Locally produced“ weist auf die interaktive Reproduktion hin, die zwar im Rückgriff auf Vorhergehendes erfolgt (Indexikalität), jedoch eine schweigende Reproduktion unausgesprochener (tacit) Regeln darstellt. Diese accounts haben nicht die Eigenschaft systematisierter normativer oder werthafter Systeme und haben ihre Wirklichkeit in ihrem Vollzug, wobei sie von der Situation ihrer Erzeugung beeinflusst sind. Über verbale und non-verbale accounts in der Interaktion selbst erlangt diese Praxis Reflexivität – auch die Referenz auf explizite und internalisierte Werte liesse sich zwar als mögliches Szenario vorstellen, kann jedoch nicht den Charakter der Ausgangslage sozialer Ordnung und ihrer Erforschung durch den Soziologen darstellen.

Diese Kritik an der Rolle von Werten trifft die Frage nach der Funktion von Religion besonders, da diese für Parsons gerade in der Bereitstellung von Werten und ihrer Umsetzung im Handeln besteht. Müssten diese Zusammenhänge nun anders konzipiert werden, gilt dies auch für die Thematisierung der Rolle von Religion. Auch die neodurkheimianischen Entwürfe, die im Anschluss an Parsons Religion über ihre Funktion der Wertintegration verstanden – am prominentesten im Verständnis von Zivilreligion bei Robert N. Bellah (siehe Abschn. 5.2.1.2) – wurden mit entsprechender Kritik konfrontiert. So forderte Steven Lukes die Abkehr von der Frage nach gesellschaftlicher Integration durch Werte. Kollektive Rituale seien nicht als Feiern eines Wertkonsenses zu verstehen, sondern als kognitive Repräsentation von Machtverhältnissen durch nach Dominanz strebende Akteure (vgl. Lukes 1975b: 302).

2.4.2.2 Gleichgewicht statt Konflikt

Die wohl prominenteste Kritik an Parsons bemängelt, dass dessen Theorie sich auf Zustände des Gleichgewichts beschränkt, Konflikt und Wandel dagegen nicht zu erklären vermag. Durchaus finden sich bei Parsons Ausführungen zu Konflikten und Bekenntnisse, dass Desorganisation, die Auflösung und der Wandel von Systemen Teil sozialer Ordnung seien und als Teil von ihr mituntersucht werden müssten (z. B. Parsons 1977a: 70). In der Structure weist Parsons (1949: 717), wie viele Durkheim-Kritiker, noch darauf hin, dass Durkheim dem Aspekt des Wandels, insbesondere der Rolle von Werten darin, im Gegensatz zu Weber zu wenig Achtung schenke.Footnote 87 Parsons, so die Kritik, habe aber selbst seine Theorie seinerseits auf Gleichgewicht und Statik hin formuliert und erst in einem darauf aufbauenden zweiten Schritt an der Analyse von Wandel gearbeitet; somit habe dieser nur sekundären, parasitären Charakter (vgl. Black 1961: 275–276). Und Parsons, so Pope (1973: 411), habe geflissentlich die Beiträge Durkheims zur soziologischen Erfassung von Wandel überlesen.Footnote 88

Bereits Guy Swanson (1953: 131) attestiert Parsons’ theoretischen Leitunterscheidungen eine „inability to lend itself to use as part of dynamic theories contrasted with static descriptions“. Parsons verpasse es, die Umwelt von Akteuren in die Kategorien einzubauen, mit denen er deren Handlungen erfasse.Footnote 89 Endgültig eingeleitet wird die konflikttheoretische Kritik mit einem Artikel David Lockwoods (1956: 140): Parsons gehe zwar nicht von der Abwesenheit von Konflikt aus, da er aber in seiner Konzeption von sozialer Ordnung normative Systeme ins Zentrum stelle, würden Konflikte als Merkmal des Ausbleibens sozialer Ordnung gesehen. Damit würde Parsons verkennen, dass diese einen konstitutiven Teil sozialer Ordnung und auch integraler Bestandteil der normativen Aspekte dieser Ordnung darstellten. Parallelen dieser Kritik mit derjenigen an Durkheim, dass dieser Konflikte über Anomie lediglich als parasitären Bestandteil von Gesellschaft thematisiere, sind unverkennbar. Wie Lockwood identifiziert auch Dahrendorf (1958) entsprechende Probleme im Strukturfunktionalismus und setzte dieser Ordnungstheorie Anstrengungen in Richtung einer nicht-marxistischen Konflikttheorie entgegen.Footnote 90 Oft geht die Kritik an Parsons’ „Konsens“ aber mit der Forderung nach einer Betonung von Konflikt im Anschluss an Marx einher (z. B. Mann 1970: 437).

2.4.2.3 Konservativismus

Beinahe untrennbar mit der Kritik an der Betonung von Gleichgewicht verknüpft ist der Vorwurf, dass ein solches Konzept der Wichtigkeit von Werten seinerseits das Resultat einer konservativen Perspektive sei.Footnote 91 Dementsprechend können marxistisch beeinflusste Sozialwissenschaftler (siehe z. B. Bourdieu und Wacquant 2006: 213 f.) wenig mit Parsons anfangen.Footnote 92 Die dezidiertesten Vorwürfe hinsichtlich einer Deckung von Strukturfunktionalismus mit politischem und moralischem Konservativismus stammen von Alvin Gouldner:Footnote 93 Die Frage nach der Funktion wiederspiegle „the practical, utilitarian sentiments of men socialized into a dominant middle-class culture, men who feel that things and people must be, and are, legitimated by their ongoing usefulness“ (Gouldner 1970: 121). Dadurch, dass Parsons Ordnung als religiös begründet und geprägt sieht, unterstelle er weiter der bestehenden sozialen Ordnung moralische Erwünschtheit.

„In short, Parsons here resolves the problem of the grotesqueness of life, the split between morality and power, by affirming that it is increasingly both powerful and good, and that both aspects have a common root in Christianity.“ (Gouldner 1970: 255; Hervorhebungen im Original)Footnote 94

Das einzige, was gemäss Parsons nicht dem Christentum zu verdanken sei, seien Marxismus und Sozialismus (vgl. Gouldner 1970: 256).Footnote 95 Weiter vermutete Gouldner, dass die Betonung der Ebene von Werten mit dem religiösen Hintergrund von Parsons und anderen Funktionalisten zusammenhängen dürfte. „Ethische Kulturreligion“ im protestantischen Sinne (im Gegensatz beispielsweise zu ritualistischer katholischer Religion) sei paradigmatisch und Vorbild für das Konzept von Wertintegration (vgl. Gouldner 1970: 259–260). Schliesslich weist Gouldner auf empirische Untersuchungen hin, die zeigten, dass funktionalistische Ausrichtung und Religiosität von sozialwissenschaftlichen Autoren miteinander einher gingen. In ihrer Deutlichkeit sind die Vorwürfe Gouldners wohl überzogen, so arbeitet Bershady (1973: 112) in seiner durchaus kritischen Parsons-Lektüre überzeugend konzeptionelle Beweggründe für Parsons’ Funktionalismus heraus und sieht keine Gründe dafür, diesen auf rein politische Motive zurückzuführen.Footnote 96 Weiter zeigte u. a. Merton (1968: 44 f.), dass ein funktionalistisches Verständnis von Religion, das deren Beitrag zur Erzeugung von sozialer Ordnung ins Zentrum stellt, auch bei marxistischen Autoren zu finden ist.

Ein entsprechendes Religionsverständnis muss also nicht unbedingt mit politischem Konservativismus einhergehen.Footnote 97 Dass Parsons’ Perspektive auf Werte und Glaubensvorstellungen jedoch mit einer bestimmten religiösen Perspektive im Zusammenhang stehen könnte, zeigen auch die Einwände von Talal Asad (1993a [1983]) an Clifford Geertz’ Religionsverständnis. Deren Parallelen mit der Kritik Gouldners an Parsons sind unverkennbar: Geertz verlagere „Religion“ ins Reich der Symbole und sei dabei durch die protestantische Betonung von Glaubensvorstellungen und Theologie beeinflusst. Die „primacy of meaning“ führe dazu, unbeabsichtigt den „standpoint of theology“ (Asad 1993a: 43) einzunehmen – ausführlicher wird dies in Abschn. 2.6 diskutiert.

Gerade für funktionalistische Religionsbegriffe, die ihren Vorteil darin verorten, im Gegensatz zu substantivistischen Begriffen kulturell-normativ beeinflusste Engführungen zu vermeiden, sind diese Hinweise auf die normativen Implikationen funktionalistischer Ansätze bedeutsam (siehe Abschn. 2.7).

2.4.2.4 Kritik des logischen Positivismus

Ebenfalls kritisch beurteilt werden funktionale Erklärungen aus der Perspektive einer Wissenschaftstheorie, die das Ideal deduktiv-nomologischer Erklärungen vertritt und eine einheitliche Methodologie für Sozialwissenschaft und Naturwissenschaft fordert. Verschiedene Punkte würden im Funktionalismus nicht geklärt. Insbesondere sei jeweils nicht klar, ob nur die eine Funktion erfüllende Einheit und nichts sonst die von ihr erfüllte Funktion erfüllen könnte. Die logische Argumentation von Positionen, die von der Funktion der Integration von Gesellschaft durch Religion im Sinne von Parsons ausgehen, liesse sich im Anschluss an Hempel (1965), wie folgt rekonstruieren:

  1. 1.

    Zum Zeitpunkt t funktioniert Gesellschaft (s) in einem Setting des Typs c.

  2. 2.

    Gesellschaft funktioniert im Rahmen von c nur, wenn eine bestimmte notwendige Bedingung, Wertintegration (n), erfüllt ist.

  3. 3.

    Wenn Religion in der Gesellschaft s wirksam ist, ist Wertintegration n gegeben.

  4. 4.

    Deshalb ist Religion zum Zeitpunkt t in der Gesellschaft s wirksam.

Der Schluss bei Punkt 4 setze, so die Kritik Hempels, jedoch unerklärte Annahmen bei Punkt 3 voraus. Insbesondere kann aus der oben stehenden Argumentation nicht schlüssig gefolgert werden, ob nicht auch Alternativen zu Religion zum selben Resultat führen würden. Hempel (1965: 314) schliesst: „Thus, functional analysis no more enables us to predict than it enables us to explain the occurrence of a particular one of the items by which a given functional requirement can be met.“ Das heisst, dass mit der funktionalen Bestimmung nicht erklärt wird, wieso Religion diese Rolle einnimmt. Sie ist nur hinreichende, keine notwendige Bedingung für das Funktionieren von s, Äquivalente sind nicht ausgeschlossen.

Da weder Funktionsbestimmungen deduktiv möglich sind, noch Prognosen erstellt werden können, sieht Hempel für generalisierende funktionale Aussagen einzig die Möglichkeit für konditionale Aussagen. Allgemeine Determinanten, die für das Funktionieren von Zusammenhängen notwendig sind, könnten dabei als heuristisches Modell an den Untersuchungsgegenstand herangetragen werden. Dabei haben funktionale Aussagen wie „Religion erzeugt soziale Ordnung“ nicht den Charakter von Gesetzen, die zur Grundlage von Generalisierungen dienen können, sondern von Hypothesen.

Hempel stellt fest, dass entsprechende hypothetische Annahmen meist auf die Selbstregulierung der beobachteten Zusammenhänge abzielten (vgl. Hempel 1965: 323). Hier wiederum sieht Hempel das Problem, dass Kernbegriffe wie „Selbstregulierung“, aber auch „Bedürfnis“ und „Anpassung“ (adaptation) kaum und nicht in empirisch überprüfbarer Weise definiert werden. Gerade das „kulturelle Überleben“ sei im Gegensatz zum „biologischen“ schwierig zu definieren. Tautologisch werde die Verwendung von Anpassung beispielsweise, wenn letztlich jede Veränderung als Anpassung interpretiert werde. Das heisst, es sei letztlich nicht geklärt, was das Funktionieren einer Gesellschaft überhaupt bedeutet.

Die logische Schlüssigkeit der Herleitung, die Exaktheit und die Generalisierungskapazität funktionalistischer Sozialwissenschaft werden aus der Warte dieser Kritik bezweifelt. Dies dürfte umso stärker ins Gewicht gefallen sein, da funktionalistische Argumentationen gerade eine entsprechende „Verwissenschaftlichung“ im Sinne einer Orientierung an Naturwissenschaften anstrebten, wie die Verallgemeinerungen, Tabellierungen und die technische Sprache der oben genannten Autoren belegen.Footnote 98

Aus einer religionsgeschichtlichen Perspektive argumentiert Hans Penner (1971: 94) im Anschluss an Hempel, dass aus der empirischen Eruierung von unintendierten Konsequenzen von Religion nichts über das Entstehen, die „Ursachen“, religiöser Traditionen geschlossen werden könne. Aus der Erkenntnis, dass Religion zu Solidarität beitrage, lasse sich zwar Gesellschaft in ihrem Bestehen, jedoch nicht Religion erklären. Der Religionshistoriker, so Penners (1971: 95) Schluss, brauche sich deshalb um funktionalistische Erklärungen nicht zu kümmern.Footnote 99 Hempels Text zum „required reading for every student of religion who has confronted functionalism“ (Penner 1971: 96) erklärend, sieht Penner funktionalistische Theorien als letztlich unfähig an, Religion religionswissenschaftlich zu beschreiben oder zu erklären.Footnote 100

Auch Giddens schliesst, diese Diskussion zusammenfassend:

„The term ‚function‘ implies some sorts of teleological quality that social systems are presumed to have: social items or activities are held to exist because they meet functional needs. But if the fact that they have functional outcomes does not explain why they exist – only an interpretation of intentional activity and unintended consequences does that – the activities may become more readily severed from those outcomes that ‚consequence laws‘ would imply.“ (Giddens 1986: 295–296)

2.4.3 Funktionalistische Reaktionen

Wie lässt sich vor dem Hintergrund dieser Kritik der Einfluss von religiösen Ritualen auf soziale Ordnung noch konzipieren? Bevor eine Antwort darauf gegeben werden kann, sind die Reaktionen auf die Kritik am Funktionalismus zu diskutieren, die Aufschluss über entsprechende Möglichkeiten bieten könnten. Unterscheiden lässt sich zwischen Spezifikation/Quantifizierung, einem Verständnis von Funktionalismus als Methode, dem Einführen eines Verständnisses von Evolution und schliesslich der Umwandlung der Funktionsfrage in diejenige nach spezifizierbaren Konsequenzen.

2.4.3.1 Spezifikation und Quantifizierung

In der Ethnologie findet sich bei sogenannten ökologischen Ansätzen der Versuch, der Kritik des logischen Positivismus Rechnung zu tragen und gleichzeitig die Funktionsfrage weiterzuführen. Dazu werden funktionalistische Verallgemeinerungen der Erkenntnisse über den untersuchten Fall hinaus zurückgestellt. Die Frage nach dem Was sei durch die Untersuchung des Wie zu ersetzen und entsprechend sei es notwendig, Zusammenhänge zu spezifizieren. So reagierte Rappaport mit seinem Frühwerk „Pigs for the Ancestors“ (1984 [1968]) insbesondere auf die Kritik am Funktionalismus Malinowskis, die diesem unter anderem einen Mangel an empirischem Gehalt und Spezifität vorwarfen.

Grundlage seiner Ausführungen war der rituelle Zyklus der Tsembaga Maring, einer auf Gartenbau und Schweinezucht aufbauenden Gemeinschaft in Neu Guinea. Der rituelle Kreislauf bei den Tsembaga wird in seinem Einsetzen und seinem Verlauf durch den Zustand des Ökosystems gesteuert und stellt einen Mechanismus der Selbstregulation dieses Ökosystems dar. Er reguliert die Versorgung der Gemeinschaft mit Ressourcen, indem er entsprechend der Anzahl Schweine, vorhandener Arbeitskraft und Zahl der Alliierten den Umgang der Gemeinschaft mit diesen Faktoren und den potenziell konfliktiven Beziehungen zu den Nachbardörfern so gestaltet, dass für das Ökosystem des Dorfes und seine Population ein dynamisches Gleichgewicht gewährleistet ist:

„(\(\ldots \)) the operation of ritual among the Tsembaga and other Maring helps to maintain an undegraded environment, limits fighting to frequencies which do not endanger the existence of the regional population, adjusts man-land rations, facilitates trade, distributes local surpluses of pig throughout the regional population in the form of pork, and assures people of high quality protein when they are most in need of it.“ (Rappaport 1967: 29)

Rappaport scheint einen Grossteil seiner wissenschaftlichen Laufbahn im Abarbeiten der Kritik an Pigs for the Ancestors aufgewendet zu haben. Wichtig für die vorliegende Diskussion ist die Spezifizierung seiner Erklärungsabsichten. Rappaport strebte nicht die Formulierung universaler Funktionskataloge und Mechanismen ihrer Einlösung an. Zwar könne davon ausgegangen werden, dass Systeme selbstregulierend seien, dies erlaube jedoch nicht, deduktiv auf Elemente zu schliessen, die diese Selbstregulierung erzeugten. Vielmehr interessierte Rappaport sich für „formal kausale“ Erklärungen, die nach den intrinsischen Eigenschaften einer Struktur fragen, die es dieser ermöglicht, eine Anzahl spezifischer Funktionen in einer Diversität von Systemen zu erfüllen, in denen sie vorkommt:

„They [formal causal formulations, Anm. RW] are not properly attempts to stipulate the contribution that a form or structure makes to the persistence of any particular system in which it occurs, but what is intrinsic to that form or structure that makes it suitable to fulfill the range of specific functions its instances do fulfill in the diversity of systems in which they occur.“ (Rappaport 1979: 77–78)

Die Vorwürfe Hempels konnte Rappaport damit weitgehend umgehen (vgl. Burhenn 1980: 353–355). Die Rekonstruktion der Art und Weise, wie Rituale ökologische und politische Beziehungen regulierten, berechtige nicht, diese „Funktion“ allen Ritualen zu unterstellen, und auch nicht, eine solche Funktionserfüllung in allen Zusammenhängen zu erwarten. Wohl aber könne ein bestimmtes Element hinsichtlich der Art und Weise seines Wirkens befragt werden, was wiederum Vermutungen darüber erlaube, wie es in Zusammenhängen wirkt, in denen es in ähnlicher Weise vorkommt. Rappaport fordert damit funktionale Modelle, die nicht danach fragen, was von bestimmten Elementen von Systemen getan wird, sondern zu fassen versuchen, wie es getan wird:

„We might say, for example, that anthropology has known since Durkheim’s time that rituals establish or enhance solidarity among those joining in their performance. Indeed, an awareness of this has no doubt been part of general common sense since time immemorial. Yet we have much to learn about just how ritual creates this solidarity.“ (Rappaport 1979: 49; Hervorhebungen im Original)

An solchen ökologischen Ansätzen, die die Funktion von Religion letztlich in der Ermöglichung des biologischen Überlebens sehen, wurde kulturalistische Kritik laut, die ihnen vorwarf, „culture“ mit „behavior“ zu ersetzen und biologistisch zu reduzieren. Der Ebene der Kultur würde dadurch jede Autonomie abgesprochen (vgl. Sahlins 1976: 89).

2.4.3.2 Funktionalismus als Methode

Sich kritisch auf Parsons’ allgemeine Modelle beziehend, forderte Robert K. Merton die Konzentration darauf, was er als „Theorien mittlerer Reichweite“ bezeichnete. Was er damit genau gemeint hat, ist umstritten (vgl. Schmid 2010). Für die vorliegende Frage nach der Funktion von Religion lässt es sich jedoch so spezifizieren, dass es nicht mehr darum geht, die Funktion von Religion überhaupt zu bestimmen, sondern in erster Linie darum, die spezifischen Funktionen einer bestimmten Religion in ihrem Kontext zu erfassen. Allgemeinformeln wie „Wertintegration“ (Parsons), aber auch „Opium für’s Volk“ (Marx), seien dazu, so Merton (1968: 45), wenig hilfreich. An Stelle solcher verallgemeinernder Aussagen zog Merton den Schluss: „(\(\ldots \)) it is not so much the institution of religion which is rather indispensable but rather the functions which religion is taken typically to perform.“ (Merton 1968: 33). Eine solche Verschiebung trägt auch der Kritik des logischen Positivismus Rechnung:

„This focuses attention on the range of possible variation in the items which can, in the case under examination, subserve a functional requirement. It unfreezes the identity of the existent and inevitable.“ (Merton 1968: 52; Hervorhebungen im Original)

Wie das Zitat zeigt, können gerade die verschiedenen Möglichkeiten zum Thema gemacht werden, was darauf hinweist, dass vor diesem Hintergrund eine universale Funktionszuschreibung von Religion weder Ziel der Analyse noch ihr definitorischer Ausgangspunkt sein dürfte. Funktionalismuskritiker wie Penner (1999: 257) stellen angesichts eines solchen „Äquivalenzfunktionalismus“ richtig fest: „this is not enlightening about what it is we wanted to explain: the existence of ritual in the society“. In einer Merton folgenden Perspektive werden entsprechende Erklärungen auch gar nicht angestrebt.

In seiner Positionierung zur Frage nach der Funktion argumentiert auch Niklas Luhmann in kritischer Auseinandersetzung mit Parsons und unter Berücksichtigung der Kritik Hempels. Wie Merton wendet er sich gegen die Erstellung von Funktionskatalogen und die universalisierende Zuweisung von Vorgängen ihrer Erfüllung:

„Weder vorherbestehende menschliche Grundbedürfnisse noch soziale Funktionen sind mithin brauchbare Ausgangspunkte für evolutionäre Erklärungen. Solche Theorien sind mit Bezug auf primitive Sozialsysteme entwickelt worden und unterschätzen das enorme morphogenetische Potenzial der autopoietischen Operation Kommunikation.“ (Luhmann 2000: 215)

Funktionale Analyse müsse, so Luhmann (2010: 14), vielmehr der Komplexität und Kontingenz sozialer Systeme Rechnung tragen. Luhmann selbst fasst seinen dementsprechenden Ansatz wie folgt zusammen:

„Die funktionale Analyse benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen. Sie bezieht Gegebenes, seien es Zustände, seien es Ereignisse, auf Problemgesichtspunkte, und sucht verständlich und nachvollziehbar zu machen, dass das Problem so oder auch anders gelöst werden kann. Die Relation von Problem und Problemlösung wird dabei nicht um ihrer selbst willen erfasst; sie dient vielmehr als Leitfaden der Frage nach anderen Möglichkeiten, als Leitfaden der Suche nach funktionalen Äquivalenten.“ (Luhmann 1984: 83–84)

Komplexitätsreduktion bzw. der Umgang mit Kontingenz könne zwar weiterhin als universale Funktion von Systemen festgehalten werden. Der springende Punkt ist dabei jedoch, dass gemäss Luhmann diese Bestimmung viel zu allgemein ist und kaum Erkenntnisgewinn anbietet. Sie lässt sich bereits aus der Definition von System ableiten. Gerade weil Systeme in der Situation von Komplexität operieren, ist es aber auch nicht möglich vorherzusagen, wie sie sich spezifisch fortsetzen. Da ihre Selektionen immer auch anders möglich sind, muss auf die Feststellung von „Wesensstabilitäten“ verzichtet werden (vgl. Luhmann 2000: 117).

Da Funktionen historisch variabel sind, sei keine theoretische Ableitung von Bestandsvoraussetzungen der Systeme mehr möglich, es könne kein Funktionenkatalog theoretisch deduziert werden, wie es Parsons noch gemacht hat (vgl. Luhmann 1998: 747). Die Möglichkeit, ausgehend von universalen Bedürfniskatalogen wie den „needs“ Malinowskis oder dem AGIL-Schema Parsons’ Funktionen abzuleiten und Religion darin zu verorten, geht damit verloren.Footnote 101

Statt von Bestandsvoraussetzungen spricht Luhmann von Bezugsproblemen. Damit überführe er (2010: 14) die „Modalform“ von Funktionsaussagen von der Notwendigkeit in die Kontingenz. Die zu erklärende soziale Welt gilt nicht mehr als „kosmische Sphäre des Notwendigen“, sondern das Soziale steht gerade in seiner Kontingenz im Zentrum (Luhmann 1971b: 380). Für die Soziologie geht es nicht mehr darum, notwendige Erfordernisse zu eruieren, mit denen Systeme konfrontiert sind, vielmehr sind diese durch die Welt mit Komplexität konfrontiert, die sie nun in nicht a priori reduzierbarer Weise bearbeiten. Stattdessen rückt die kontingente Bearbeitung kontingenter Problemlagen in den Fokus des wissenschaftlichen Beobachters. Das Bestehen funktionaler Äquivalente, die als Argument gegen den Erklärungswert des Funktionalismus eines Parsons und Malinowski eingeführt wurden, wird dabei zur zentralen Figur. Dieser Ansatz stelle eine „wissenschaftliche Nachkonstruktion“ dar, die „Wahl zwischen vergleichbaren, funktional äquivalenten Problemlösungen im Rahmen derjenigen Sinnsysteme, von deren Strukturen die zu lösenden Probleme abhängen“ (Luhmann 1971a: 90) beobachtet, wobei die Vorhersagbarkeit (das heisst der von Hempel vermisste „predictive import“ des Funktionalismus) kein Ziel mehr darstellt. Ein entsprechendes Vorgehen erlaube es, vergleichende Analysen durchzuführen, ganz unabhängig von der Suche nach Isomorphien und Ähnlichkeiten, da sich Verschiedenes als Äquivalent erweisen kann. „Im Zuge evolutionärer Veränderungen gesellschaftlicher Komplexität verändern sich damit die Probleme und die Bedingungen der Kontingenzausschaltung.“ (Luhmann 1971b: 381). Diese Probleme und Bedingungen gilt es gewissermassen empirisch zu identifizieren.

2.4.3.3 Funktion und Geschichte: Evolution

Während Malinowski seinen Funktionalismus gezielt als Gegenentwurf zu evolutionistischen Theorien positionierte, zeichnete sich ab den 1960er Jahren ein Übergang vom ahistorischen Funktionalismus hin zur funktionalistischen Evolutionstheorie ab. Beleg dafür ist die Ausgabe der American Sociological Review Vol. 29, No. 3: Neben einem Text von Parsons (1964a) zu den „Evolutionary Universals“ findet sich ein Beitrag Bellahs (1964) „Religious Evolution“ und einer von Shmuel Eisenstadt (1964). Dies lässt sich als Zeichen für die Entwicklung strukturfunktionalistischer Positionen hin zu Konzepten deuten, in denen Geschichte eine wichtigere Rolle spielt. Nicht nur Geschichte, über „Evolution“ spielt auch Wandel und Konflikt eine Rolle – worin zudem Religion als wichtiger Faktor gesehen wird. Durch den Fokus auf die historische Spezifität von Religion trat die Thematisierung allfälliger universaler Funktionen in den Hintergrund.

Auch bei Luhmann nimmt Evolution eine zunehmend prominente Rolle ein, während das Konzept von Funktion in seiner Karriere eher an Bedeutung verlor. Typischerweise fänden, so Luhmann (2000: 215–216), in evolutionären Übergangsphasen Funktionswechsel stattFootnote 102; damit stellt er analog zu Theoretikern wie Rappaport, ParsonsFootnote 103, Eisenstadt oder Bellah Evolution an erste Stelle. Evolutionäre Erklärungen versuchen die konfliktive Entstehung von Institutionen, nicht die Universalität von Funktionen, an den Anfang zu stellen. Spezifische Bedürfnislagen oder Funktionen, wie sie bei Malinowski und Radcliffe-Brown betont würden, brauche es für Evolution nicht (vgl. Luhmann 2000: 214).

Während bei funktionalistisch argumentierenden Autoren zunächst eine ahistorische Formenlehre im Zentrum stand, verschoben die genannten Autoren ihr Interesse in Richtung „Wandel“, meist als „Evolution“ gefasst.Footnote 104 Damit verfuhren sie gerade in die Gegenrichtung des klassischen Funktionalismus bei Malinowski, der als Absage an evolutionstheoretische Ethnologie konzipiert war.

Die Verbindung mit einem Verständnis von Wandel, dem letztlich auch die Funktionen und die Art und Weise, wie sie erfüllt werden, unterworfen sind, wird auf die Möglichkeit der Deduktion verzichtet und damit die Vorwürfe des logischen Positivismus zumindest teilweise entkräftet. Weiterhin problematisch bleiben die Anfragen an den Konservativismus und an die Möglichkeit, den Standard des Funktionierens befriedigend definieren zu können. Gerade Letzteres versucht der im Folgenden diskutierte Ansatz zu beheben.

2.4.3.4 Funktion als Effekt: Causal Role Functionalism

Mit McLaughlin (2001) kann ein weiterer Weg, das Funktionskonzept auch nach der Kritik Hempels weiterzuführen, als „dispositional view“ bezeichnet werden: In entsprechenden Ansätzen wird von „einer Funktion“ als „der Funktion“ gesprochen, da es letztlich um Interpretationen hinsichtlich der Kapazität gehe und nicht von einem festgesetzten Standard des Funktionierens ausgegangen werde, der die Funktion bestimmt.

„They [Anhänger entsprechender Ansichten] don’t introduce a feedback requirement into the analysis of function statements. They are not attempting to explain why or how the function bearer X got be where it is.“ (McLaughlin 2001: 118)

Stattdessen wird vom Forscher ein Referenzsystem gewählt, innerhalb dessen von einer Funktion gesprochen werden kann, wenn kausale Effekte zum entsprechenden vom Forscher gewählten Gesichtspunkt beitragen.

Prominenter Vertreter dieser Position ist Robert Cummins (1975). Er weist wie Hempel (1965: 323) darauf hin, dass das Entstehen von Etwas, dem eine Funktion zugeschrieben wird, nicht über dessen Funktion erklärt werden kann, eine Frage, die er auch bei Nagel ungenügend beantwortet findet (1975: 743).Footnote 105 Sein Vorschlag ist es, die Frage nach der Existenz des jeweiligen Funktionsträgers gar nicht zu stellen, die „why-is-it-there“ Frage habe nichts in funktionaler Analyse zu suchen (Cummins 2002: 158).

Dieser Problematik entledigt, lehnt Cummins auch Hempels Vorschlag ab, „proper working order“ als Standard des Funktionierens zu definieren, da das Überleben z. B. bei Tumoren je nach Gesichtspunkt eine Funktion oder Dysfunktion sei. Übergeordnete Kriterien dafür, was als Standard des Funktionierens gilt, sind gemäss Cummins nicht ableitbar. Seine Strategie besteht deshalb darin, das Konzept der „Funktion“ als spezifische Erklärungen für die kausalen Verhältnisse in einem aus der Beobachterperspektive definierten Zusammenhang zu verwenden. Dabei wird von der Kapazität des jeweiligen funktionierenden Elements in einem Ensemble anderer Elemente und ihrer Wirkungen ausgegangen. Diese Beobachterrelativität lässt sich an einem Beispiel veranschaulichen: Wird nach der Funktion des Herzens für die Blutzirkulation gefragt, kann geschlossen werden, dass es als Pumpe fungiert. Wird jedoch nach seiner Funktion für die Eruierung von Lebenszeichen gefragt, kann Geräuschproduktion als Funktion des Herzen identifiziert werden (vgl. Cummins 1975: 762). Damit wird einerseits die Frage, ob eine Funktion zugeschrieben wird, abhängig von der analytischen Strategie des Fragenden, andererseits wird die „why-is-it-there“ durch die „how-does-it-work“ (Cummins 2002: 158) Frage ersetzt.

Abgesehen von einigen für die Argumentation hier wenig relevanten inkonsequenten Beispielen wird Cummins’ Ansatz als logisch konsistent beurteilt (vgl. McLaughlin 2001: 124), die Frage stellt sich jedoch trotzdem, ob seine Strategie heuristisch sinnvoll ist. So kann kritisiert werden, dass mit Cummins zwischen Effekt und Funktion kaum mehr unterschieden werden kann. Während für Nagel die Aussage, dass etwas eine Funktion aufweist, immerhin noch Sinn innerhalb eines bestimmten, zielorientierten Systems hatte, sind Funktionen für Cummins bloss noch vom Beobachter unter einer bestimmten Perspektive beobachtete Effekte.

Ätiologischer Funktionalismus: Proper Function

Dem gegenüber stehen Ansätze, die das Konzept der „proper functions“ verteidigen und Funktion nicht bloss als beobachterrelative Zuschreibung konzipieren: „biological proper functions are effects for which traits were selected by natural selection“, schreibt Karen Neander (1991: 168). „Proper functions“ werden in Neanders sogenannten „ätiologischen Funktionalismus“ daran festgemacht, dass sie sich in einer Geschichte natürlicher Selektion bewährten und deshalb mitgeführt werden, dies umfasst nicht jede Form von Kausalität – insofern ist das Funktionsverständnis spezifischer gefasst als die „causal role function“ bei Cummins. Es handle sich, so Neander im Gegensatz zu Cummins, um ein normatives Verständnis, da über diese Geschichte der Selektion die Möglichkeit eingeführt wird, danach zu fragen, was die betrachtete Sache tun soll. Dieses Sollen wird aus einem übergeordneten Bezugsrahmen abgeleitet, nämlich der Geschichte und zwar der Geschichte der jeweiligen Art. Wie das Zitat und auch die involvierten Theoretiker belegen, dreht sich diese Diskussion um biologische Anwendungen der Evolutionstheorie, sozial- oder gar religionswissenschaftliche Fragen werden dabei, im Unterschied zum Beginn der Diskussion bei Hempel und Nagel, kaum mehr diskutiert. Von solchen Konzeptionen ausgehend, könnte das Funktionskonzept jedoch mittels Theorien sozialer Evolution auch für die Sozialwissenschaften fruchtbar gemacht werden (vgl. Wortmann 2007) – für die Fragestellung und den Ansatz der vorliegenden Untersuchung bietet sich dies jedoch nicht an. Die hier vorgenommenen synchronen Betrachtungen erlauben keine Aussagen über Evolution.

2.4.4 Folgen statt Funktionen

Die Fragestellung dieser Untersuchung bedingt eine Konzeptualisierung des Zusammenhanges zwischen religiösen Ritualen und sozialer Ordnung. Funktionalistische Herangehensweisen bieten einen Weg dazu: So ist die Lösung von den Intentionen der Beteiligten und die Möglichkeit der Frage nach den unintendierten Konsequenzen, die für den Funktionalismus zentral ist, notwendig, um „hinter das Offensichtliche“ zu blicken und sich durch explizite Theoriekonstruktion nicht der Illusion eines „raw empiricism“ hinzugeben, wie Parsons (1964b: 20) feststellt.Footnote 106

Eine unkritische Übernahme einer funktionalistischen Perspektive ist nach den hier diskutierten Kritiken jedoch keine Option. Den verschiedenen Problematiken zugleich Rechnung zu tragen scheint Cummins’ Vorschlag der „causal role function“. Er erlaubt, die Frage nach der kausalen Rolle religiöser Rituale im Hinblick auf die Konstitution verschiedener sozialer Zusammenhänge zu stellen und dabei den „Standard des Funktionierens“ relativ zum jeweiligen Frageinteresse zu formulieren. Das heisst, es geht darum, das jeweilige Explanandum (im Folgenden, siehe Abschn. 2.8, handelt es sich dabei um Interaktion, Gemeinschaft oder Gesellschaft) zu definieren, wie Hempel (1965: 323) es einfordert. Ausgehend vom Explanans (religiöse Rituale) wird gefragt, was dessen kausale Effekte für das Explanandum sind. Das heisst, mit Cummins wird nach ihrer kausalen Rolle gefragt. Diese Rolle wird dabei als spezifisch für das jeweilige Explanandum gesehen.

Damit wird logisch nicht zwingenden Deduktionen vorgebeugt und durch die flexible und von der Fragestellung abhängige Festlegung des „Standards des Funktionierens“ eine Spezifizierung der Aussagen als auch die Explikation normativer Einträge in die Analyse ermöglicht.

Aufgrund der vorliegenden synchronen Betrachtung kann dagegen dem ätiologischen Funktionalismus Neanders, der Festlegung von „proper functions“, nicht gefolgt werden. Aussagen über Vorgänge der Evolution würden eine historische Perspektive bedingen. Verzichtet wird auch auf die Frage nach der Entstehung des Explanans, das heisst religiöser Rituale. Auch soll über ihre empirische Gegebenheit hinaus ihr Bestehen nicht erwartet werden. Damit wird versucht, die normative Dimension zurückzustellen oder zumindest zu kontrollieren. Eine normative Setzung dessen, was Rituale tun sollen, ist sozialwissenschaftlich bedeutend heikler als bei den biologisch verfassten Gegenständen Neanders, da Selbstkonzeptionen des Gegenstandes mit im Spiel sind – dies zeigte nicht zuletzt die Funktionalismuskritik Gouldners.

Der entsprechend strukturierte Blick auf die kausale Rolle von Ritualen legt es nicht nahe, von „Funktionen“ religiöser Rituale zu sprechen, da damit typischerweise nicht an das hier übernommene spezifizierte Funktionsverständnis von Cummins gedacht wird, sondern damit genau diejenigen Verallgemeinerungen verbunden werden, die hier vermieden werden sollen. Deshalb soll in der vorliegenden Arbeit von den Folgen religiöser Rituale für jeweils zu spezifizierende soziale Ordnungen die Rede sein.

2.5 Soziale Ordnung

Mit sozialer Ordnung lässt sich das Explanandum sozialwissenschaftlicher Fragestellung in allgemeiner Weise bezeichnen. Die Rede von sozialer Ordnung findet sich sowohl in der strukturfunktionalistischen als auch in der ethnomethodologischen Durkheim-Rezeption, wird aber gleichzeitig von verschiedener Seite dafür kritisiert, Ausdruck einer konservativen Perspektive zu sein und Ordnung im Sinne von Ordentlichkeit zum Massstab zu erheben. Der Anschluss an diese Diskussionen eröffnet jedoch einen reflektierten Umgang mit dem Konzept, der es erlaubt, etwas zu erfassen, das ansonsten ohne klare Begrifflichkeit implizit mitgedacht würde oder mit anderen Ausdrücken wie „Struktur“ oder „Gesellschaft“ oder als „das Soziale“ bezeichnet werden müsste, die nicht weniger problematisch sind.

2.5.1 Von Hobbes zu Parsons

Die Frage nach der sozialen Ordnung dürfte seine Prominenz der Soziologie Talcott Parsons’ verdanken. Dieser wiederum identifizierte das „problem of order“ als eine Fragestellung, die sich nicht nur bei soziologischen Klassikern wie Durkheim oder Weber fände, sondern sich bis auf Thomas Hobbes zurückführen lasse. Über Parsons’ kritische Rezeption wurde Thomas Hobbes’ Verständnis sozialer Ordnung zum Ausgangspunkt für die soziologische Diskussion zu diesem Konzept. Gemäss Hobbes (1976 [1651]: 112–113) sind die Menschen in ähnlicher Weise mit Fähigkeiten versehen und verfolgen ähnliche Ziele, nämlich Wettbewerb (competition), Misstrauen (diffidence) und Ruhm (glory). Dieses Teilen von Zielen stellt eine Ursache der Konflikte dar:

„Hieraus ergibt sich, dass ohne eine einschränkende Macht der Zustand der Menschen ein solcher sei, wie er zuvor beschrieben wurde, nämlich ein Krieg aller gegen alle.“ (Hobbes 1976: 115)

„Life of man“ sei unter solchen Umständen, so Hobbes (1885: 64) im englischen Original, „solitary, poore, nasty, brutish, and short.“Footnote 107 Sogar die Hunde bellten jeden Unbekannten an, bevor sie wüssten, ob sie ihn kennten (vgl. Hobbes 1976: 116). Den Krieg von Allen gegen Alle, in dem Regeln und Vorstellungen von gut/schlecht gänzlich abwesend seien, habe es schliesslich oft genug gegeben (vgl. Hobbes 1976: 117). Die Einsicht in diesen für das Individuum gefährlichen Zustand könne jedoch zu einer Verbesserung führen: Mit der Kapazität der Vernunft ausgestattet, könnten Menschen Grundsätze festhalten, die den Frieden herstellten (vgl. Hobbes 1976: 118) und es ermöglichten, Verträge zu formulieren und einander Rechte zu übertragen, gemäss derer nicht länger Ziele auf gegenseitige Kosten verfolgt würden (vgl. Hobbes 1976: 121). Das heisst, dass Vernunft und Einsicht bei den potenziell miteinander kollidierenden Individuen zur friedlichen Ordnung von Eigentum und Macht führen könnten (vgl. auch Turner 2008: 80).

Parsons setzt an dieser Stelle kritisch bei Hobbes an: Dessen Position bezeichnet er als „individualistic positivism“ und „utilitarianism“ und führt eine Differenzierung ein, so sei zwischen faktischer und normativer Ordnung zu unterscheiden. Erstere ist das Gegenteil von Zufälligkeit, verstanden als das, was nicht verstanden werden kann, und bietet sich für logisches, wissenschaftliches Verstehen an. Zweitere, die normative Ordnung, ist Ordnung gemäss eines Systems von Normen, Zielen, Regeln.Footnote 108 Die beiden Ordnungen weisen eine gewisse Unabhängigkeit voneinander auf, so kann trotz des Zusammenbruchs einer normativen Ordnung aus der Perspektive des Wissenschaftlers weiterhin von einer faktischen Ordnung die Rede sein (Parsons 1949: 91–92). Tatsächlich sind aber normative Elemente für das dauerhafte Bestehen bestimmter faktischer Ordnungen notwendig, das heisst, dass Parsons für das Problem sozialer Ordnung eine bestimmte Lösung vorsah.

„Thus a social order is always a factual order in so far as it is susceptible of scientific analysis but, as will be later maintained, it is one which cannot have stability without the effective functioning of certain normative elements.“ (Parsons 1949: 92).

Abgesehen davon habe Hobbes, so schreibt Parsons, das Problem der sozialen Ordnung in grosser Klarheit formuliert, wenn auch seine Lösung, der Sozialvertrag, es bedinge, dass das Konzept der Rationalität stark ausgeweitet werden müsse, da die Akteure dafür die Situation gänzlich und vorausschauend begreifen müssten (vgl. Parsons 1949: 93). Diese Rationalität sei gemäss Hobbes die Ausgangslage, dass sich die Menschen zur Wahrung ihrer Interessen in einem Sozialvertrag zusammenfinden, der eine starke Regierung begründet, die für soziale Sicherheit sorge (Parsons 1949: 94). Die utilitaristischen Nachfolger Hobbes’ hätten übersehen, dass dieser nur eine normative Ordnung zu begründen suchte: „What started as normative arguments about what ought to be, became embodied in the assumptions of what was predominantly considered a factual, scientific theory of human action as it was.“ (Parsons 1949: 94).

Im Karriererückblick hält Parsons (1977a: 70) an dieser in seinem frühen Hauptwerk formulierten Zentralität des „Problems sozialer Ordnung“ für die Soziologie fest, das er nun als Problematisierung „(\(\ldots \)) of the relations among, and the balances of factors involved in, states of stability, of tendencies to disorganization and dissolution of systems, and trends of change“ thematisiert. Auch für Durkheim, so Parsons (1949: 307–308), habe das „problem of order“ das zentrale Problem dargestellt. Dabei habe er Ordnung nicht nur als blosse Strukturiertheit des Sozialen gesehen, sondern als normative, beispielsweise rechtlich gesicherte Ordnung. Parsons’ Feststellung, dass die Ordnungsfrage konstitutiv für die Soziologie sei, wird von anderen bezweifelt. Gerade die Unterstellung der Ordnungsfrage an Durkheim sei falsch: „far from supplying the guiding theme of Durkheim’s sociology, it was not, in the terms in which Parsons formulates it, a problem for Durkheim at all“ (Giddens 1976: 709). Hier soll nicht versucht werden, mit Verweis auf einen „richtigen Durkheim“ diese Frage zu entscheiden. Wichtiger scheint es, auf Kritiken am paradigmatischen Verständnis von „sozialer Ordnung“, das sich bei Parsons findet, einzugehen, um dann anhand aktueller Ansätze ein brauchbares Konzept zu erarbeiten.

Parsons’ Formulierung des Problems wird oft kritisch kommentiert. Beispielsweise weist Gerhard Wagner (1991: 122) darauf hin, die Position von Hobbes und Parsons seien beide gleichermassen theologisch und Parsons, so mit Verweis auf einen entsprechenden Vorschlag Luhmanns, sei in Ehren zu emeritieren. Zumindest scheint aber gerade die in der Folge in aller Kürze nachgezeichnete kritische Auseinandersetzung mit der Frage nach sozialer Ordnung als Kernfrage der Soziologie die Theoriediskussion belebt zu haben. Die Diskussion hat dabei nicht etwa zur konsensualen Emeritierung der Frage, sondern zu einer Reihe von Neubetonungen geführt.

Zwei Diskussionspunkte sollen näher betrachtet werden: Erstens die Frage nach der Beziehung zwischen normativer und faktischer Ordnung, zweitens diejenige nach dem Konservativismus des Konzepts:

  1. 1.

    Giddens wirft Parsons vor, normative und faktische Ordnung miteinander zu vermischen: Einerseits anerkenne Parsons – wie soeben gezeigt – den Unterschied zwischen Ordnung als Gegenteil von Zufall/Willkür und Ordnung als Konformität zu normativen Vorgaben. Parsons vermische diese zwei Ordnungen jedoch darauf wieder und halte soziale Ordnung immer notwendigerweise für das Resultat von Normkonformität, dabei handle es sich bei dieser bloss um einen Spezialfall davon (vgl. Giddens 1976: 717). Bemerkenswert ist, dass Parsons (1949: 94), wie eben gezeigt, den utilitaristischen Nachfolgern von Hobbes dieselbe Vermischung vorwarf und durchaus erkannte, dass in der faktischen Ordnung selbst eine (oder mehrere) normative Ordnungen geschaffen werden. Tatsächlich wehrt sich Parsons genau gegen die Vereinheitlichung der zwei Ebenen von Ordnung und lässt sie – zumindest an der von Giddens rezipierten Stelle  – nicht ineinander fallen.Footnote 109 Da Parsons sich später auf die Charakterisierung der Regelung der sozialen Ordnung durch Normen konzentriert hat, lässt sich Giddens’ Vorwurf jedoch, wenn nicht auf die von ihm angeführte Stelle, so doch auf Parsons’ weiteres Werk anwenden. Selbst wenn Parsons auch später wiederholt zwischen den normativen Vorgaben und dem tatsächlichen Handlungsvollzug explizit differenziert (so z. B. hinsichtlich der pattern variables: Parsons und Shils 1951: 79), scheinen bei ihm die Ebenen in den Analysen oft vermischt zu werden. So geht Parsons gewissermassen a priori von einer omnipräsenten Integration von Werten ins Handeln aus, was letztlich bedeutet, dass er die Realität (faktische Ordnung) über den Idealzustand (normative Ordnung) versteht. Auch Wrong schliesst, im Anschluss an Parsons sei das Problem sozialer Ordnung „(\(\ldots \)) inseperably linked to his normative solution to it: the institutionalization of a common value-system proscribing resort to force and fraud and creating ultimate ends held in common.“ (Wrong 1995: 34). Eine entsprechende Theorie nimmt sich gerade die Möglichkeit, theoretisch oder empirisch gehaltvolle Aussagen über Diskrepanzen zwischen Werten und Realität zu machen (vgl. Coram 1987: 467).

    Die Generalisierung einer bestimmten Antwort auf die Ordnungsfrage, nämlich die Erzeugung von Ordnung über Werte, zur universalen Lösung erweist sich als problematisch – mehr dazu im Abschn. (2.6.2). Dies zeigt die Wichtigkeit davon, das Problem sozialer Ordnung nicht so zu konzipieren, dass nur eine Möglichkeit denkbar ist.

  2. 2.

    Hauptgrund für die Ablehnung der Ordnungsfrage war in den 1970er Jahren der Vorwurf, sie sei mit einer bestimmten normativen Position verknüpft. Paradigmatisch dafür ist die Kritik Alvin Gouldners (1970: 251), der die Frage nach der sozialen Ordnung als typisches Merkmal von Funktionalismus und Konservativismus in der Sozialtheorie generell sah. Ziel seiner Kritik war nicht nur der Strukturfunktionalismus, sondern auch Durkheim selbst. Dieser habe, so Gouldner (1970: 119), eine gewissermassen ahistorisch-formale Ordnungsfrage gestellt, nicht zuletzt um sich von Comte, aber auch marxistischen oder sozialistischen Zukunftsprognosen zu unterscheiden.Footnote 110 Da Durkheim das menschliche Problem als über alle Zeiten dasselbe gesehen habe, hätte die Frage nach Ordnung auf Kosten der Frage nach Wandel oder Fortschritt zur alleinigen Leitfrage der Soziologie werden können. Das Stellen einer formalen Frage nach der Ordnung unter Ausblendung von Geschichte und damit verbundenem Wandel würde die Lösung, die das Establishment dem Forscher vorgibt, zum Standard erheben. Die Frage nach Ordnung wird damit zum Gegensatz der Frage nach Konflikt (vgl. Gouldner 1970: 252). Sie als oberstes wissenschaftliches Interesse zu platzieren sei untrennbar an ein Interesse an Bewahrung des gesellschaftlichen Status Quo geknüpft:

„To make social order one’s central concern, then, is indeed to be conservative, and not merely in a metaphysical sense, it is to be politically conservative.“ (Gouldner 1970: 253)

Diese Kritik führt zur wenig ergiebigen Diskussion darüber, ob Parsons nun politisch konservativ eingestellt war oder nicht (vgl. z. B. Gerhardt 2002), was vom eigentlich interessierenden Problem, der Frage nach der Nützlichkeit des Konzeptes „sozialer Ordnung“, wegführt. Die relevantere Frage nach den analytischen Mängeln einer im Sinne Parsons gestellten Leitfrage nach der sozialen Ordnung stellt beispielsweise David Lockwood (1956: 140). Die Konzentration auf eine entsprechende Ordnungsfrage gehe mit der Vernachlässigung von Konflikt einher. Lockwood bestätigte zwar die Kontrastierung von Konflikt und Ordnung, forderte aber, beides gleichermassen zu berücksichtigen.

Ähnlich positioniert sich Giddens, der darauf hinweist, Parsons habe zwar ein Modell von „interest-conflicts“ geliefert, aber eben ein sehr einseitiges. Interessenskonflikte sind nur zwischen dem Individuum und dem Kollektiv möglich, das heisst, im Rahmen der Ordnungsfrage ist in so einer Position der einzige Konflikt derjenige, dass das Individuum sich nicht in das Kollektiv einfügt – tatsächlich ist diese „Sozialisationsproblematik“ ein zentraler Bestandteil des Strukturfunktionalismus.

„In such a perspective, power cannot become treated as a problematic component of divergent group interests embodied in social action, since the meshing of interests is treated first and foremost as a question of the relation between ‚the individual‘ and ‚the society‘.“ (Giddens 1993: 104)

Im Gegensatz zu Durkheim habe Parsons Anomie als blosses Ausbleiben von Werten gefasst und damit nicht als etwas, was in der sozialen Ordnung durch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Ansprüche und Machtverhältnisse entstehen kann. Damit wird die Ordnungsfrage auf die Frage der Einfügung des Individuums in die Gesellschaft übersetzt und andere mögliche Konflikte, wie z. B. solche zwischen verschiedenen Gemeinschaften oder zwischen Individuen, die unterschiedlichen Wertgesichtspunkten folgten, nicht mitgedacht.

2.5.2 Jüngere Positionen

Diese kritischen Auseinandersetzungen mit der Frage nach der sozialen Ordnung dürften dazu beigetragen haben, dass sie sich als Ausgangsfrage nicht aus der Soziologie verabschiedet hat, sondern in unterschiedlicher Fassung, z. B. bei Erving Goffman, in der Strukturationstheorie von Giddens, der Systemtheorie und der Ethnomethodologie weitergetragen wird.

2.5.2.1 Goffman: Shared cognitive presuppositions statt Werte

Die Rede von Ordnung in Bezug auf Interaktion im Sinne von Kommunikation unter Anwesenden findet sich bei Erving Goffman bereits im Titel seiner Aufsatzsammlung „The Interaction Order“ (1983) – „for want of any happy name“, wie er (1983: 2) betont. Dabei verwendet er den Begriff zur Bezeichnung bestimmter „Handlungsfelder“, wie zum Beispiel „the economic order“ (Goffman 1983: 5). So ist er sich der dem Begriff anhaftenden Problematik bewusst, lehnt eine notwendige Verbindung von Ordnung mit Ordentlichkeit ab und betont:

„No implications are intended concerning how ‚orderly‘ such activity ordinarily is, or the role of norms and rules in supporting such orderliness as does obtain. Yet it appears to me that as an order of activity, the interaction one, more than any other perhaps, is in fact orderly, and that this orderliness is predicated on a large base of shared cognitive presuppositions, if not normative ones, and self-sustained restraints.“ (Goffman 1983:  5)

Einerseits weist Goffman die Implikation einer Ordentlichkeit im Sinne einer Entsprechung zu Normen zurück. Andererseits sieht er jedoch, dass die jeweilige Ordnung mit bestimmten Erwartungen verknüpft wird, die von den Leuten auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes selbst gehegt werden. Er sieht also eine jeweils spezifische Strukturiertheit der von ihm diskutierten Ordnungen. Diese Ordnung beruht aber noch auf anderen Formen der Strukturierung als bloss Werten und Normen, Goffman folgend insbesondere auf „shared cognitive presuppositions“.Footnote 111

2.5.2.2 Giddens: Social relations across time and space

Einen anderen Weg, Kriterien der normativen bzw. werthaften Integration für die Ordnungsfrage abzulösen, beschreitet Giddens. Selbst wenn er die Bedeutung dieser Frage für die Geschichte der Sozialtheorie für nicht so wichtig hält wie Parsons und dessen Fassung grundsätzlich kritisiert (vgl. Giddens 1993: 103), möchte er die Ordnungsfrage nicht aus der Soziologie verabschieden. In seiner Formulierung lautet sie jedoch ganz anders:

„But the fundamental question of social theory, as I see it – the ‚problem of order‘ conceived in a way quite alien to Parsons’s formulation when he coined the phrase – is to explicate how the limitations of individual ‚presence‘ are transcended by the ‚stretching‘ of social relations across time and space.“ (Giddens 1986: 35)

Das Problem für Giddens sind nicht die konfligierenden sozialen Interessen wie bei Parsons, sondern soziale Ordnung konstituiert sich durch die Überschreitung raum-zeitlicher Differenzierungen durch das Transzendieren räumlicher und zeitlicher Grenzen (vgl. Joas 1988: 15). Die Frage wird dabei gänzlich von bestimmten Antworten, wie z. B. der Wirksamkeit von Werten und Normen, gelöst. Für ein ritual- und praxistheoretisches Interesse dürfte dies zielführend sein, da die raumzeitliche Spezifität von Ritualen und ihr Bezug zu übergreifenden sozialen Konfigurationen ins Blickfeld der Frage gerückt werden kann, ohne von voraussetzungsreichen Vorannahmen wie derjenigen der Wertintegration ausgehen zu müssen.

Bei Goffman und Giddens wird das Feld für die Faktoren, auf denen Ordnung beruhen kann, geöffnet, womit die Ordnungsfrage auch nicht mehr auf die blosse Frage nach der Realisierung von Werten reduziert werden kann.

2.5.2.3 Alexander: Konflikt und Ordnung als Alternative?

Ein weitere wichtige Bewegung ist diejenige weg von der Gegenüberstellung von Ordnung und Konflikt. So hält Jeffrey Alexander (1982: 91) die Debatte zwischen Positionen, die Ordnung und solchen, die Konflikt betonen, für wenig zielführend. Letztlich würden auf beiden Seiten partikularistische Auffassungen von Ordnung vorherrschen. Die Konflikttheoretiker würden die enge Auffassung eines Ordnungstheoretikers reproduzieren, wenn sie Konflikte als Kontrast zu Ordnung sehen. Stattdessen schlägt Alexander eine breite Definition vor, die Konflikt und konfliktfreie Zustände als Ordnung fassen kann:

„The problem of order is the problem of how individual units, of whatever motivation, are arranged in nonrandom social patterns. Defined in such a generic manner, as the neutral problem of ‚arrangement‘ or ‚pattern‘, it is clear that every social theory must address the order question.“ (Alexander 1982: 92)

In dieser Allgemeinheit kann Alexander durchaus Universalität für die Ordnungsfrage in der Soziologie reklamieren. Eine solche Breite lässt sich aber wiederum als analytisch wenig sinnvoll kritisieren. So hält Bruce Coram Alexanders Verständnis für zu breit und bringt mit dem Aspekt der „Erhaltung“ eine gewisse Konkretisierung in das Konzept ein. Er sieht „order as the maintenance of a stable structure and production of the material conditions of existence“ (Coram 1987: 467). Unter Verzicht auf eine solche materialistische Engführung findet sich eine ganz ähnliche Spezifizierung in Luhmanns Systemtheorie:

„Ihr [der Systemtheorie, Anm. RW] geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Anschlussfähigkeit erreicht wird, welche Mechanismen zu Anschlussformen führen, die sich selbst stabilisieren und fortsetzen können. Dabei dient nicht der Grad der Stabilität als Gradmesser fürs Gelingen. Es ist dies keine Theorie der homöostatischen Ultrastabilität à la Parsons mehr. Es interessiert vielmehr der (unwahrscheinliche und doch empirisch häufige) Fall, dass und wie es überhaupt zu Stabilitäten, zu sozialen Erwartungen und zu Strukturbildungen kommt.“ (Nassehi 2004: 157).

Dies erinnert an die Funktionalismusdiskussion, in der die Frage nach dem „Standard des Funktionierens“, hier: der Stabilität, gestellt wird. Entscheidend ist dabei angesichts der Kritik an Parsons, dass weder die Frage, worin eine Ordnung besteht, noch diejenige, wie sie erzeugt wird, vorweggenommen werden kann. Mit dem Gegenstand des Wissenschaftlers ändert die Ordnung, die Modi ihrer Erzeugung und deshalb auch die Fragestellung.Footnote 112

2.5.2.4 Garfinkel: Wer bestimmt die Ordnung?

In diesem Zusammenhang entscheidend ist die Frage, wovon die zu erklärende soziale Ordnung überhaupt als solche bestimmt wird:Footnote 113 Ist es der Wissenschaftler, der eine analytische Einheit einführt oder wird die Ordnung im Gegenstand selbst hergestellt?

Hier wendet sich eine systemtheoretische Soziologie in der Folge Luhmanns von Parsons ab: Letzterer sah die Systeme, von denen sie handelte, letztlich als analytische Konstrukte des Forschers, während Luhmann die Struktur- und damit Ordnungsbildung auf der Ebene des Gegenstandes selbst sah (vgl. Luhmann 1984: 16).

Eine diesbezüglich ebenfalls dezidiert gegen Parsons gerichtete Position nimmt Harold Garfinkel ein. „His [Parsons, Anm. RW] research interest is with the problem of social order“, greift Garfinkel (1996: 21) Parsons auf, dies mit Verweis auf die Structure, die er als wichtiges Werk und Ausgangspunkt der Ethnomethodologie sieht, dies aber in einer kreativ-rekonstruktiven Lesart (vgl. Garfinkel 1988: 106). Garfinkel grenzt sich nämlich in grundsätzlicher Weise von Parsons hinsichtlich des Zusammenhanges von Soziologie, Alltag und sozialer Ordnung ab. Er bespricht dessen Unterscheidung zwischen „concreteness“ und „analysis“ und verwirft diese Unterscheidung insofern, als Parsons die Ordnungsleistung nur dem Soziologen zuspreche:

„We learned from The Structure. . . [sic, die Punkte stehen für „of social action“; Anm. RW] that specifics in producing the phenomena of order are found, collected, described, explained, and demonstrated administering a distinction between concreteness of organizational things on the one hand, and the real society that methods of constructive analysis would provide on the other; that only methods of constructive analysis could provide – only and entirely – for any and every orderliness whatsoever, for every one of the endlessly many topics of order meaning, reason, logic, or method, and for every achievement of any of these topics of order* after they were prepared for inquiry by formal analytic sociology by being respecified as phenomena of order* that are achieved in and as analytically represented generic workings of immortal, ordinary society.“ (Garfinkel 1988: 106).Footnote 114

Parsons spreche der „concreteness“, der sozialen Welt, die den Untersuchungsgegenstand für den Soziologen darstelle, eine hohe Vielfalt zu, spreche ihr aber die Ordnung ab, diese fände auf der Ebene der „analysis“ statt und stelle eine Leistung des Wissenschaftlers dar“. Dagegen weist Garfinkel darauf hin, dass in der Konkretion des Gegenstandes selbst eine Ordnung hergestellt werde, die als solche das Geschehen auch bestimmt.Footnote 115 Aus ethnomethodologischer Perspektive wird in einer Sozialwissenschaft, wie sie bei Parsons konstatiert wird, dem Forscher zu viel und dem Gegenstand zu wenig zugetraut. Dabei seien doch die Menschen in ihrem Alltag ihrerseits „Soziologen“, da die fortlaufende Herstellung sozialer Ordnung ihr Werk sei. Diese Ordnung ist „a practical achievement“ (Garfinkel 1988: 103, Fn 1). Die Aufgabe der Ethnomethodologie, die Rekonstruktion dieser Ordnung, ist deshalb nicht grundsätzlich verschieden von dem, was in der alltäglichen Praxis erfolgt. Es geht in ihr um:

„(\(\ldots \)) empirical studies of practical actions, so-called ‚naturally organized ordinary activities.‘ These studies demonstrate locally produced, naturally organized, reflexively accountable phenomena of order* in and as of Parsons’ plenum, in detail.“ (Garfinkel 1988: 106).

Die wichtigste Referenz für diese Position stellt aber gerade bei Garfinkel ebenfalls Durkheim dar und das, was er als dessen „Aphorismus“ bezeichnet und wie folgt wiedergibt: „The objective reality of social facts is sociology’s fundamental principle.“ (Garfinkel 1996: 11). Auf diese Objektivität gelte es nun zuzugreifen – in diesem Zugriff unterscheiden sich aber die Durkheiminterpretationen, betont Sharrock (1999), der entlang dieser Differenz zwischen Garfinkel und Parsons die Grenze zwischen ethnomethodologischen und „orthodox Durkheimians“ allgemein zieht. Letztere würden die Identifikation sozialer Ordnung als von der soziologischen Perspektive gesetzte Kategorie sehen, die die Bewusstheit der Mitglieder der Gesellschaft überschreitet, während Ethnomethodologen sie als Aufgreifen der natürlichen Einstellung sehen, die die Soziologen und ihr Untersuchungsfeld teilten: „Orthodox Durkheimians assume that it is the professional sociologist who will adjudicate what is real“, so Wes Sharrock (1999: 136; Hervorhebungen im Original).

2.5.3 Offene Ordnungen

Bei einer Berücksichtigung der Kritiken und der Neufassungen der Ordnungsfrage ist es nicht notwendig, sich vom Konzept der sozialen Ordnung zu verabschieden. In Anbetracht der eben kurz rekonstruierten Diskussion sind folgende Schlüsse für die Rede von sozialer Ordnung wichtig:

  1. 1.

    Ordnung ohne normative Grundlegung: Wenn, wie von Dennis Wrong gefordert, die Frage nicht an eine bestimmte Lösung gekoppelt wird, scheint es möglich, die Ordnungsfrage beizubehalten und gleichzeitig ihre von Giddens, Gouldner und auch Wrong problematisierte normative Grundlegung zu vermeiden. Wenn nicht Werte und diesbezüglicher Konsens oder die Befolgung von Normen als einzige Garanten für Ordnung gesehen werden, können die Kriterien für Ordnung breiter formuliert werden und mit sozialer Ordnung soziale Strukturen, im Sinne der Erwartbarkeit von Kommunikation, Handlung oder sozialen Beziehungen, jeglicher Art bezeichnet werden: Auch Konflikte, das heisst Kommunikation, die über die Kommunikation von Widerspruch funktioniert, sind in dieser Hinsicht als soziale Ordnung zu bezeichnen, da zwar Erwartungen enttäuscht werden, dies aber mit neuen Erwartbarkeiten (nämlich derjenigen des Widerspruchs) einhergeht (vgl. dazu Luhmann 1984: 508–509).Footnote 116

  2. 2.

    Keine Determination: Dies weist darauf hin, dass es keinen Grund dafür gibt, soziale Ordnung mit Stabilität oder Determination gleichzusetzen. Wie später Laclau und Mouffe mit der Rede von der „Überdetermination“, betont Durkheim in den Formes (1994: 368 f., 388 f.), dass die soziale Ordnung zwar das Resultat des Wirkens sozialer Kräfte sei, diese Wirkungen aber nicht determinierend seien, sondern mit Spielraum beispielsweise für Akteure einherginge. Auch dieser Spielraum kann Teil des Erwarteten und damit der Ordnung sein. Im Beispiel von Konflikten ist die Ordnung insofern durch hohe Strukturiertheit gekennzeichnet, da zuverlässig mit Widersprüchen gerechnet werden kann, mit welchen Alternativen aber der Widerspruch aufwartet und ob diese ihrerseits akzeptiert werden, ist offen.

  3. 3.

    Gegenstand und wissenschaftlicher Beobachter: Hier wird die Ordnungsfrage nicht mit einer „konservativen“, konsensorientierten Durkheim-Lesart verbunden. Ordnung ist etwas, was vom Gegenstand selbst produziert wird: „Soziale Ordnung“, „Überzufälligkeiten“, „Erwartungen“, „Strukturen“ sind, wie auch immer sie bezeichnet werden, darin wird mit Garfinkel einig gegangen, das Resultat von Vorgängen im Gegenstand selbst. Der Sozialwissenschaftler versucht, diese Produktion und Reproduktion zu analysieren. Die Analyse ist jedoch keine blosse Wiedergabe, bei der zuversichtlich darauf gezählt werden kann, dass das Bewusstsein einer bestimmten sozialen Ordnung anzugehören, von Forschern und Erforschten geteilt wird. Der Vorgang der Analyse stellt eine ordnende Aktivität dar, wie mit Bourdieu (siehe Abschn. 2.2.2.2) anzumerken ist. Die wissenschaftliche Repräsentation sozialer Ordnung ist nicht die soziale Ordnung. Von einer Entsprechung der wissenschaftlichen Repräsentation mit einer ihr zugrunde liegenden objektiven Ordnung auszugehen, hiesse, eine Position des Objektivismus einzunehmen. Der Glaube daran, als Wissenschaftler die Sicht des Untersuchungsgegenstandes auf sich selbst wiederzugeben, würde wiederum dem von Bourdieu kritisierten Subjektivismus entsprechen. Aus praxistheoretischer Sicht sind beide Varianten abzulehnen – und da damit die Spezifität des wissenschaftlichen Blicks einen Einfluss auf dessen Rekonstruktion der sozialen Ordnung hat, sind entsprechende Reflexionen wichtig. Gerade die soziologische Frage nach der sozialen Ordnung in einer untrennbaren Beziehung mit „Konservativismus“ zu sehen, scheint jedoch fragwürdig. Die Frage danach, wie soziale Ordnung möglich sei, setzt zwar voraus, dass sie möglich ist. Gleichzeitig ist sie Ausgangspunkt dafür, dieses Funktionieren als nicht selbstverständlich zu sehen. Durch die Analyse wird die Gegebenheit einer real vorfindbaren Ordnung in Bezug zu anderen Möglichkeiten gesetzt, das heisst als Selektion gesehen, die in einem Möglichkeitsraum steht und durch diese überdeterminiert (siehe Abschn. 2.2.3.2) ist. Die Frage nach sozialer Ordnung hat damit Kontingenz als ihren Ausgangspunkt und ist nicht inhärent konservativ.

  4. 4.

    Soziale Ordnung und soziale Ordnungen: Das Problem soziale Ordnung stellt eine allgemeine Fragestellung dar, die anhand empirisch gegebener Formen beantwortet werden muss. Für eine empirisch basierte Sozial- und Religionsforschung geht es nicht darum, in sozialphilosophischer Absicht nach der sozialen Ordnung als Abstraktum, sondern es geht darum, nach unterschiedlichen Konfiguration von „social relations across time and space“ zu fragen, die höchst unterschiedlich ausfallen können. Kommunikationen, Handlungen, Praktiken – was auch immer die gewählte Begrifflichkeit ist – weisen gewisse Muster auf und es gilt zu verstehen, wie diese Muster gerade angesichts anderer Möglichkeiten entstehen und sich wandeln, wobei die Antworten auf die Ordnungsfrage aufgrund dieses Wandels nicht endgültig sein können (vgl. ähnlich: Wrong 1961: 186). Ohne Spezifizierungen würden in der hier gewählten Fragestellung nach „religiösen Ritualen und sozialer Ordnung“ Explanans und Explanandum zusammenfallen, da auch religiöse Rituale eine soziale Ordnung darstellen. Deshalb geht es darum, bestimmte Formen sozialer Ordnung zu charakterisieren, um dann fragen zu können, welche Wirkungen es zwischen ihnen gibt. Dabei wird diesen Ordnungen ein gewisses Mass an Selbständigkeit zugeschrieben, das heisst, die Ordnungen werden als nicht aufeinander reduzierbar gesehen.Footnote 117

    Um fragen zu können, wie Rituale mit anderen Typen sozialer Ordnungen zusammenhängen, wird es als erstes notwendig sein, diese ihrerseits zu charakterisieren, was im Abschn. 2.8 geschieht.

  5. 5.

    Ordnung und Möglichkeiten: Eine letzte Entscheidung hinsichtlich des hier verwendeten Verständnisses von sozialer Ordnung gilt der Gefahr des Konservativismus der Ordnungsfrage. Wenn die Ordnungsleistung vom Gegenstand erbracht wird, stellt sich die Frage, inwiefern der beobachtende Wissenschaftler, indem er den Blick auf diese Ordnungen legt, Kontingenzen zu Gunsten der im Gegenstand vorgenommenen Setzungen verkennt. Damit würde soziale Ordnung letztlich nur hinsichtlich der Positivität ihres Bestehens und nicht der Potenzialität ihres Entstehens und ihres künftigen Wandels reflektiert, was die Sinnhaftigkeit der sozialen Welt verkennen würde. Entsprechende Warnungen finden sich bei Laclau und Mouffe, die jenseits der klassisch soziologischen Diskussion ihrerseits die Möglichkeit der Frage nach sozialer Ordnung diskutieren. Dabei betonen sie die letztlich nicht loszuwerdende Unordentlichkeit des Sozialen und sehen soziale Ordnungen „als prekäre und letztlich verfehlte Versuche, das Feld der Differenzen zu zähmen“ (Laclau und Mouffe 1991: 142). Dieses Verständnis geht einher mit einem dezidierten Anti-Essenzialismus:

    „Die Gesellschaft und die sozialen Agenten haben kein Wesen, und ihre Regelmässigkeiten bestehen lediglich aus den relativen und prekären Formen der Fixierung, die die Errichtung einer bestimmten Ordnung mitsichbringt [sic].“ (Laclau und Mouffe 1991: 145)

    Da keine „wesenhafte Determination“ der Gesellschaft möglich sei, das heisst, diese nicht als Resultat zugrunde liegender Strukturen, sondern als Resultat kontingenter Setzungen zu verstehen sei, sei sie überdeterminiert.

Um das zu berücksichtigen, kann soziale Ordnung als Realisierung von Strukturen verstanden werden, womit, Luhmann (1984: 219) folgend, wiederum im Feld bestehende Erwartungen gemeint sind, nicht bereits hergestellte Verknüpfungen. Über das Konzept von Erwartungen wird die Herstellung sozialer Ordnung als Vorgang gesehen, der nicht determiniert, aber dennoch durch Überzufälligkeiten strukturiert ist, die gerade auch von ihrer Sinnhaftigkeit herrühren können. Erwartungen bestehen nicht nur seitens des wissenschaftlichen Beobachters, sondern, wie im Goffman-Zitat im Abschn. 2.5.2.1 gesehen, auch im Feld selbst und strukturieren dadurch Wahrnehmungen und Selektionen.

2.6 Rituale und Glaubensvorstellungen

Die Konzeptualisierung der Beziehung zwischen Ritualen und Glaubensvorstellungen stellt eine zentrale Problematik für die sozial- und religionswissenschaftliche Beschäftigung mit Ritualen dar. Die entsprechende Positionierung hat grundlegende handlungs- und gesellschaftstheoretische Implikationen. Hier soll sie in der Auseinandersetzung mit zwei verschiedenen Interpretationslinien von Durkheims Formes erfolgen. Die strukturfunktionalistische Tradition, diskutiert in Abschn. 2.6.2, betont den Primat der Glaubensvorstellungen, zu deren blossen Implementation Rituale dienten, während eine praxistheoretisch anschlussfähigere Lesart (Abschn. 2.6.3) die Rituale als primär betrachtet. Letzterer soll gefolgt werden, wobei entsprechende Durkheiminterpretationen in Abschn. 2.6.4 mit weiteren, für eine entsprechende Position relevanten Ansätzen, ergänzt werden soll. Als erstes gilt es jedoch, Durkheims eigene Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Ritualen und Glaubensvorstellungen zu diskutieren.

2.6.1 Pratiques und croyances bei Durkheim

Die Unterscheidung zwischen Glaubensvorstellungen und Ritualen stellt das Ordnungsprinzip der Formes dar: Deren Hauptteil besteht aus einem Buch zu den „Die elementaren Glaubensvorstellungen“ und einem Buch mit dem Titel „Die wichtigsten Ritualhaltungen“ (vgl. 1994: 5–16, 639–647). Nicht nur für die Besprechung des Gegenstandes dient die Unterscheidung Durkheim als Ordnungsprinzip, auch im erkenntnistheoretischen Einstieg der Formes, der dem Definitionskapitel vorausgeht, ist sie wichtig; Durkheim (1994: 37, 23) kontrastiert hier „l’ordre pratique“ mit „l’ordre de la pensée“.Footnote 118 Und schliesslich spielt die Unterscheidung zwischen Glaubensvorstellungen und Praktiken auch in der Religionsdefinition Durkheims (1994: 75, 65) eine zentrale Rolle, wo er die Beziehung der zwei Bereiche unter der Kurzformel, dass sie ein „système solidaire“ darstellten, einführt.

Über das ganze Werk hinweg siedelt Durkheim verschiedene Begriffe auf den zwei Seiten dieser Unterscheidung an: Auf der Seite des „ordre pratique“ Rituale, agir/Handlungen, pratiques/Praktiken, sowie croyances/Glaubensvorstellungen, culte/Kult und activité (vgl. Durkheim 1994: 22, 7), auf der Seite des „ordre de la pensée“, croyances/Überzeugungen, systèmes de croyances, pensée/Denken oder représentations/Grundvorstellungen (vgl. Durkheim 1994: 21, 6)Footnote 119. Die Sache wird dadurch verkompliziert, dass Durkheim diese Begriffe wiederum in verschiedenen Bedeutungen verwendet. So findet sich représentations in einer Vielzahl von Bedeutungen und Konnotationen: Glaube, Mythos, Idee, Wert (vgl. Pickering 2009: 281).

Ein Vorrang einer Seite der Unterscheidung lässt sich nicht ohne Weiteres ausmachen.Footnote 120 So weist Durkheim darauf hin, dass „der Kult im Prinzip vom Glauben“ (Durkheim 1994: 143, 141) stamme, um gleich darauf festzustellen, dass der „Mythos“ sich oft nach den Riten entwickle, um ihnen eine Deutung zu geben. Auch die Frage der Grundsätzlichkeit der Unterscheidung ist schwierig zu beantworten. Durkheim (1994: 143, 141) schreibt, die zwei Seiten seien zwar „zu eng verbunden, als dass es möglich wäre, sie reinlich zu trennen“. Gleichzeitig seien die zwei Bereiche aber so verschieden, dass sie getrennt betrachtet werden müssten.

Vielleicht gerade wegen der in solchen Passagen bestehenden Offenheit für verschiedene Deutungen wurde die Frage von Durkheims Auffassung hinsichtlich der Gewichtung und Gestaltung der beiden Seiten kontrovers diskutiert und zu einem zentralen Streitpunkt in der Rezeptionsgeschichte.

Einiges scheint darauf hinzuweisen, dass es sich um eine wenig erkenntnisträchtige Huhn oder Ei-Frage handeln könnte. Mit dem Hinweis darauf, dass Handlungen mit Bedeutungen untrennbar verknüpft sind und die zwei Seiten bloss als analytische Dimensionen wichtig seien, könnte sie ad acta gelegt oder zumindest entschärft werden. Dagegen spricht, dass es sich erstens bei Durkheim nicht um eine bloss analytische Unterscheidung handelt und zweitens Glaubensvorstellungen und Praktiken nicht einfach zwei Seiten einer Medaille sind. In verschiedenen Passagen verweist Durkheim darauf, dass sich im Rahmen sozialen Wandels die Beziehung und Gewichtung der beiden Seiten der Unterscheidung verschiebe, dies sowohl in der Division (z. B. Durkheim 1992: 351, 274) als auch in den Formes (vgl. 1994: 560, 598).

Es geht bei der Frage nach dieser Unterscheidung nicht bloss um die unterschiedliche Interpretation von Durkheims Religionssoziologie oder die Frage, ob nun Ritual oder Mythos religionsgeschichtlich dem jeweils Anderen vorausging. Die Formes sind nicht nur ein Beitrag zur Religionssoziologie, sondern haben, wie bereits ihr Einleitungskapitel deutlich macht, eine epistemologische Dimension. Dementsprechend wird in entsprechenden pragmatischen (vgl. Joas 1987: 267)Footnote 121 oder praxistheoretischen Annäherungen an Durkheim betont,Footnote 122 dass dieser mit seiner Religionssoziologie eine Erkenntnistheorie formulierte, was Durkheim selbst im Einstiegskapitel der Formes so deklariert: „Objet de recherche. Sociologie religieuse et théorie de la connaissance“.Footnote 123 Das heisst, bei der Auseinandersetzung mit den Aborigines und den von Durkheim festgestellten Bezügen zwischen Glaubensvorstellungen und Praktiken geht es nicht bloss um die Frage, ob in einem spezifischen religiösen Kontext (dessen Rekonstruktion durch Durkheim sowieso nicht über alle ethnographische Zweifel erhaben ist) Glaubensvorstellungen oder Rituale irgendwie „wichtiger“ sind, sondern wie der Zusammenhang von Denken und Handeln für den sozialwissenschaftlichen Betrachter zu denken ist. Es ist das Spezifische an Durkheims Ansatz, dass er diese Epistemologie nicht nur in der Einleitung und am Schluss betreibt, sondern dass sie untrennbar mit den soziologischen oder ethnologischen Ausführungen zu den Aborigines verknüpft sind.

Wenn das Verhältnis zwischen Glaubensvorstellungen und Praktiken in den Formen von praxistheoretischen Ansätzen ganz anders gelesen werden als im Strukturfunktionalismus, mit dem sie in der Folge kontrastiert werden, hat das einerseits religionssoziologische Implikationen, aber auch darüber hinausgehende Konsequenzen für die Art und Weise, wie der Gegenstand der Soziologie und der Religionswissenschaft verstanden wird und wie dieser erforscht werden kann.

2.6.2 Strukturfunktionalistische Durkheiminterpretationen

Für den sozialwissenschaftlichen Einfluss der Unterscheidung zwischen Glaubensvorstellungen und Ritualen entscheidend war der Strukturfunktionalismus. Er übertrug die genannte Unterscheidung in eine Differenzierung zwischen kulturellen und sozialen Systemen und siedelte in ersten u. a. „Symbole“, „Werte“ und „Kultur“ an. Diese Tradition prägte die amerikanische mainstream-Soziologie von den 1940er bis in die 1960er Jahre, bleibt jedoch für Vorstellungen wie diejenige, dass Religion ein kulturelles System ist, oder Ausdrücke wie „Symbolsysteme“ bis in die Gegenwart ein wichtiger, oft nur impliziter, Bezugspunkt.

Am Anfang der strukturfunktionalistischen Auseinandersetzung mit Durkheim in der Soziologie stand Talcott Parsons, für den Durkheim die ganze Karriere hindurch einen wichtigen Bezugspunkt darstellte (vgl. Parsons 1973: 34). Dabei stand die Frage, wie „Vorstellungen“ und „Handlungen“ zueinander stehen, im Zentrum, wobei insbesondere der Begriff des „Werts“ eine zentrale Rolle erlangte.

2.6.2.1 Structure

Für die vorliegende Fragestellung ist als erstes die Durkheim-Rezeption in Parsons’ Erstlingswerk, der Structure (1949), relevant. Ziel der Structure ist die Herausarbeitung einer allgemeinen Konvergenz in den Sozialwissenschaften, in der von Parsons diskutierte Klassiker eine zentrale Rolle spielen und die hin zu einer voluntaristischen Handlungstheorie führt (vgl. Parsons 1949: 15). Dass Parsons europäische Klassiker diskutierte, ermöglicht den Transfer der Werke dieser Autoren, die im Fall von Weber und Durkheim nur teilweise in englischen Übersetzungen zugänglich waren, in die amerikanische Sozialwissenschaft und erlangte auch paradigmatischen Status für die Art und Weise des Umgangs mit Klassikern (vgl. Holmwood 1996: 20).

Die Konvergenz zwischen den von ihm diskutierten Autoren besteht für Parsons in der Anerkennung der Wichtigkeit von Werten für das menschliche Handeln und die damit verbundene Ablehnung dessen, was Parsons als „Positivismus“ bezeichnet. In seiner stärksten Form habe dieser menschliches Handeln ganz über biologisches Erbe und Umweltfaktoren und ohne die Berücksichtigung des Subjekts verstehen wollen (Parsons 1949: 718). Auch utilitaristische Theorien, die durchaus das Subjekt berücksichtigen würden, seien zu überwinden: Ihnen käme ein „atomistic character“ (Parsons 1949: 718) zu, die Beziehung von Zwecken (ends) oder Werten untereinander würde ignoriert. Dies führe zu einem „implicit theorem that they have no such relations that are important to the logical structure of theory. That is, that relative to the considerations affecting the rational choice of means, the center of gravity of theoretical interest, they may be held to vary at random.“ (Parsons 1949: 60). Das heisst, entweder würde Werten wie im Utilitarismus eine universale Rationalität unterstellt oder sie würden nur als vereinzelte, unsystematische und damit „zufällige“ Zwecke thematisiert. Einer solchen Position widerspricht Parsons: Umweltfaktoren und individuelle Interessen seien zwar Bestandteil des Handelns, unabdingbar für dieses seien jedoch auch Werte, die in Systemen organisiert seien. Gerade in Durkheims Formes fand Parsons Wege zu ihrer soziologischen Berücksichtigung.Footnote 124

Entsprechend diskutiert Parsons die Formes in der Structure ausführlich und anerkennt dabei explizit die Wichtigkeit, die Durkheim den Ritualen zuschreibt (vgl. z. B. Parsons 1949: 437). Insbesondere sieht Parsons (1949: 426) jedoch „the intellectual formulation, part determinant, part expression, of the cognitive basis of common ultimate-value attitudes“ als wichtigsten Beitrag von Durkheims Religionssoziologie. Über zufällige, das heisst nicht durch eine übergreifende normative Ordnung festgelegte, sondern beispielsweise rein subjektive Handlungsziele könne soziale Ordnung nicht erklärt werden, betont Parsons (1949: 387) und sieht in Durkheim einen Verbündeten für seine Position. Dieser sehe „elements of wants“ sowie „heredity“ und „environment“ als nicht-soziale Faktoren, betone aber, dass die sozialen Faktoren entscheidend seien. Das Soziale sei dabei für Durkheim ein moralisches System, ein System von Werten (vgl. Parsons 1949: 388–389), wobei diese moralischen Vorschriften und kollektiv geteilten Ziele nicht über Zwang funktionierten, sondern über die Internalisierung von Werten.Footnote 125 Gerade mit den Formes, in denen Durkheim am Beispiel von Ritualen zeige, wie Symbole in Handlungen überführt werden, lege dieser die Grundlage einer voluntaristischen Handlungstheorie, wie sie Parsons selbst vorschwebt (vgl. Parsons 1949: 467).

Doch nicht in allem geht Parsons mit Durkheim einig, er übt vielmehr eine doppelte Kritik. Einerseits stelle Durkheim die Konkretion des rituellen Vollzugs ins alleinige Zentrum: So sehe er „ritual as the primary element of religion and religious ideas as secondary rationalizations, explanations, justifications of ritual“ (Parsons 1949: 426). Für Parsons, der ein Konzept voluntaristischen Handelns entwickeln wollte, in denen „ends“ and „modes of orientation“ eine zentrale Rolle spielten, stellte dieser Vorrang konkreter Handlungsabläufe eine positivistische Reduktion des sozialen Lebens dar.

Diesen Vorwurf an Durkheim qualifiziert Parsons aber sogleich wieder über eine zweite Kritik: Durkheim selbst habe dieser positivistischen Position eine idealistische Konzeption gegenübergestellt.Footnote 126 Das Problem der Ordnung sehe Durkheim zwar richtigerweise über „common values“ gelöst, er habe jedoch die Analyse der Beziehungen dieser Werte untereinander, ihre „functional interrelations“ (Parsons 1949: 449) vernachlässigt. Er rücke in seinem epistemologischen Argument, wie es im Einstiegskapitel der Formen ausgeführt werde, die ultimative Realität ins Zentrum, die in religiösen Ideen symbolisiert werde (vgl. Parsons 1949: 467). Diese Realität und die religiös-rituell hergestellten Kategorien von Zeit, Ort, Substanz, Relation, Tätigkeit, Leiden, Verhalten und Befinden (vgl. Durkheim 1994: 28, 13) stellten für Durkheim den Kern der Gesellschaft, ja die eigentliche Realität von Gesellschaft dar.

Damit schiesse Durkheim, so Parsons (1949: 446), in der Abkehr vom Positivismus deutlich über das Ziel hinaus. Durkheim ignoriere nämlich die Ebene des individuellen, voluntaristischen Handelns und gehe von einem davon abgehobenen, freien Reich der Ideen mit einer ganz eigenen, nicht soziologisch analysierten Ordnung aus, dessen blosse Wiedergabe das soziale Leben darstelle. Das Soziale als „System der Ideen“ werde dem Handeln und Denken determinierend vorangestellt:Footnote 127

„This tendency culminated in his sociological epistemology where he identified the social factor as a priori source of the categories, thus finally breaking the bond which had held it as a part of empirical reality. But once having done this it was impossible for him to get back again to empirical reality.“ (Parsons 1949: 468)

Es zeige sich, so Parsons (1949: 449), dass Durkheim das Soziale als System von „eternal objects“ thematisiere. Im Anschluss daran wäre Soziologie eine Wissenschaft, die sich mit dieser ideellen Ebene auseinandersetze (vgl. Parsons 1949: 468). In Parsons’ Interpretation ist Durkheim also Idealist und Positivist zugleich. Die Rituale, die zentrale und positiv fassbare Ebene des Verhaltens, seien direkt mit den dadurch reproduzierten, transzendenten Ideen verbunden – der Akteur und sein sinnhaftes Handeln, der dazwischen liege, werde gänzlich ausgeblendet.Footnote 128

Trotz dieser Kritik extrahiert Parsons entscheidende Elemente aus Durkheims Ansatz:

„It is through their relation to the moral community, to the common value system with all that the reader of the foregoing analysis will have come to understand as implied in that conception, that religious ideas possess sociological significance. This is the element of truth in Durkheim’s formula that religious ideas constitute a symbolic representation of society.“ (Parsons 1949: 425)Footnote 129

Indem Durkheim am Beispiel von Ritualen zeige, wie Symbole in Handlungen überführt werden, habe er die Grundlage einer voluntaristischen Handlungstheorie gelegt, wie sie Parsons (1949: 467) selbst vorschwebt. Was Durkheim in den Formen über religiöse Glaubensvorstellungen schrieb, verallgemeinerte Parsons zu Werten – dies auch mit Verweis auf Max Weber, bei dem religiöse Interessen als „value attitudes“ eine zentrale Rolle gespielt hätten (vgl. Parsons 1949: 715).Footnote 130 In der Verknüpfung von Symbolen mit Handlungen sieht Parsons (1949: 467) die Anlage zu einer voluntaristischen Handlungstheorie, wie er sie selbst ausarbeiten möchte. Die Beziehung zu den Werten ist dabei nicht nur passiv und kognitiv, sondern verläuft über „active attitudes“ und Handlungen:

„This action takes the form of ritual, which may thus be held to be an expression in symbolic form of ultimate-value attitudes.“ (Parsons 1949: 467)

In Form von rituellen Handlungen drückten sich Symbole nicht nur aus, sondern erhielten motivierende Kraft – diesbezüglich stimmt Parsons Durkheim zu, da in diesem Zusammenhang eine Position zu Grunde liege, die nicht nur positivistisch oder nur idealistisch sei, sondern „Werte“ und „Handeln“ zusammenbringe, ohne auf die eine oder andere Seite reduktionistisch zu argumentieren.Footnote 131

Wie eben angesprochen, spielt der Bezug auf Weber für Parsons’ Verständnis von Werten eine entscheidende Rolle. Rationalität und Wertrationalität, die bei Weber nur bestimmte Handlungstypen prägten (so der Idealtypus des „wertrationalen Handelns“), erhebt Parsons dabei zu einem notwendigen Bestandteil des „unit act“ (vgl. Holmwood 1996: 62). Damit ist im Kern das angelegt, was Camic (1987: 435) als grundlegenden Unterschied von Parsons zu Weber sieht. Letzterer betonte mit seinen theoretischen Schemata die soziale Diversität, deren Elemente letztlich in ihrer Spezifität zu begreifen seien, Parsons installierte dagegen universale Typen und hegte die Hoffnung, dass die Soziologie einst in generellen Gesetzesaussagen gipfeln könnte, in denen „rationality“ eine Stelle analog zur Entropie im zweiten Gesetz der Thermodynamik einnehmen könne (vgl. Parsons 1949: 752). Parsons (1949: 751) stellt selbst Bezüge zu Webers Rationalisierungsthese her, aus denen er versuchsweise ein allgemeines Gesetz ableitet, wohlwissend, dass dies nicht in Webers Sinne war.Footnote 132

Neben Werten und Handlungen vermutet Parsons zwar zunächst auch andere Faktoren. Eine aus Werten bestehende moralische Ordnung treffe in ihrer Realisierung im Handeln auf Widerstände, so z. B. auf positive oder negative Sanktionen (vgl. Holmwood 1996: 69). Diese Einschränkungen würden aber ihrerseits wiederum vor einem werthaften Hintergrund stehen, der ihnen Legitimität verleiht.Footnote 133

2.6.2.2 Werte und Funktion

Das Konzept der Funktion spielte in der Structure noch kaum eine Rolle, wurde jedoch ab dem Social System, und der Phase in Parsons’ Schaffen, die dem Strukturfunktionalismus zuzuordnen ist, wichtiger. Die Rolle, die Parsons den Werten zuschreibt, ist dabei mit seiner im Abschn. 2.4.1.3 bereits kurz rekonstruierten Auffassung der Funktion von Religion verbunden. Den Werten schreibt Parsons deshalb eine umfassende Funktion zu, weil sie soziale Ordnung überhaupt erst ermöglichten. Eine funktionierende Gesellschaft ist immer eine Wertgemeinschaft, denn wie jedes Kollektiv basiere auch sie auf einem geteilten „value system“ (vgl. Parsons und Shils 1951: 192). Die letzten Werte wiederum seien religiös, denn, wie Parsons es später auf den Punkt brachte:

„Ultimately, values are mainly legitimized in religious terms.“ (Parsons 1971: 9)

Diese Konzeption aufgreifend und bestätigend, kommen beispielsweise Shils und Young in ihrer Untersuchung der Krönung Königin Elizabeth II. von England zum folgenden Schluss:

„A society is held together by its internal agreement about the sacredness of fundamental moral standards. In an inchoate, dimly perceived, and seldom explicit manner, the central authority of an orderly society, whether it be secular or ecclesiastical, is acknowledged to be the avenue of communication with the realm of sacred values.“ (Shils und Young 1953: 80)

Damit ist die Monarchie, auch eine konstitutionelle, als symbolisches Zentrum einer Gesellschaft zu sehen, das insbesondere in rituellen Situationen der „national communion“ wie der Krönung den sozialen Zusammenhang und ihre zentralen Werte heiligt und festigt.Footnote 134

Im hinter einem solchen „normativen Funktionalismus“ (Lockwood 1956) stehenden Modell des sozialen Handelns sind die oberen Ebenen, nämlich Werte und Normen, die eigentliche Antwort auf die Frage nach der sozialen Ordnung. Schematisch lässt sich dies wie in Tab. 2.2 abgebildet wiedergeben (vgl. auch Parsons 1975: 21):Footnote 135

1) Generalisierte Ziele (ends), Werte, liefern die grundlegendsten Leitlinien für zweckgerichtetes soziales Verhalten (z. B. „Demokratie“). Werte beinhalten keine Referenz auf die Art und Weise ihrer Durchsetzung, auf Situationen oder bestimmte Akteure (vgl. Parsons 1967 [1960]: 9). 2) Dies geschieht eine Stufe tiefer: Denn von Werten abgeleitet sind Regeln, die in Normen zu finden sind (z. B. Regeln des Wahlverfahrens, bürgerliche Pflichten).Footnote 136 Bei ihnen ist zudem definiert, worauf und wie sie angewandt werden und was die Konsequenzen bei Nichtbefolgung sind (vgl. Parsons 1967: 9). Davon wiederum informiert ist 3) die Mobilisierung individueller Energie zur Erreichung der definierten Ziele innerhalb eines normativen Rahmens. Wenn es sich beim Akteur um ein Individuum handelt, ist nach seiner Motivation zu fragen. Auf der Ebene des sozialen Systems wird dagegen gefragt, wie motivierte Individuen in Rollen und Organisationen organisiert sind. Eine Stufe weiter unten finden sich 4) situative Ressourcen, die der Akteur als Mittel verwendet. Dazu gehört u. a. das Wissen über den Kontext, die Vorhersagbarkeit von Handlungskonsequenzen, Werkzeuge und Fähigkeiten (vgl. Smelser 1962: 24). Je weiter unten eine Stufe im Schema situiert ist, desto spezifischer wird sie. Die oberen Stufen informieren die unteren, die unteren realisieren die Vorgaben von oben. Die oberen Stufen sind stabiler und können den Wandel der unteren Stufen ignorieren, umgekehrt jedoch nicht. Dies zeigt die Funktion von Steuerung und Stabilisierung, die den Werten in diesen Ansätzen zugeschrieben werden.Footnote 137

Tab. 2.2 Die Grundkomponenten des sozialen Handelns nach Neil J. Smelser (1962: 32)

Gemeinschaften sind in einer solchen Theorie mit einem Integrationsproblem konfrontiert, das aufgrund der Notwendigkeit von Wertintegration mit dem erfolgreichen Transfer von den oberen in die unteren Stufen der Gemeinschaftsintegration verbunden ist, so z. B. Kanter (1972: 75): „Abstract ideals of brotherhood and harmony, of love and union, must be translated into concrete social practices.“

Für Durkheims Argument ist die „Idealität“ der Symbole durchaus notwendig. So schreibt er den Symboliken nicht nur einen ex post erklärenden Charakter zu, wie praxistheoretische Interpretationen vorschlagen, sondern schreibt ihrer imaginativen und idealisierenden Komponente eine konstitutive Rolle für die Funktion von Religion zu, wie sie dem normativen Funktionalismus entspricht. Gerade, dass sie sich nicht mit der Realität deckten, sondern ihr ein Ideal gegenüber stellten, sei der entscheidende Faktor (vgl. Durkheim 1994: 562, 600); die Wirklichkeit erscheine in der Religion „vergrössert, verwandelt und idealisiert“ (Durkheim 1994: 564, 601). Die Herstellung dieser Ideale habe jedoch ihre höchst wirkliche Grundlage in der „Überschwenglichkeit des moralischen Lebens“ (Durkheim 1994: 565, 603) in Momenten der kollektiven Efferveszenz. Die Idealisierungen sind nicht also soziologisch über eine Logik der Symbolsysteme zu entschlüsseln, sondern in der Beobachtung der sozialen Praktiken, die zu dieser Efferveszenz führen.

2.6.2.3 Kultur als System

In einem frühen Aufsatz zur Religionssoziologie kritisiert Parsons (1954) Durkheim dafür, dass dieser die spezifische Ausformung der Symbole als von bloss sekundärer Wichtigkeit erachtete. Dabei zeige sich bei Durkheim ein „circular reasoning“ (Parsons 1954: 207) insofern, als für diesen Religion die symbolische Manifestierung von Gesellschaft darstelle und gleichzeitig der grundlegende Aspekt von Religion ein Muster von moralischen und religiösen Gefühlen sei. Parsons’ Ausführungen zu Werten und Kultur sind als Versuch gesehen worden, diesen konzeptionell eine stärkere Eigenständigkeit zu verleihen – dies zeigt sich in seiner Diskussion von Durkheims Vorstellung des Kollektivbewusstseins. Durkheim (1992: 128, 46) versteht unter der „conscience collective“: „Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft.“ Und er fährt fort: „[Sie] bildet ein umgrenztes System, das sein eigenes Leben hat (\(\ldots \)).“, betont aber, dieses Kollektivbewusstsein bestehe nicht als separates „Organ“, sondern sei durch die ganze Gesellschaft diffundiert. Parsons, der mit dem Verweis auf die Differenziertheit der modernen Gesellschaft nach schärferen Unterscheidungen strebte, war dieses Konzept eines „Bewusstseins“ wohl zu diffus und er stellte fest: „the crucial component of the conscience collective is common societal values“ (Parsons 1967: 22–23; Hervorhebung im Original), bündelte letztere zur Vorstellung eines kulturellen Systems, das er dann in Bezug zu Vorgängen der Institutionalisierung und Integration setzte.

Auch wenn Parsons (1949: 425) bereits in der Structure wiederholt von einem „value system“ gesprochen hatte, griff er damals noch nicht auf eine ausformulierte Systemtheorie zurück. Dies änderte sich ab dem Social System, in dem er sich mit Werten als strukturiertem (patterned) und geordnetem System von Symbolen, aus dem „Kultur“ besteht, auseinandersetzte. Kultur basiert dabei nicht auf der Verknüpfung von Handlungen, sondern auf logischen Verknüpfungen. Als separates System vermittelt und reguliert Kultur soziale Interaktion und fügt das Individuum über die Internalisierung von Werten in die Gesellschaft ein. Werte fungieren als Konzeptionen des Wünschenswerten, also „conceptions of the desireable“ (vgl. Kluckhohn 1951: 395). Als Objekte der Handlungsorientierung bieten sie Standards für Handlungsorientierung und Ordnungserzeugung (vgl. Parsons 1964b: 327):

„(\(\ldots \)) there is, as we have seen, a normative aspect of any system of social interaction. There is an element of common value-orientation, therefore, in any system of social interaction. These values may, for example, be cognitive standards governing communication, or appreciative standards governing the appropriateness of expressive symbols.“ (Parsons 1964b: 96–97; Hervorhebung im Original)

Werte stellen im Social System ein strukturiertes (patterned) und geordnetes System von Symbolen dar. Das heisst, Parsons sieht durchaus „value-orientations“ als integralen Bestandteil von sozialen Systemen, diese gründeten aber letztlich in einem eigenen, von sozialen Systemen zu unterscheidenden System, einem kulturellen System. Über vermittelnde Begrifflichkeiten wie dasjenige der „value-orientations“ behandelte Parsons die Koordination von kulturellem und sozialem System, die für ihn (1964b: 35–36) zu einer der wichtigsten Problematiken für Handlungs- und Systemtheorie wurde.Footnote 138

Mit seinem wenig später entwickelten AGIL-Schema fasste Parsons den Zusammenhang zwischen Kultur und sozialem System systematischer und fügte sein neues Verständnis in ein im Social System erst angelegtes (vgl. Parsons 1964b: 26–36) funktionales Schema ein: Handeln (action) sei, so Parsons (1973: 8), symbolisch orientiertes menschliches Verhalten. Die orientierenden Symbole würden ein „cultural system“ (1973: 8; Hervorhebung im Original) bilden:

„Thus, culture includes belief systems, sets of propositions of cognitive significance as well as expressive symbols, and the codes giving them meaning.“ (Parsons und Platt 1973: 8)Footnote 139

Als eigenes System kommt Kultur ein eigener Bereich in der Vierfeldertabelle zu, mit der Parsons das allgemeine Handlungssystem abbildet, nämlich das „L“, die „latent pattern maintenance“ (vgl. Parsons und Platt 1973: 13–16), das heisst, sie erfüllt die Funktionen der Erhaltung der „distinctiveness of the system of reference“ und der Kontinuität des Systems.Footnote 140

Abb. 2.1
figure 1

(Aus Parsons und Platt 1973: 15)

„Structure of the general action system“.

Soziale Systeme, z. B. Interaktionssysteme, sind als Träger von kulturellen Systemen wichtig, letztere könnten jedoch diese Träger überdauern, wie z. B. die klassische griechische Kultur, die auch unabhängig von der klassischen griechischen Gesellschaft weiterbestand (vgl. Parsons und Platt 1973: 9). Das heisst auch, dass kulturelle Systeme analysiert werden können, ohne beispielsweise „human organisms in their full concreteness“ zu analysieren.

Die in kulturellen Systemen organisierten Werte werden erst in konkretisierter Form, z. B. als „value-principles“ (vgl. Parsons 1968) Teil von Handlungen bzw. sozialen Systemen. Insbesondere das „treuhänderische“ (fiduciary) Subsystem des sozialen Systems nimmt die Funktion der „pattern-maintenance“ wahr und überführt als „primary zone of interpenetration between the social and the cultural systems“ (Parsons und Platt 1973: 20) Werte ins Handeln.

In der Logik des AGIL-Konzepts kommt dabei die Funktion des „L“ (pattern-maintenance), die das kulturelle System auf der Ebene des „general action systems“ einnimmt, auf der es u. a. vom sozialen System getrennt ist, in der internen Differenzierung des sozialen Systems wieder vor. Das heisst das soziale System, auf der Ebene des allgemeinen Handlungssystems dem „I“ zugeordnet, wird intern wieder in vier Felder differenziert, wobei auch hier wieder das Problem der „Latent Pattern Maintenance“ gelöst werden muss. Hier erfüllt das „fiduciary system“ die Funktion der „pattern-maintenance“ und hat dementsprechend eine besondere Affinität zum kulturellen System, das, wie in Abb. 2.1 gesehen, auf der höheren Ebene die L-Funktion einnimmt (siehe Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

(Aus Parsons und Platt 1973: 19)

„Structure of the social system“.

Parsons hat damit einerseits Kultur und Handeln getrennt, andererseits über Konzepte wie dasjenige der „Referenz“ und der „Interpenetration“ deren Zusammenspiel zu thematisieren versucht. So können Bedeutungen aus dem kulturellen System im sozialen System institutionalisiert, in Interaktionen oder in Persönlichkeitssystemen internalisiert und damit in Handlungen wirksam werden (vgl. Parsons 1973: 35). Dies findet sich auch im verschachtelten Konzept des AGIL-Schemas wieder: Auch das Wiedervorkommen der L-Funktion innerhalb des eigentlich von Kultur unterschiedenen sozialen Systems zeigt, dass Parsons begriffliche Mittel anbietet, um die Beziehungen zwischen dem einst Getrennten zu fassen. Die Unterscheidung Kultur/Soziales kommt dabei im Sozialen wieder vor, was auf die Durchdringung von Kultur und der sozialen Welt hinweist. Gleichzeitig aber arbeitet Parsons auch hier mit einer Unterscheidung, die besagt, dass beispielsweise Wirtschaft oder „polity“ nicht Kultur seien.

2.6.2.4 Kultur und Struktur

Die Unterscheidung von Werten/Kultur und Gesellschaft zieht sich durch die verschiedenen Phasen von Parsons’ Werk hindurch. Mittels der Trennung zwischen Kultur und Sozialem grenzt sich Parsons von einem „enzyklopädischen Verständnis von Kultur“ ab (vgl. Parsons 1973), wie er es bei Malinowski feststellt, in dem Kultur als umfassender Begriff für das menschliche Leben dientFootnote 141: „The feature of Malinowski’s use of the concept of culture which is most striking is its encyclopedic inclusiveness.“ (Parsons 1978c: 86).Footnote 142 Während in der Ethnologie, einer Disziplin, in der der Kulturbegriff weitaus prominenter ist als in der Soziologie (vgl. Sewell, 1999: 36), der Begriff eher im „enzyklopädischen Sinn“ verwendet wird, fasst die Forschergruppe um Parsons „Kultur“ über ihre Unterscheidung weit enger:

„Most action which the anthropologist would call cultural is put in the social system (and to some extent into personality) as institutionalized norms, role behaviors, and so forth. For the category of culture proper is left only systems of ideas and beliefs, systems of expressional symbols (for example, art forms), and systems of value-orientations. “ (Sheldon 1965: 40)

In einem solchen Verständnis wird Kultur auf Ideen und Vorstellungen beschränkt, Handlungen werden dagegen dem sozialen System – z. B. der „Gesellschaft“ (vgl. Parsons 1973) – zugeschrieben. Bei Alfred Kroeber findet sich auch ethnologische Zustimmung zu einem entsprechend spezifischeren Kulturbegriff, so in einem gemeinsam mit Parsons verfassten Statement:Footnote 143

„Separating cultural from societal aspects is not a classifying of concrete and empirically discrete sets of phenomena. They are distinct systems in that they abstract or select two analytically distinct sets of components from the same concrete phenomena. Statements made about relationships within a cultural pattern are thus of a different order from those within a system of societal relationships. Neither can be directly reduced to terms of the other; that is to say, the order of relationships within one is independent from that in the other.“ (Kroeber und Parsons 1958: 582)

Gemeinsam mit Kroeber kritisiert Parsons sowohl Ansätze, die Kultur als übergreifenden Begriff postulieren (als Beispiel nennen sie Tylor und BoasFootnote 144), als auch solche, die analog dazu ein „condensed concept of culture-and-society“ über einen „holistischen“ Gesellschaftsbegriff vertreten, wofür sie als Beispiel Comte, Spencer, Weber und Durkheim nennen. Das heisst, dass Parsons die Ebene der Bedeutungen, die Kultur, expliziter von anderen Ebenen, so der „Gesellschaft“, die sich über Handlung integriert, abgrenzt, als Durkheim.

Alexander (1990: 25) schliesst im Vorwort zu einem mit Steven Seidman herausgegebenen Reader zum Zusammenhang von Kultur und Gesellschaft ganz in diesem Sinne: „Recent developments in cultural studies converge on their emphasis on the autonomy of culture from social structure.“ Dies gibt die im Abschn. 2.6.2.3 ausgeführten Vorwürfe von Parsons an Durkheims Bild einer zu starken Identität von Struktur und Kultur, bzw. Gesellschaft und einer davon bestimmten Realität der Symbole wieder. Wie auch Alexanders (1995) Kritik gegen Bourdieu und auch Parsons Kritik am Positivismus zeigt (vgl. auch Parsons 1973: 45), geht mit der Absonderung von Kultur von Gesellschaft die Absicht einher, über ein „strong program“, ein Konzept einer autonomen Kultur, die Wichtigkeit von Bedeutungen und Werten für die Gesellschaft zu betonen.

Einerseits stellte Parsons fest, dass es keine menschliche Gesellschaft ohne ein „comprehensive system of modes and aspects of the meaning of speech acts, ritual acts, and various other kinds of acts“ (Parsons 1973: 34) gäbe. Zudem betont er gemeinsam mit Kroeber, dass die Unterscheidung zwischen Struktur und Kultur eine analytische sei, die sich auf ein System beziehe. An anderer Stelle geht Parsons aber davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft ein Produkt gesellschaftlicher Differenzierung ist:

„What I take to be his [Durkheims, Anm. RW] basic theorem is that human society and the cultural framework of the human condition, including knowledge, have evolved concomitantly from a common basis and, in relatively advanced stages of sociocultural development, have come to be differentiated from each other.“ (Parsons 1978b: 214)

Diese Beobachtung versieht er mit einem Verweis auf Durkheim. Mit den Aborigines habe dieser sich mit einem Gegenstand befasst, bei dem diese Differenzierung noch nicht so ausgeprägt sei. „We may very broadly say that the closeness of this identification of ritual symbolism with societal content is, at least in part, an index of the primitiveness of the religious system Durkheim is analyzing.“ (Parsons 1978b: 223). Das heisst, der Positivismusvorwurf, den Parsons an Durkheim in der Structure geübt hatte, im Sinne der Ignorierung des Bestehens eines relativ unabhängigen Symbolsystems, kann, ausgehend von einer solchen Vorstellung der zunehmenden Ausdifferenzierung von Symbolsystemen, auf die Einfachheit des Gegenstandes, der australischen Ureinwohner, zurückgeführt werden.

2.6.2.5 Religion als Symbolsystem

Parsons (1973: 45) äussert die aus seiner Sicht optimistische Prognose, dass man im Jahr 2000 auf die Entwicklung der letzten 10–15 Jahre zurückblicken und grosse Fortschritte in der sozialwissenschaftlichen Kapazität „to integrate the analysis of culture as symbolic systems“ feststellen werde. Tatsächlich dürfte der Kulturbegriff, die „symbolische Dimension“ von Gesellschaft während des betreffenden Zeitraumes an Prominenz gewonnen haben.Footnote 145 In dieser Karriere des Kulturkonzepts wurden aber nur ganz bestimmte Betonungen von Parsons weitergeführt. Kaum rezipiert wurden Parsons’ späte Modelle von Kultur als Bestandteil des AGIL-Schemas, dessen unverblümter Funktionalismus, wie im Abschn. 2.4.2 ausgeführt, ausserhalb des Strukturfunktionalismus wenig Nachhall fand. Selbst von strukturfunktionalistisch beeinflussten Autoren wie Jeffrey Alexander (1990: 6) wird Parsons dafür kritisiert, Kultur bloss funktional betrachtet und der Analyse von Symbolen jenseits ihrer Funktion als Werte zu wenig Rechnung getragen habe. Parsons’ Verständnis von Kultur als eigenständiger, vom Sozialen zu unterscheidender Sphäre wurde dagegen wirkmächtig. Die breite Wirkung von Parsons’ Kulturverständnis dürfte daran liegen, dass es ohne den offenen Funktionalismus des AGIL-Schemas auskommt und damit auch in eher „verstehenden“ oder „interpretativen“ Ansätzen bedeutsam werden konnte.

Am „Department of Social Relations“ in Harvard, an dem Parsons wirkte, arbeitete insbesondere auch Clifford Geertz, so Parsons (1973: 33) im Rückblick, am Fortschritt entlang der von ihm selbst und Kroeber vertretenen Unterscheidung zwischen Kultur und Struktur. Auch andere Ethnologen, so Clyde Kluckhohn oder David Schneider, vertreten in Verbindung mit Talcott Parsons ein entsprechendes Kulturverständnis. Parsons’ Structure, so die Einschätzung Sherry Ortners (1984: 138), wurde zu einem der „sacred texts of the Harvard-trained symbolic anthropologists“, und tatsächlich sind es eher ethnologische als soziologische Erben von Parsons, die sein Verständnis von „Kultur“ übernahmen und sich intensiv ihrer Analyse widmeten. Für diesen Transfer ist der Begriff des Symbolsystems wichtig. Dieser findet sich bei Parsons spätestens im Social System, wo Parsons, wie schon erwähnt, von Kultur als „patterned or ordered systems of symbols“ (Parsons 1964b: 327) spricht. Bereits in der Structure beschäftigt sich Parsons eingehender mit dem Symbolbegriff. In Auseinandersetzung mit dem Philosophen Whitehead schliesst er:

„Concrete spatial objects and temporal events may have a cultural aspect, in this sense, but in so far as they are physically understandable it can only be as symbols. Eternal objects constitute the meanings of symbols.“ (Parsons 1949: 763)

Kulturelle Systeme würden nicht wie die Gegenstände der psychischen oder sozialen Welt ihre Bedeutung aus Prozessen beziehen. Sie seien nicht-räumlich und zeitlos, sondern, wie Whitehead schreibe, ewige Objekte im strikten Sinn, das heisst nicht unendlich dauerhafte Objekte, sondern Objekte, auf die die Kategorie der Zeit nicht anwendbar sei (vgl. Parsons 1949: 763).Footnote 146 Als konkrete Objekte würden sie nur in den Köpfen der Individuen bestehen und in Symbolsystemen verkörpert werden, deren Verständnis wiederum einen „mind“ bedingt.

„Beyond the grasp of the immediate meaning of a particular isolated symbol it can only mean a grasp of the interrelations of eternal objects in meaningful systems.“ (Parsons 1949: 763)

Seine Diskussion von Durkheim weist zusätzlich darauf hin, was zumindest der frühe Parsons mittels seines Symbolverständnisses betonte. Durkheim habe, so Parsons (1949: 466), das heilige Objekt und die moralische Regel parallel gesetzt. Die Beziehung zwischen den heiligen Objekten und ihrer Quelle sei dabei für Durkheim aber symbolisch, nicht intrinsisch gewesen. Die Quelle sei gemäss Durkheim die Gesellschaft, die heiligen Objekte ihre Repräsentation. Die heiligen Objekte würden also nicht einfach durch die sozialen Verhältnisse determiniert, sondern es fände sich für Durkheim durchaus Variabilität.Footnote 147 Das heisst, Parsons wollte den Symbolen eine gewisse Eigenständigkeit zusprechen, eine Absicht, die sich in späteren Werken durch die analytische Separierung eines spezifischen kulturellen Systems fortsetzte.

Über Kultur könne durchaus mittels objektiv verifizierbaren Aussagen gesprochen werden. Die Bedeutungen der Symbole seien beobachtbar, das Verstehen von Symbolen sei jedoch nicht ein kausales Verstehen von Ereignissen, sondern ein Verstehen dieses Systems zeitloser Objekte. Analog dazu versteht Parsons (1949: 597) auch die Wissenschaft, so weist er in seiner kritischen Besprechung von Webers Wissenschaftslehre im expliziten Widerspruch zu Weber darauf hin, dass Wissenschaft zu einem „logically closed system“ werden könne. Die Interessen, die die Wissenschaft anleiteten, stammten aus diesem System und könnten sich dem Einfluss der sozialen Welt entziehen.

Clifford Geertz, der Parsons’ Konzept in eine interpretative Ethnologie überführte,Footnote 148 betont ebenfalls die Verstehbarkeit von Symbolen und sieht sie in einem System verortet, das ein kulturelles im Gegensatz zu einem sozialen System darstellt, womit er in einer Linie mit seinem Lehrer Parsons steht. Auch die Referenzen, die Geertz in seinem Aufsatz über Religion als kulturellem System angibt, sind dieselben wie bei Parsons – Malinowski, Weber, Durkheim und Freud – wobei er die soziologischen Klassiker über Parsons’ Interpretation in der Structure kennengelernt hatte, wie er in einem Interview betonte.Footnote 149 Und genauso wie Parsons im Anschluss an Durkheim die „heiligen Objekte“ nicht als blosse Widerspiegelungen sozialer Verhältnisse versteht, wehrt sich Geertz gegen „vulgärmarxistische“ Konzeptionen, die Bedeutungen genau in einem solchen deterministischen Verhältnis sehen würden.

Von einem Whitehead’schen Verständnis von Symbolen als zeitlose Objekte entfernt sich Geertz jedoch, dies durch den Beizug von Ludwig Wittgensteins später Sprachphilosophie, die für Parsons keine Rolle spielte. Damit argumentiert Geertz für ein Verständnis von Bedeutung und Verstehen, das die Symbole, wie Parsons, als grundsätzlich verstehbar sieht, dies aber nicht über ihre Stellung in einem System logischer Relationen begründet, sondern über deren bedeutungskonstituierenden Gebrauch, der aus Symbolen öffentlich verhandelte und greifbare Angelegenheiten macht.

Es stellt sich die Frage, ob die an Parsons geübte Kritik überhaupt auf Geertz’ Verständnis von Symbolsystem übertragen werden kann. In Isaiah Berlins Metapher, so Geertz in einem weiteren InterviewFootnote 150, sei Parsons ein „Igel“, der eine umfassende Theorie anstrebt, in die er alles zu integrieren versuche. Geertz selbst bezeichnet sich als „Fuchs“, der beweglich und selektiv und ohne umfassende Systematisierungsgelüste seines Weges geht. Geertz’ spätere Zuwendung zu Fragen der Hermeneutik und Aussagen wie „I don’t do systems“ weisen darauf hin, dass eine entsprechende Kritik sich auf eine Station des Fuchses beschränken muss.Footnote 151 Diese Station ist im „Religion as a Cultural System“ aber ziemlich deutlich durch ein Verständnis von kulturellen Systemen geprägt, das direkt an Parsons anschliesst.Footnote 152

2.6.2.6 Kritik

Bevor auf Durkheim-Lesarten eingegangen werden soll, die den Schwerpunkt auf die Seite der Rituale und der Praxis legen, soll kurz die Kritik an der eben skizzierten Auffassung von Werten, Symbolen und Kultur thematisiert werden. Die ab den späten 1950er Jahren einsetzende allgemeine Kritik am StrukturfunktionalismusFootnote 153 setzte genau an der Rolle der Werte an, in denen Parsons die oberste Ebene von Handeln und Gesellschaft und das Erzeugungsprinzip der sozialen Ordnung sah und dabei massgeblich auf seine Diskussion von Durkheims Formes zurückgriff.

Durch ein Konzept der Autonomie und der „logischen“ Ordnung von Werten in einem separaten System, demjenigen der Kultur, hat es Parsons in den Augen seiner Kritiker nicht geschafft, die in der Structure geforderte und durchaus angelegte Aufhebung des Dualismus von Idealismus und Positivismus zu realisieren. Mit der Prominenz der Ebene der Werte wird die voluntaristische Konzeption, die Parsons eigentlich vertreten wollte, durch die Gefahr eines Kultur- oder Wertdeterminismus in Frage gestellt. So lautete beispielsweise Dennis Wrongs (1961) Kritik, Parsons verfechte eine „oversocialized conception of man“, da soziale Ordnung gemäss Parsons dadurch funktioniere, dass die Individuen durch internalisierte Werte bestimmt werden.Footnote 154 Von noch grösserer Heftigkeit ist die bereits im Abschn. 2.4.2.3 diskutierte Kritik am Konservativismus des Ansatzes, der, so seine Kritiker, durch seine Betonung des Wertkonsenses einerseits Wandel nicht erklären könne und andererseits den Ist-Zustand immer als ordentlichen Soll-Zustand charakterisiere.Footnote 155 Auch an den strukturfunktionalistisch-neodurkheimianischen Erklärungen von sozialer Ordnung durch religiöse Rituale, wie z. B. Bellahs (1967) Theorie der Zivilreligion oder der Einschätzung der Funktion der Krönung von Elizabeth II. durch Shils und Young (1953), wurde Kritik geübt. Die Referenz auf die Inszenierung von Werten und der daraus erzeugten Einigkeit erkläre Integration nicht differenziert genug. Das über Wertintegration argumentierende Schema müsse spezifiziert werden und auf Akteure, Machtungleichgewichte, Mittel der Durchsetzung und Herrschaftsstrukturen hin befragt werden (vgl. Lukes 1975b).

Mit variierenden Betonungen setzt sich diese Kritik über die Jahrzehnte fort. So hält William Sewell (1999) eine Systematik, die Symbolsystemen eine Autonomie unterstellt, für verdächtig. Entsprechende Ansätzen würden „a realm of pure signification“ aus der Unordentlichkeit des sozialen Lebens herausdestillieren und eine interne Kohärenz und „deep logic unterstellen“ (Sewell 1999: 44). Sewell verwirft nicht nur dieses Bild von Symbolsystemen, sondern auch die diesem zugrunde liegende Struktur/Kultur-Differenzierung, die sowohl sozioökonomische Determiniertheiten auf der einen, als auch das freie Spiel der Symbole auf der anderen Seite überbetone.

Anthony Giddens sieht aus einer praxistheoretischen Perspektive Probleme bei der Loslösung von Symbolsystemen vom Sozialen. Er konstatiert eine dahin führende „fascination with ‚value-consensus‘ or symbolic orders at the expense of the more mundane, practical aspects of social activity“ (Giddens 1986: xxxvii). In Verbindung mit der bereits ausgeführten Kritik an Parsons’ Verständnis von sozialer Ordnung (siehe Abschn. 2.4.2) kritisierte Giddens Parsons auch für eine einseitige Durkheim-Lesart, im Rahmen derer er diesem die Antwort des normativen Funktionalismus auf die Ordnungsfrage unterstellt hätte:

„Finally, concentration upon the problem of order as Durkheim’s guiding problem leads Parsons to represent the former’s work as becoming more and more dominated by the notion of moral consensus, which thus almost completely blanks out his parallel concern with institutional analysis and institutional change.“ (Giddens 1976: 709)

Mit Pierre Bourdieu lässt sich weiter praxistheoretisch vermuten, dass die wissenschaftliche Systematisierung von bereits auf der Ebene des Gegenstandes systematisierten Vorgängen wie Mythos oder Ritualen „die gleichen Wirkungen wie die priesterliche Systematisierung [.] bewerkstelligen“ und missachten, dass es um praktisch hergestellte Systeme geht, „welche nicht das Produkt einer ausdrücklichen Absicht auf Sinnhaftigkeit, sondern eines praktischen Sinns sind“ (Bourdieu 2000c: 59; Hervorhebung im Original).

Auch von ritualtheoretischer Seite wurde die strukturfunktionalistische Differenzierung zwischen Struktur und Kultur kritisiert, so von Catherine Bell. Der letztlich über Symbolsysteme argumentierende „cultural approach“ verdanke, so Bell (1997: 62), seine analytische Kraft der Unterscheidung zwischen einem kulturellen Level, das mit bewussten und unbewussten Idealen und Werten einer Gruppe gleichgesetzt wird, und einem sozialen Level, das mit den empirischen Realitäten einer gelebten Existenz einhergeht.

Innerhalb von Ethnologie und Religionswissenschaft prominent ist Talal Asads (1983, 1993a) Kritik an Clifford Geertz’ „idealistischer“ Betonung der Deutungsebene von Religion. Geertz verkenne, so Asad, die soziale Basis von Religion zugunsten eines kulturellen Überbaus.Footnote 156 Asad machte dafür allerdings nicht Parsons’ Strukturfunktionalismus verantwortlich, vielmehr Einflüsse des nachreformatorischen Christentums. Erst in der zweiten Fassung des Textes verortet Asad (1993a: 32) das von ihm kritisierte Kulturverständnis über den Hinweis auf Kroeber und Kluckhohn im Strukturfunktionalismus. Tatsächlich lässt sich Geertz wohl direkter als vom Strukturfunktionalismus als vom Christentum beeinflusst kritisieren. Ganz unabhängig davon, woher der Einfluss stammt – Lila Abu-Lughod (2006 [1991]: 476) weist im Anschluss an Asad einerseits, die writing culture-Debatte andererseits, darauf hin, dass mit dem Kulturkonzept „homogeneity, coherence, and timelessness“ mitgedacht würden. Eine solche Identifikation von Kultur führe zu einem Verständnis geschlossener Einheiten und der entsprechenden Zuordnung von Menschen. Damit sei ein solches Kulturverständnis, so Abu-Lughod (2006: 470), „the essential tool for making other [sic]“ – und dieses othering ist nicht Aufgabe von Ethnologen.

Auch Durkheim geriet ins Fahrwasser dieser Kritik: In den 80er Jahren stand sein Ansehen als soziologischer Klassiker auf dem Tiefpunkt, was nicht zuletzt mit seiner Identifikation mit dem ab den 1960er Jahren kritisierten und weitgehend aufgegebenen Funktionalismus zusammenhing (vgl. Collins 1988a: 107; Pope 1975a). Eine durch Parsons geprägte Durkheim-Lektüre scheint auch noch in jüngerer Zeit dazu beigetragen zu haben, diesen mit einer idealistischen Konzeption in Verbindung zu bringen und seine Position abzulehnen, so z. B. durch Dennis Wrong (1995). Gegenwärtig scheint der Strukturfunktionalismus und die Kritik daran dagegen derart in Vergessenheit geraten zu sein, dass eine davon abgelöste Durkheimrezeption wieder möglich wird. Das genannte Vergessen könnte allerdings zu einer Wiederholung der funktionalistischen Fehler beitragen.

2.6.3 Praxistheoretische Durkheiminterpretationen

Der soziologische Strukturfunktionalismus stellt eine einigermassen klar abgrenzbare wissenschaftliche Position, gewissermassen eine eigene Schule dar, in der Grundpositionen von einem angebbaren Kreis von Autoren geteilt werden – die Herausarbeitung von solchen Konvergenzen war Ziel sowohl von Parsons als auch eine Generation später von Jeffrey Alexander. In der im Folgenden als Alternative postulierten Linie der Durkheiminterpretation gibt es keine analogen Bemühungen um Einheit; sie stellt keine klar identifizierbare Schule dar, wie sie die Tradition des normativen Funktionalismus hervorzubringen vermochte. Durkheiminterpretationen, die derjenigen des normativer Funktionalismus’ widersprechen, finden sich bei einer Vielzahl von Autoren und mit unterschiedlichen Referenzen, wobei hier der Fokus auf den praxistheoretischen Lesarten bei Anne Rawls und Pierre Bourdieu liegen wird. Ohne die Diskussion im exegetischen Rückgriff auf Durkheim entscheiden zu wollen, soll gezeigt werden, auf welche Stellen und Betonungen bei Durkheim eine entsprechende Lesart gegründet werden kann.

2.6.3.1 Positionen vor Durkheim

Eine Durkheim-Lektüre, die die Seite der Praktiken im Gegensatz zu den Glaubensvorstellungen betont, kann auf den Einfluss von W. Robertson Smith auf Durkheim verweisen, auch wenn der genaue Status der u. a. durch Robertson Smith ausgelösten „révélation“, in deren Rahmen Durkheim 1894/1895 die umfassende Bedeutung des Faktors Religion bewusst geworden sei, umstritten ist. Durkheim (1994: 130, 127) attestiert Robertson Smith einen „genialen Blick“ und so finden sich in den Formes Referenzen, in denen er ihm sehr grundsätzliche Einsichten zuschreibt. Beispielsweise verweist er auf dessen Entdeckung der „Zweideutigkeit des Heiligen“ (Durkheim 1994: 548, 584) und der Unterscheidung von Religion und Magie (vgl. Durkheim 1994: 70–73, 60–63).

Vor allem findet sich bei Robertson Smith eine explizite Konzentration auf soziale Praktiken, wie an folgender Stelle zu sehen ist, die aufgrund ihrer Dichte in voller Länge wiedergegeben wird:

„Our modern habit is to look at religion from the side of belief rather than of practice; for, down to comparatively recent times, almost the only forms of religion seriously studied in Europe have been those of the various Christian Churches, and all parts of Christendom are agreed that ritual is important only in connection with its interpretation. Thus the study of religion has meant mainly the study of Christian beliefs, and instruction in religion habitually begun with the creed, religious duties being presented to the learner as flowing from the dogmatic truths he is taught to accept. All this seems to us so much a matter of course that, when we approach some strange or antique religion, we naturally assume that here also our first business is to search for a creed, and find in it the key to ritual and practice. But the antique religions had for the most part no creed; they consisted entirely of institutions and practices. No doubt men will not habitually follow certain practices without attaching a meaning to them; but as a rule we find that while the practice was rigorously fixed, the meaning attached to it was extremely vague, and the same rite was explained by different people in different ways, without any question of orthodoxy or heterodoxy arising in consequence.“ (Robertson Smith 1927: 16)

Auch Durkheims Lehrer Fustel, der seinerseits einen Einfluss auf Robertson Smith ausgeübt haben dürfte (vgl. Lukes 1975a: 238), wies Ritualen eine grundlegendere Bedeutung zu als den Glaubensüberzeugungen. Rituale seien, so Fustel, obligatorisch und unwandelbar, Glaubensüberzeugungen dagegen freiwillig und wandelbar (vgl. Jones 1993: 30). Durkheim war also bereits mit einer Diskussion über die Beziehung von Glaubensvorstellungen und Praktiken konfrontiert, wobei seine wichtigsten Referenzen stärker die Seite der Praktiken betonten.

Abgesehen von diesen Einflüssen auf Durkheim, hilft ein Blick auf das primäre Datenmaterial von Durkheims Formes, um für die praxistheoretische Lesart zu argumentieren. Es ist aufschlussreich, dass in Spencer und Gillens „The northern tribes of Central Australia“ (1904), der Hauptquelle Durkheims, die Wendung „vague“ oder „a vague kind of idea“ verschiedentlich und an zentralen Stellen vorkommt (z. B. Spencer und Gillen 1904: 11, 495, 585), in denen es um das „Weltbild“ oder die Charakterisierung von spirituellen Entitäten und ihrer Bedeutung geht. Systematische Vorstellungen ihres Weltbilds scheinen bei den von Spencer und Gillen befragten Aborigines nicht bestanden zu haben.Footnote 157 Eine Fussnote, in der Durkheim die beiden zitiert, weist darauf hin, dass die Beobachter ihren Anteil an der Herstellung eines Systems der Glaubensvorstellungen hatten:

„Es ist nicht leicht, mit Worten auszudrücken, was bei den Eingeborenen eher ein vages Gefühl ist. Aber nachdem wir die verschiedenen Zeremonien aufmerksam beobachtet hatten, haben wir deutlich den Eindruck gehabt, dass der wollunqua bei den Eingeborenen der Idee eines beherrschenden Totems entspricht.“ (Spencer und Gillen zitiert bei Durkheim 1994: 507, 538)

Das explizite Ziehen von Grenzen auf der Deutungsebene kann damit nicht die eindeutigen Selektionen erzeugt haben, die im Handeln und insbesondere in Ritualen sichtbar wurden. Vielmehr scheinen sie durch die Befragung und Systematisierung der Anthropologen erst erzeugt worden zu sein, die dem von ihnen beobachteten Handeln einen wertrationalen Sinn zuweisen wollten. Das soziale Leben und insbesondere Rituale kommen offensichtlich ohne solche Deutungen aus und sind damit als eigentliches Substrat des Sozialen zu sehen und zu analysieren.

2.6.3.2 Praktiken bei Durkheim

Bereits zu Beginn der Formes weist Durkheim darauf hin, dass Interpretationen, Mythologien, Theologien und damit verbundene differenzierte „sentiments“ den „sentiments primitifs“, die man in Durkheims Logik als die „elementaren“ bezeichnen kann, übergestülpt worden seien:

„In dem Mass, wie es [das religiöse Denken, Anm. RW] in der Geschichte fortschreitet, sind die Gründe, die zu seiner Entstehung geführt haben, obwohl sie weiterwirken, nur mehr durch ein Riesensystem von Interpretationen sichtbar, die sie verformen. Die Volksmythologien und die spitzfindigen Theologien haben ihr Werk getan: Sie haben üb [sic] die primitiven Gefühle andere Gefühle gelegt, die, obwohl sie von den ersten herrühren, von denen sie nur die ausgearbeitete Form sind, nur sehr unvollständig die wahre Natur durchscheinen lassen.“ (Durkheim 1994: 25, 10)Footnote 158

Die grundlegenden Zusammenhänge würden also durch Interpretationen überformt, die dann für die eigentlichen Ursachen gehalten würden. Typischerweise würden Repräsentationen und Glaubensvorstellungen als Wesen der Religion gesehen. Die Rituale würden fälschlicherweise nur als externe Übersetzung, kontingent und materiell, der internen Zustände, der Überzeugungen gesehen (Durkheim 1994: 558, 595) – sie nähmen jedoch eine grundlegende Stellung ein.

Immer wieder finden sich in den Formes Stellen, auf die für eine Reklamierung eines Primats der Praxis vor den Glaubensvorstellungen bei Durkheim verwiesen werden kann, so in einer Stelle zum Intichiuma. Die entsprechende Praxis sei nicht auf die Vorstellung einer personalisierten Gottheit angewiesen, sei aber ihrerseits ein Faktor bei der Herausbildung bestimmter Vorstellungen: „Man kann also annehmen, dass die Praxis des Kults, zweifelsohne nur indirekt, aber trotzdem in bemerkenswerter Weise die Personifizierung der religiösen Kräfte begünstigte.“ (Durkheim 1994: 464, 491). Dies impliziert, dass die rituelle Praxis nicht aus Vorstellungen resultiert.

An verschiedenen Stellen sieht Durkheim Mythen ausdrücklich als „ex post Rationalisierung“ von Handlungen (vgl. dazu im Anschluss an C. Wright Mills, Wright und Rawls 2005). Es gäbe zwar Mythen, die die Heiligkeit des Churinga erklären, aber: „Wenn die Menschen also diesen Mythus erfunden haben, so um sich selber den religiösen Respekt zu erklären, den ihnen diese Dinge einflössen; der Respekt geht also nicht auf diesen Mythus zurück.“ (Durkheim 1994: 171, 173). Stattdessen komme dessen Heiligkeit vom Totemzeichen, das darauf angebracht wurde, bzw. der feierlichen Zeremonie, in der es angebracht wurde (Durkheim 1994: 173, 175).

„In diesem gärenden sozialen Milieu und aus dieser Gärung [effervescence] selbst scheint also die religiöse Idee geboren worden zu sein“ (Durkheim 1994: 301, 313)

Ähnliches findet sich in den Ausführungen zum Opfer. Dieses, so Durkheim, stelle eine Kommunion dar, wie bereits Robertson Smith betonte, sei aber darüber hinaus auch „ein Akt des Verzichts. Dessen Voraussetzung ist immer, dass der Gläubige den Göttern etwas von seiner Substanz oder seinen Gütern überlässt.“ (Durkheim 1994: 463, 490). Dieses Verhältnis gründe nun nicht in den Glaubensüberzeugungen hinsichtlich bedürftiger Götter, diese bildeten, wie bereits im Zitat gesehen, lediglich interpretative Überformungen. Entscheidend seien für das Opfer nicht die Inhalte der Glaubensvorstellungen wie z. B. Vorstellungen hinsichtlich personifizierter Mächte, wie Durkheim anhand der Aborigines zeigt: „Das heisst, dass das Opfer unabhängig ist von den verschiedenen Formen, in denen die religiösen Kräfte gedacht werden. Es hängt also von tieferen Gründen ab, die wir weiter unten noch untersuchen müssen.“ (Durkheim 1994: 464, 490 f.). Erst angesichts bestimmter Handlungen würde die Idee eines moralischen Subjekts entstehen, was dann der „Intellegibilität“ der rituellen Handlungen für die Praktizierenden zugute kommen würde. Dies kann als Hinweis darauf dienen, dass für Durkheim die Vorstellungen vor den Interpretationen kommen. Diese Interpretationen fliessen in den Kult ein und gewinnen dadurch an Konkretheit. Dadurch wurde das Konzept des Individuums als moralisches Wesen zu einer Idee der „mythischen Persönlichkeit“ und wurde damit weniger spekulativ. „Gleichzeitig gewann sie, direkter mit der Tätigkeit und dem Leben verbunden, mehr Wirklichkeit.“ (Durkheim 1994: 464, 491). Das heisst, die Rituale sind keine Realisierungen von Vorstellungen, verhelfen den Vorstellungen aber in ihrem Vollzug zu Plausibilität.

Wichtig ist, dass Durkheim „Praktiken“ nicht nur auf das bezieht, was gemeinhin als Rituale im engeren Sinn verstanden wird und von Durkheim dem „culte positif“ zugerechnet wird, sondern auch darauf, was er als „culte négatif“ bezeichnet. Dieser besteht vor allem aus Verboten sowie Unterlassungen, ist mit Entbehrungen und Leiden verbunden (vgl. Durkheim 1994: 423, 446) und dient der Trennung zwischen Heiligem und Profanem – ihm schreibt er eher vorbereitende Wirkung für den „culte positif“ zu (vgl. Durkheim 1994: 422, 445).

Auf was führt Durkheim den „culte négatif“ zurück? Er sei auf der Seite des Denkens mit Vorstellungen über heilig/profan und die Ansteckungsfähigkeit des Heiligen verbunden, die emotional mit einem Gefühl des Respekts einhergehen (vgl. Durkheim 1994: 435, 459). Ein solcher Respekt erscheine im Fall des „Primitiven“ dem Betrachter unplausibel, lasse sich aber in zeitgenössischen Religionen genauso finden. Dieser Respekt gründe nun nicht in der Materialität der jeweilig als heilig geltenden Objekte, sondern sei eine rein soziale Zuschreibung. Solche Zuschreibungen, die Teil religiöser Vorstellungen sind, erhalten ihre Plausibilität wiederum nicht aus der Logik eines Systems von Überzeugungen oder aus irgendwelchen Strukturen des menschlichen Denkens überhaupt, sondern geben eine moralische, das heisst soziale Wirklichkeit wieder (vgl. Durkheim 1994: 437, 461): „Sie bestehen aus Ideen und Gefühlen, die das Schauspiel der Gesellschaft in uns erweckt, nicht etwa Gefühle [sic], die von der physischen Welt herkommen.“ (Durkheim 1994: 437, 461). Das heisst, die gesellschaftliche Praxis bestimmt die grundlegenden Kategorien des menschlichen Lebens und nicht logische Vorstellungen und auch nicht physische oder biologische Notwendigkeiten. Die Unterscheidung zwischen heilig und profan und damit einhergehende Vorstellungen wie diejenige der Ansteckung gründen somit im Leben und Erleben der Gruppe.

Ob für den negativen oder den positiven Kult: Dieses Erleben in der Gruppe führt zu Eindrücken, die ihrerseits zu Vorstellungen führen, die dann als Glaubensvorstellungen mehr oder weniger systematisiert werden. Der Praxistheoretiker findet bei Durkheim die Betonung von Alltagspraxis als eigentlichem Substrat von Gesellschaft und Religion. Die Glaubensvorstellungen, so nun die praxistheoretische Interpretation von Ritualen, liefern nicht die Vorgaben für den Teil der menschlichen Aktivität, die als Rituale bezeichnet werden können. Die Rituale stellen unabhängig von ihrer Interpretation besondere Momente der gemeinschaftlichen Praxis dar, in denen der Vollzug von Gemeinschaft besonders intensiv ist und besonders stark auf die Individuen einwirkt. Sie stärken das Gefühl von Gemeinschaft und bewirken dabei auch Kategorisierungen wie heilig und profan sowie daran anknüpfende Vorstellungen.

2.6.3.3 Priorität der Praxis bei Rawls

Am deutlichsten betonen neuere Lesarten ethnomethodologischer (z. B. Rawls 2004; Hilbert 1991) und mikrosoziologischer (z. B. Collins 2004) Provenienz den Primat von Ritualen und Praktiken bei Durkheim. Damit haben sie ihn, nach seiner nicht zuletzt der Kritik an neodurkheimianischen und strukturfunktionalistischen Ansätzen geschuldeten Zurückstufung, wieder in die sozialwissenschaftliche und ritualtheoretische Diskussion zurück geführt.Footnote 159 Die Bewegung weg von den Symbolen hin zum Vollzug geschieht dabei in ausdrücklichem Widerspruch zu Parsons. So betont Rawls in der Einleitung zu ihrer Relektüre der Formes:

„It is the function of religious practice, in establishing essential shared sentiments and ideas that Durkheim argues is a necessary foundation for social life, not religious beliefs.“ (Rawls 2004: 3)

Die Ausführlichkeit von Durkheims Rekonstruktion des Systems des Totemismus hätten zu einer Überbewertung der Relevanz der „conceptual schemes“ geführt:

„Unfortunately, these long sections on Totemism not only have been treated as a consideration of totems in their own right, but as exploration of ‚conceptual systems‘ rather than as elaborations of the empirical details of enacted practice as an essential part of Durkheim’s epistemology. The tendency to treat epistemology as fundamentally a matter of ideas tends to further obscure the Durkheim’s point.“ (Rawls 2004: 23)

Man habe nur deshalb mit Durkheim diese Ideen als das Zentrum von Gesellschaft oder Gemeinschaft sehen können, weil man seine durch die gesamten Formes durchlaufende Beschreibung und Diskussion der rituellen Praxis nicht berücksichtigt habe – dabei thematisiere Durkheim Glaubensvorstellungen niemals unabhängig von Praktiken (vgl. Rawls 2004: 141), das heisst, dass die Trennung zwischen Glaubensvorstellungen und Praktiken in der Analyse so gar nicht vorgenommen würde.Footnote 160 Eine Interpretation, die die Priorität der Glaubensvorstellungen betont, gehe letztlich der Form von Religion in modernen Gesellschaften auf den Leim, in denen die Ebene von Interpretationen prominent sei und von der eigentlichen Funktion der Religion ablenke. Gerade dies habe Durkheim, so Rawls, durch den Blick auf „primitive Religionen“ zu verhindern versucht. Vor dem Hintergrund einer Durkheim-Lektüre, die die Betonung auf solche Passagen legt, nimmt Rawls auch auf die Vorwürfe von Idealismus und Positivismus Bezug, die Parsons an Durkheims Formes übte:

„The argument ist not positivist, because practices are inherently socially constructed facts. But neither is the argument idealist, because Durkheim does not consider practices to be representations or beliefs.“ (Rawls 2001: 51)

Um Durkheim gegen entsprechende Vorwürfe des Positivismus, insbesondere der Reduktion von Ritualen auf psychologische Stimuli, zu verteidigen, betonte Parsons (1978b: 222), dass Durkheim erkannt habe, dass rituelle Handlungen mit „symbolic meanings“ durchdrungen seien: „ritual actions are permeated with symbolic meanings“. Eine praxistheoretische Position könnte dem nur dann zustimmen, wenn mit diesen Bedeutungen sinnhafte Selektionen in einem sehr weiten Sinne gemeint sind und wenn mit der „kulturellen Ordnung“, die die expressive Symbolisierung erzeugen, keine Ordnung gemeint ist, die jenseits von Praxis ein Eigenleben führen kann.

Neben dem Vorwurf des Positivismus diskutiert Parsons auch denjenigen des Idealismus – und diesen wendet er schliesslich auch auf den Durkheim der Formes an. Parsons, aber auch der Strukturalismus Claude Lévi-Strauss’, habe seinerseits die Glaubensvorstellungen und Werte als Ursprung des Wissens gesehen und dabei verkannt, dass diese nur retrospektive Konstruktionen darstellten, die das Erkennen der grundlegenden sozialen Fakten verschleierten (vgl. Rawls 2004: 20). Rawls’ Kritik an Parsons liesse sich noch verschärfen und seinen Vorwurf des Idealismus gar als auf einem Missverständnis beruhend entlarven. So schliesst dieser bezüglich der von ihm identifizierten idealistischen Tendenz:

„This tendency culminated in his sociological epistemology where he identified the social factor as the a priori source of the categories, thus finally breaking the bond which had held it as a part of empirical reality. But once having done this it was impossible for him to get back again to empirical reality.“ (Parsons 1949: 468)Footnote 161

Tatsächlich kulminiert das von Parsons an dieser Stelle als Beleg verwendete Einstiegskapitel der Formes darin, dass Durkheims Rückführung der Kategorien des Denkens auf religiöse Rituale es erlaube, dass diese eben gerade nicht mehr „als nichtanalysierbare Urfakte“ (Durkheim 1994: 41, 27) angesehen werden müssten.

Die Betonung von Praxis dürfte Rawls aus einer parsonsianischen Perspektive weit eher den Vorwurf des Positivismus als denjenigen des Idealismus einhandeln. Tatsächlich geht Rawls davon aus, dass Praktiken ganz ohne Symbole oder Glaubensvorstellungen möglich sind:

„Totems and other religious symbols do not need to represent systems of beliefs, or have complex symbolic meanings within the ritual.“ (Rawls 2001: 49)

Das Totem stelle den „single focus“ für das Ritual dar, das sei die entscheidende Rolle. Damit der Positivismusvorwurf nicht zu recht ausgeübt werden kann, ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Notwendigkeit von „systems of belief“ und „complex symbolic meanings“ abgestritten wird, nicht aber diejenige von Sinnhaftigkeit überhaupt. Diese Sinnhaftigkeit muss, das ist das Entscheidende, jedoch nicht die Form ausformulierter Konzeptionen und Symbolsysteme annehmen, wie sie bei Parsons bis hin zu Geertz eine zentrale Rolle spielen.

Rawls zeigt auf, dass eine praxistheoretische Lesart der Formes möglich ist – dass es andere mögliche Lesarten gibt, ist damit jedoch nicht ausgeschlossen.

2.6.4 Der Primat der Praxis

2.6.4.1 Bourdieu

„Practice“ ist in Rawls’ ethnomethodologisch informiertem Zugang ein zentraler Begriff. Allein angesichts dieser Begriffswahl lässt sich jedoch noch keine Vereinbarkeit mit dem hier verwendeten bourdieuianischen Praxisverständnis (siehe Abschn. 2.2) ableiten. Querverbindungen zu Bourdieu lassen sich jedoch erstellen, da sich im Praxisverständnis durchaus Parallelen ausmachen lassen: Rawls und Bourdieu teilen Kritikpunkte am Positivismus. Beide kritisieren Positionen, die der Praxis eine diese anleitende und unabhängig von ihr bestehende Logik unterstellen, die als eigentlicher die soziale Ordnung bestimmender Faktor gesehen wird. Bourdieu und Rawls gehen auch darin einig, dass es der Vollzug der Praxis ist, der die soziale Realität strukturiert. Freilich kann in Verbindung damit ein System von Vorstellungen und Überzeugungen entstehen, die ihrerseits Handlungen und auch Rituale anleiten können. Davon auszugehen, dass Praxis prinzipiell nach solchen Vorgaben funktioniert, ist jedoch für Rawls wie Bourdieu falsch und als „logozentrischer“ oder „intellektualistischer“ Fehlschluss zu sehen. Die Rede von einem gesonderten Symbolsystem, dem eine Systemhaftigkeit jenseits des Handlungsvollzugs zukommt, wäre demnach objektivistisch: Ein solcher Objektivismus muss diese Objekte als verdinglichte Abstraktion stehen lassen und ihnen eine Selbständigkeit zuschreiben, während die Praxis nur den Charakter der Ausübung oder Ausführung hat (vgl. Bourdieu 2009: 159–160).

Rituale

Bourdieu (2008b: 230; vgl. auch 1987b: 160) kritisiert die „Neigung, die Glaubensüberzeugungen als mentale oder diskursive Repräsentationen zu behandeln“. Für eine stark ritualisierte Religion verbietet sich das gewissermassen von selbst, aber selbst bei einer entritualisierten religiösen Tradition seien es Dispositionen unterhalb der Sprache und des Bewusstseins, körperliche Gewohnheiten und nonverbale Komponenten von Sprache, die den religiösen „Glauben“ ausmachen.

Symbolische Systeme seien letztlich in ihren Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten praktisch gegründet. Es gäbe durchaus Dichotomien, die sich durch verschiedenste Ebenen durchziehen, so z. B. voll/leer, männlich/weiblich. Solche Kategorien lassen vorschnell auf eine explizite symbolische Ordnung schliessen, tatsächlich fixierten sie jedoch nicht, sondern stellten sich bis ins Detail als Gegensätze in der Praxis heraus (vgl. Bourdieu 1993: 250). Solche Ausführungen erinnern an Durkheims Verständnis von Glaubensvorstellungen, die mit einer sozialen Praxis verbunden sind, aus ihr entstehen und sie beeinflussen. Das heisst jedoch nicht, wie Rawls zeigt, dass die Vorstellungen die Praxis bestimmen, eher sind sie Beschreibungen der Praxis.

Die kabylische Hausfrau, so Bourdieu, baue ihren Webstuhl nicht aufgrund einer Kosmogonie auf, sondern um etwas zu weben – aber es ist möglich, dass sie dies in verzauberter Form denkt, wenn das entsprechende Vokabular vorhanden ist. Ansätze, die moralische (Durkheim) oder logische (Lévi-Strauss) Integration eruieren, vernachlässigen gemäss Bourdieu die Vorstellungen der Handlungssubjekte von ihrer Welt und Praxis. Diese könnten sich den „Luxus logischer Spekulation, mystischer Ausstrahlung oder metaphysischer Unruhe nicht leisten“ (Bourdieu 1993: 257).

Für die Abstimmung zwischen Habitus und Feld, also den Dispositionen und dem Kontext, in dem sie realisiert werden, reiche „jene stumme Erfahrung der Welt als einer selbstverständlichen, zu welcher der praktische Sinn verhilft“ (Bourdieu 1993: 126).

Das hat Konsequenzen für die Aufgabe eines mit der Untersuchung von Ritualen befassten Wissenschaftlers:

„Die rituelle Praxis verstehen heisst nicht, die immanente Logik einer Symbolik zu entziffern; es heisst, ihre praktische Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit zu restituieren, indem sie auf die realen Bedingungen ihrer Entstehung, d.h. auf die Bedingungen bezogen wird, in denen gleichermassen die Funktionen, die sie erfüllt, wie die Mittel, die sie anwendet, um jene zu erbringen, ihre Bestimmung entfalten.“ (Bourdieu 1993: 255)

Die Geltung von Symbolen

Bourdieu verwendet selbst auch den Begriff des „Glaubens“. Dieser ist nahe demjenigen des Habitus angesiedelt und ist wie dieser gemäss Bourdieu in seinem „Urzustand“ nicht diskursiv geformt und expliziert, sondern inkorporiert:

„Der praktische Glaube ist kein ‚Gemütszustand‘ und noch weniger eine willentliche Anerkennung eines Korpus von Dogmen und gestifteten Lehren (‚Überzeugungen‘), sondern, wenn die Formulierung gestattet ist, ein Zustand des Leibes.“ (Bourdieu 1993: 126; Hervorhebungen im Original)

Glaube findet sich jedoch auch in einer, wie Bourdieu sie im Anschluss an Kant nennt, „pragmatischen“ Form expliziert, die durchaus strukturierend auf das Handeln wirken kann. Als Beispiel führt Bourdieu das Erlernen einer Fremdsprache auf, bei der eingespielte Dispositionen auf neue Regeln treffen, die als solche wahrgenommen werden. Diese in Form von Regeln vermittelte Sprache wird als willkürliches, expliziertes, Spiel gesehen, das durch dafür geschaffene Institutionen vermittelt wird. Bei der Erstsprache lernt man in, beim Erlernen einer Fremdsprache mit der Sprache zu denken (vgl. Bourdieu 1993: 124). Die Muttersprache stellt einen „Urglauben“ dar, man wird hineingeboren, es wird „unbestrittene, unreflektierte, naive, eingeborene Anerkennung“ (vgl. Bourdieu 1993: 125) gezollt, dies im Gegensatz zu Formen des Glaubens, die in der Übernahme expliziter Hypothesen bestehen.

Bourdieu weist darauf hin, dass „pädagogische Arbeit“ wie das Vermitteln von Fremdsprachen „die Stufe des Diskurses“ (vgl. Bourdieu 1993: 136) erreiche. Solche Diskurse stellen aber ihrerseits selbständige Praktiken dar, die wiederum in ein ganzes System von Strukturen eingefügt sind, die im Vollzug der Systematisierung und Explikation nicht explizit mitgeführt werden.

Auch die Vermittlung expliziter Inhalte erfolgt also in Form einer Praxis, beispielsweise in der Schule und deren Lehrmethoden oder in religiösen Organisationen und deren Theologie. So betont Bourdieu (2009: 166), dass die Konditionierung der Individuen, ihre „symbolischen, d. h. konventionellen und konditionellen Stimulierungen“ nur unter der Bedingung wirkten, dass die Handlungssubjekte darauf konditioniert sind, sie wahrzunehmen. Zudem drängen sie sich dann bedingungslos und zwangsläufig auf, „wenn das Einprägen des Willkürlichen das Willkürliche des Einprägens und der eingeprägten Bedeutungen ausser Kraft setzt.“ (Bourdieu 2009: 166). Das heisst, dass es nicht um die voluntaristische Abwägung und Übernahme von Überzeugungen geht, vielmehr stellt ein Ethos eine zur Tugend erhobene Notwendigkeit dar (vgl. Bourdieu 2009: 166) – ob nun diskursiv oder im „Urzustand“, Glaube wird stets praktisch implementiert. Die willentliche und explizite Bejahung durch das Individuum reicht gemäss Bourdieu (1993: 135) auch nicht aus, um an einem praktischen Sinn zu partizipieren, die Einverleibung funktioniert nicht über Repräsentationen, letztlich muss diese den Status der „Inkorporation“ haben, was heisst, dass ein Vollzug ohne reflexive Bezugnahme möglich ist.

Bourdieu verweist unter anderem auf Recht, Moral und Grammatik, in denen auf der Ebene des Gegenstandes selbst ein explizierender Zugriff auf die Praxis erfolgt (vgl. Bourdieu 1993: 188). Theologische Reflexionen können durchaus parallel dazu gesehen werden, sie beobachten die praktischen Vollzüge aus einer symbolischen Warte, stellen sie in Bezug zu Glaubensvorstellungen und systematisieren dieses Gesamte aus Praktiken und Vorstellungen in Form eines „Symbolsystems“ – ein Begriff, der sich bei Bourdieu durchaus auch findet. Die Symbole dieses Systems erlangen jedoch ihre Bedeutung nicht aufgrund einer unabhängigen symbolischen Logik, diese ist immer eine Resultat einer Praxis, in der Akteure mit ihrem Habitus, ihren Interessen, Ressourcen und Hierarchien involviert sind – wie Bourdieu (2000b, c) unter Einbezug von Gedanken Marx’, insbesondere aber Max Webers ausführt.

Auf Bourdieus Religionssoziologie war der Einfluss Max Webers unmittelbarer als derjenige Durkheims, was es nahe legt, Bourdieus Ansatz mit Webers Ausführungen zum historisch unterschiedlichen Grad der Ausarbeitung von Lehre und Glaube zu verknüpfen: Die Relevanz von „Theologien“ ist von Religion zu Religion unterschiedlich, generell ist sie für Weber ein Unterscheidungsmerkmal von Prophetie und Priesterreligiosität gegenüber Magie. Auch in dieser ist ein „Glaube“ an die Wirksamkeit notwendig, es findet sich aber kein „(\(\ldots \)) Fürwahrhalten intellektuell verstandener Lehrsätze, die ihrerseits Produkt intellektueller Überlegung sind“ (Weber 1972: 341). Je stärker Gemeinde, Priester oder Lehrer Träger einer Religion sind, desto umfangreichere praktische und theoretische dogmatische Unterscheidungen sind zu erwarten. Eine relativ unabhängige, bindende und systematisch rationalisierte Dogmatik theoretischer Art ist insbesondere vom Christentum in stark verkirchlichter Form zu erwarten. Diese ist zudem dort am stärksten, wo die Priesterschaft unabhängig von der politischen Organisation stand.

„Diese beiden Arten von Einflüssen: die Macht des prophetischen Charisma und die beharrenden Gewohnheiten der Masse wirken also, in vieler Hinsicht in entgegengesetzter Richtung, auf die systematisierende Arbeit der Priesterschaft ein.“ (Weber 1972: 285)

An anderer Stelle bemerkt Weber (1982a: 197), dass ausformulierte Theologien als „leicht in Formeln zu fassende theoretische Leitsätze, (\(\ldots \)) welche sich der Menschen bemächtigt und historische Wirkungen erzeugt haben“ dem rekonstruierenden Forscher seine Arbeit durch ihre Explizitheit erleichtern würden. Jedoch halte sich der empirisch-historische Vorgang nicht an die symbolische Logik der Theologie. Gerade das Vorhandensein umfangreicher religiöser intellektueller Systematisierung, so nun wiederum Bourdieu, erhöhe die Gefahr für die wissenschaftliche Perspektive, sich davon ausgehend an „illusorischen Erklärungen“ zu orientieren – denn die Praxis ist nicht die Realisierung eines theologischen Modells – insbesondere darin, dass die der „objektivistischen Sicht der Praktiken innewohnende Theorie der Praxis“ (Bourdieu 1993: 188) unnötig bekräftigt werde und die vermeintlichen Erzeugungsgrundlagen der Praxis zu deren Normen erhoben würden.

In von Marx beeinflusster Manier sieht Bourdieu bei Symbolen stets einen Verkennungseffekt im Spiel (vgl. Bourdieu 1992: 170): Sie sind zwar mit nicht-symbolischen Machtbeziehungen verknüpft, ja gründen sich sogar darin, stellen diese aber nicht einfach dar und machen sie schwer lesbar. Ihnen inhärent ist ein Effekt der Verkennung dieser Beziehung, das heisst, sie müssen als Teil einer Praxis gesehen werden, die sie hervorbringt und die gerade nicht in diskursiver Form aus ihnen ablesbar ist.

Bourdieu als Kulturwissenschaftler

Im Rahmen einer Diskussion um die Kultur-Struktur-Unterscheidung spricht Bourdieu (2009: 158) von einem „Realismus des Intelligiblen, bei dem die Kultur zu einer mit autonomer Existenz versehenen transzendenten Realität gerät, die selbst noch in ihrer Geschichte ihr immanenten Gesetzen gehorcht“. Dieser einseitigen Betonung von Kultur, so Bourdieu an gleicher Stelle, wüssten Kritiker wie Alfred Radcliffe-Brown ihrerseits Nichts entgegenzusetzen als einen „naiven Realismus“. Bourdieu konstatiert in der ganzen Debatte um die Unterscheidung zwischen Kultur und Struktur eine „extreme Verwirrung“. Sein Praxiskonzept scheint diese Verwirrung insofern aufzulösen, als dass Praxis nicht auf der expliziten Ebene eines Diskurses abgebildet wird, diesem aber auch keine unabhängige, inhärente Logik zukommt. Vielmehr stellen auch diskursive Praxen einen mehr oder weniger grossen Teil der Praxis dar. Dasselbe gilt für die Wissenschaft, die sich ihrerseits für die Beobachtung und Analyse von Praktiken interessiert, dabei einer eigenen Praxis nicht entrinnen kann und mit der Gefahr umgehen muss, angesichts der eigenen Betonung von Diskursivität diskursiv verfasste Gegenstände zu bevorzugen und ihnen die Eigenständigkeit und Objektivität zuzuschreiben, die das Ziel der Wissenschaft selbst ist.

Wenn Bourdieu als Vertreter einer „Kulturwissenschaft“ gesehen wird (vgl. z. B. Daniel 2004), ist dies angesichts der Prominenz von Konzepten Bourdieus wie „kulturelles Kapital“ oder seiner Auseinandersetzung mit „Kultur“ im Sinne von Kunst (vgl. z. B. Bourdieu 1997) verständlich. Dabei schien Bourdieu der Kulturbegriff durchaus problematisch, so schlug er beispielsweise vor, das „kulturelle Kapital“ müsse eigentlich „Informationskapital“ heissen, damit der Begriff „seine volle Universalität“ erhalte (Bourdieu und Wacquant 2006: 151). Eine Zuweisung Bourdieus zu Kulturwissenschaft ist aber insofern missverständlich, als dass dies einen Gegensatz zu Sozialwissenschaft impliziert, der für Bourdieu nicht zutrifft. Wichtig ist auch, die Bewegung zu sehen, die Bourdieu, nicht zuletzt von Marx her kommend, vollzieht: In seiner Verteidigung gegen den Vorwurf des Ökonomismus betont Bourdieu (2006: 148), er wolle „das materialistische Denken in die Sphäre der Kultur“ hineintragen, aus der er „historisch ausgetrieben wurde, als der moderne Kunstbegriff erfunden wurde und das Feld der kulturellen Produktion seine Autonomie erlangte“. Bourdieus Ansatz ist damit gerade als Versuch zu verstehen, die „Autonomie der Kultur“ und die Idee von Symbolen, die ihre Bedeutung durch ihre Relation zu anderen Symbolen erhalten, zu hinterfragen. Für Bourdieu (1992: 170) liegt die Geltung der Symbole und ihre Macht nicht in ihren Bedeutungen begründet, sondern in den Beziehungen derjenigen, die sie einsetzen.

Es wäre angesichts der Parallelen zu einer praxistheoretischen Durkheim-Interpretation wenig zutreffend, Bourdieu als Durkheimianer zu bezeichnen. Die soziale Praxis, die beide als Basis des Sozialen sehen, charakterisieren sie höchst unterschiedlich: Materielle Verhältnisse und Hierarchie nehmen bei Bourdieu bei ihrer Charakterisierung und derjenigen ihres Einflusses auf Ritual und Religion eine prominente Rolle ein. Für diese Betonung stellt nicht Durkheim, sondern Weber und Marx die wichtigsten Referenzen dar.

2.6.4.2 Weitere Positionen

Die auf Bourdieu aufbauende Argumentation für den Primat der Praxis soll abschliessend noch breiter in der Diskussion abgestützt werden: Im Anschluss an Ann Swidler werden eine mit Praxistheorie kompatible Rede von Kultur diskutiert und dem hier vertretenen Ansatz ähnliche Durkheiminterpretationen in der britischen Soziologie, auf die später noch zurückgegriffen werden wird, beigezogen. Weitere prominente Kritiken an einer strukturfunktionalistischen Durkheimkritik soll kurz anhand der „Dominant Ideology Thesis“ und Talal Asads eingeführt werden. Und schliesslich wird der Kreis zu Ludwig Wittgenstein geschlossen, der als Gewährsmann für Praxistheoretiker seinerseits rationalistische Unterstellungen an ethnologische Untersuchungsgegenstände kritisierte.

Swidler: Kultur und Praxis

Die wissenschaftliche Rede von „Kultur“ in einem differenzierten Sinne scheint angesichts der Problematik der Unterscheidung zwischen sozialen und kulturellen Systemen mit Schwierigkeiten verknüpft. Möglichkeiten, auch angesichts einer Kritik am normativen Funktionalismus von Kultur zu sprechen, zeigt Ann Swidler auf.

In einem prominent gewordenen Text geht sie von Folgendem aus: „A culture is not a unified system that pushes action in a consistent direction. Rather, it is more like a ‚tool kit‘ or repertoire from which actors select differing pieces for constructing lines of action“ (Swidler 1986: 275–276). In Swidlers Verständnis ist Kultur kein vom Handeln separiertes System von Ideen, sondern beeinflusst die Strategien des Handelns, worunter sie die Konstruktion von Handlungsverknüpfungen versteht. Diese Handlungsstrategien basieren nicht auf bewusst gefassten Plänen, das kulturelle „tool kit“ ist also nicht ein Wühlkasten, in dem souveräne Individuen kramen und sich Passendes auswählen. Vielmehr handelt es sich um ein Repertoire, aus dem heraus Handlung gestaltet wird, indem z. B. Gewohnheiten, Empfindungen oder Weltanschauungen Teil der Handlungsstrategie werden. Kultur ist also die Verknüpfung solcher Elemente im Handlungsvollzug. Dabei ist individueller Spielraum möglich: Explizit positioniert sich Swidler (1986: 277) gegen das von Garfinkel an Parsons kritisierte Modell von Kultur als ein das Handeln quasi determinierendes Wertsystem, stattdessen geht sie von „active, sometimes skilled users of culture whom we actually observe“ aus. Mit „sometimes“ verweist sie auf einen Punkt, der sowohl für ihr Verständnis von individuellem Handeln, als auch für umfassende kulturelle Zusammenhänge wichtig ist. Der Grad der Explizitheit und Reflexion von kulturellen Inhalten ist eine empirische Frage. Das Leben kann eher „settled“ sein, wobei dann der explizite Verweis auf Werte wenig Konsequenzen zeitigt und Kultur sich implizit reproduziert, oder „unsettled“, wobei dann Ideologien an Wirksamkeit gewinnen.

Zusätzlich klären lässt sich Swidlers Kulturverständnis und insbesondere ihre Positionierung gegenüber „kognitivistischen“ Theorien anhand ihrer Auseinandersetzung mit Stephen Vaisey. Ansätze, die expliziter Bedeutung gänzlich die Fähigkeit zur Strukturierung des Handelns absprechen – eine solche Position unterstellt er auch SwidlerFootnote 162 –, gehen Vaisey (2008: 607) zu weit. Stattdessen verweist er auf Ansätze, die er als „dual process theory“ bezeichnet, das heisst Theorien, die von einem Zusammenspiel eines bewussten mit einem unbewussten Faktor ausgehen und des Weiteren auf Ansätze, die er als „person-interaction theory“ bezeichnet, die das Handeln als Resultat der Wechselwirkungen zwischen Person und der Situation sehen. In diesen Ansätzen und für Vaisey geht es in Handlungstheorien darum, die Beziehung zwischen bewussten und unbewussten Prozessen einerseits und dem Einfluss der Umwelt andererseits zu klären (Vaisey 2008: 609). Bourdieus Habitus-Konzept scheint Vaisey, der über „Kognition“ argumentiert, diesen Bedingungen zu entsprechen, dies jedoch mit Modifikationen, insbesondere sei die Möglichkeit des Einflusses einer „discursive consciousness“, wie Giddens’ Praxistheorie sie bietet, vorzusehen (Vaisey 2008: 610). Dazu gesellt Vaisey ein kognitionswissenschaftliches Verständnis von „moral intuition“, anhand derer das Individuum über seine Emotionen, Entscheidungen, Präferenzen und internalisierten Vorstellungen zum Handeln angeleitet wird und im Zusammenspiel mit anderen die soziale Welt hervorbringt.

Swidler (2008: 616) teilt in ihrer Antwort auf Vaisey zwar dessen Fragestellung, die von Vaisey aber als zentral postulierte Kategorie einer mehr oder weniger bewussten „moral intuition“ würde nicht genügend geklärt. Die Rede von „Kognition“ verlagere den Erklärungsbedarf gänzlich ins Individuum hinein:

„Yes, a theory that people have ‚cultural repertoires‘ or ‚toolkits‘ is ‚underdetermined‘ if one asks how culture, understood as something individuals carry around in their heads, directly shapes action. But I don’t think we can resolve this underdetermination by figuring out a different (even a superior) way of describing what people carry inside their individual consciousnesses or unconsciousnesses. What we need instead is to get beyond the fundamental individualism of such models.“ (Swidler 2008: 617)

Das heisst, dass Swidler als Soziologin die Reproduktion und Varianz von Handlung und Kultur nicht über psychologische Dispositionen verstehen will, sondern über ein kontextuell unterschiedliches Arrangement von Strategien. Swidler weiter:

„The question of how culture shapes action can’t be answered by figuring out better models of how it operates in the heads of individuals, however interesting (and however difficult) that might be; instead, we need better analysis of the structures that determine how cultural meanings will be organized, and when and where particular sets of meanings will be brought to bear on experience.“ (Swidler 2008: 617)

Ihre Position bringt Swidler wie folgt auf den Punkt:

„Culture does not influence how groups organize action via enduring psychological proclivities implanted in individuals by their socialization. Instead, publicly available meanings facilitate certain patterns of action, making them readily available, while discouraging others. It is thus not the rearrangement of some free-floating heritage of ideas, myths, or symbols that is significant for sociological analysis. Rather, it is the reappropriation of larger, culturally organized capacities for action that gives culture its enduring effects.“ (Swidler 1986: 283)

Wie Vaisey hält auch Swidler Bourdieus Theorie als zumindest kompatibel mit ihrem Ansatz, selbst wenn auch sie ein weniger determinierendes Modell der Strukturierung des Handelns vertreten will (vgl. Swidler 2008: 615). Swidler setzt zwar nicht auf den Begriff der Praxis, doch Bourdieus „Esquisse d’une théorie de la pratique“ ist die von ihr an zentraler Stelle ihrer Argumentation genannte Referenz (vgl. Swidler 1986: 275–276). Die Suche nach den gesellschaftlichen Strukturen, die die kulturellen Bedeutungen organisieren, und die Absage an den Individualismus bringen Swidler jedoch näher an Bourdieu und das hier vertretene Verständnis von Praxis; und auch die Berücksichtigung von Giddens’ „diskursivem Bewusstsein“ kann in eine Praxistheorie bzw. Theorie von Kultur und Handeln eingebaut werden, ohne auf ein kognitionspsychologisches Verständnis zurückgreifen zu müssen.

Mellor und Shilling: Rituale und Emotionen

Vorläufer der praxistheoretischen Durkheim-Lesart sind bei den Kritikern des Neodurkheimianismus in den 1970er-Jahren, wie z. B. Whitney Pope (1975b), zu finden. Auch in der britischen Soziologie findet sich eine Geschichte der Kritik an strukturfunktionalistischen Durkheiminterpretationen, so bei Steven Lukes (1975b) und in jüngerer Zeit bei Philip Mellor und Chris Shilling. Auch sie greifen auf Durkheim zurück, um einen Blick auf Rituale und Symbole zu begründen, der sich von demjenigen des normativen Funktionalismus unterscheidet. Die Betonung von Ritualen erlaube auch mit einem Durkheimianischen Ausgangspunkt eine nicht-funktionalistische Theorie, in der Macht und Konflikt betont werden:

„Viewed within the frequently conflictual exchanges and expenditures of energy arising from Durkheim’s theory of effervescent vitalism, in fact, it is clear that the ritual construction of social solidarity is a highly contingent phenomenon, marked by a series of enduring conflicts and oppositions, and by a complex of power relations.“ (Mellor 1998: 99)

Damit einhergehend ist eine Verschiebung der Betonung von Werten und Symbolen hin zur Betonung von Emotionen, die insofern grundlegender seien, als dass sie überhaupt erst die Symbole hervorbringen würden. Durkheim habe sich gegen rationalistische Standpunkte gewandt, „which viewed religion primarily in terms of their systems of ideas“ (Mellor 1998: 103). Im Anschluss an Nisbet stellt Mellor (1998: 88) fest, dass Durkheim sich gerade nicht für Welterklärung oder Sets von Werten interessiert habe, sondern „how they make certain forms of action and experiences possible“. Die „directional logic“ einer Religion liege eher an der „embodied orientation towards social realities“ als an der Plausibilität ihrer „philosophischen“, weltanschaulichen Orientierung (Mellor und Shilling 2010: 33; Hervorhebung im Original). In diesem Sinne seien es auch nicht intellektuell wahrgenommene Inkonsistenzen zwischen religiösen Erwartungen und den gemachten Erfahrungen in der Welt, die Religiosität formen (vgl. Mellor und Shilling 2010: 34).Footnote 163

Der „kognitive Symbolismus“ würde auf Kosten der Praxis überbetont:

„Durkheim’s concern with trajectory incorporates ritual actions and emotions, thus avoiding the overemphasis Parsons places on cognitive symbolism at the expense of embodiment.“ (Shilling und Mellor 2011: 24)

Dem möglichen parsonsianischen Gegenvorwurf, den „Idealismus“ durch einen „Positivismus“, der die Sinndimension menschlichen Handelns gänzlich ausschliesst, zu ersetzen, begegnen die Autoren, dass auch diese rituellen Handlungen zu einer „cultural directionality“ führen, dieser aber auch unterstehen würden, das heisst, es sind nicht einfach blosse, ungesteuerte Emotionen (Shilling und Mellor 2011: 25).

Kritik an der Dominant Ideology Thesis

Bemerkenswert ist die Kritik, die von marxistisch beeinflussten Sozialwissenschaftlern am normativen Funktionalismus geübt wird, da sie auch bestimmte Strömungen innerhalb des Marxismus betrifft, die ähnliche Problematiken aufweisen: So identifizieren Abercrombie et al. (1980) Vorstellungen „dominanter Ideologie“, deren Parallelen zu neodurkheimianischen Konzepten aufgezeigt und gleichzeitig kritisiert werden. Das überrascht insofern, als Marx in strukturfunktionalistischen Ansätzen oft als Folie der Abgrenzung dient, das Ansinnen, ein nicht-mechanistisches Modell der sozialen Welt und die Autonomie von Kultur zu betonen, wird im Widerspruch zu Marx gesehen (vgl. z. B. Alexander 1990: 3).

Insbesondere im Anschluss an eine bestimmte Interpretation der Deutschen Ideologie – bemerkenswerterweise auch eine zentrale Referenz für Praxistheorien – hätten, so nun Abercrombie et al., marxistische Denker wie Gramsci, Althusser und auch Habermas Kultur als Mittel gesehen, mit denen die herrschende Klasse die Gesellschaft umfassend ideologisch formt und damit zu dominieren vermag. Diese marxistischen Konzeptionen der dominanten Ideologie seien damit äquivalent zu Theorien der geteilten Kultur, die sich im normativen Funktionalismus fänden, da in beiden Wertintegration, das heisst die gesellschaftliche Übernahme von Werten, Glaubensvorstellungen oder Ideologien als Garant sozialen Zusammenhalts gesehen werde.Footnote 164

Tatsächlich lassen Zitate wie das folgende von Althusser, neben all den Betonungen von Materialität, Praxis und Ritual, auch gewisse Parallelen zur Position eines Parsons erkennen:

„Es wird also deutlich, dass das Subjekt nur handelt, indem es durch folgendes System bewegt wird (das System wird hier in seiner realen Determinationsreihenfolge aufgeführt): eine Ideologie, die innerhalb eines materiellen ideologischen Apparates existiert, materielle Praxen vorschreibt, die durch ein materielles Ritual geregelt werden, wobei diese Praxen wiederum in den materiellen Handlungen eines Subjekts existieren, das mit vollem Bewusstsein seinem Glauben entsprechend handelt.“ (Althusser 1977b: 139)

Immerhin steht die Ideologie am Anfang und das Individuum handelt „mit vollem Bewusstsein seinem Glauben entsprechend“.

In der Folge seiner Kritik an der „Dominant Ideology Thesis“ bezieht sich der (Religions-)Soziologe Bryan Turner (1991: 46) auch auf Durkheim selbst, der den gemeinsamen Vollzug und nicht Wertkonsens als unabdingbares Element von Soziales erzeugenden Ritualen gesehen habe. In der Religionssoziologie haben diese Positionen jedoch wenig Beachtung gefunden.

Asad: Ritual ohne Dekodierung

Mit Blick auf Religionssoziologie und Religionswissenschaft stellt eine praxistheoretische Perspektive eine Alternative zu prominenten Verständnissen von Handlung und Kultur dar, die von „Symbolsystemen“ ausgehen, als deren Realisierung Handlungen gesehen werden. Entsprechende Konzepte wurden über das Religionsverständnis des frühen, von Parsons beeinflussten Geertz in der kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft wichtig. Auch hier steht eine praxistheoretische Kritik jedoch nicht alleine da, sie findet ihre Parallelen beispielsweise bei einem eher dem Poststrukturalismus als der Praxistheorie zuzuordnenden Autoren wie Talal Asad.

Asad wendet sich gegen eine Trennung zwischen dem rituellen Vollzug und einer durch sie ausgedrückten Bedeutung, in der Rituale wiederum als Symbole gesehen werden, die im Rahmen einer entsprechenden Logik bestimmte Dinge ausdrücken. Die Konzeption von Ritualen als Repräsentation von etwas anderem, das der Übersetzung durch „Theologen“ oder kundige Kulturkundler harre, dürfe nicht verallgemeinert werden:

„Ritual is (\(\ldots \)) directed at the apt performance of what is prescribed, something that depends on intellectual and practical disciplines but does not itself require decoding. In other words, apt performance involves not symbols to be interpreted but abilities to be acquired according to rules that are sanctioned by those in authority: it presupposes no obscure meanings, but rather the formation of physical and linguistic skills.“ (Asad 1993a: 62)

Es geht bei Ritualen um Fähigkeiten, Regeln und Autoritäten, nicht unbedingt um dadurch ausgedrückte Bedeutungen, die es für den Forscher zu rekonstruieren gilt. Als Ursache für die aus seiner und auch einer praxistheoretischen Perspektive falsche Sicht identifiziert er nicht die strukturfunktionalistische Durkheimlesart, sondern eine bestimmte moderne, christlich-theologische Sichtweise auf Religion und Ritual, in der Bedeutungen zentral sind, die das Individuum zu kennen und zu glauben hat.

„It is a modern idea that a practitioner cannot know how to live religiously without being able to articulate that knowledge.“ (Asad 1993a: 36)

Gerade die Bedingungen der Moderne hätten eine solche Sicht gefördert, da Rituale darin nicht mehr dieselbe umfassende disziplinierende Wirkung annehmen und bloss als symbolische Angelegenheiten gesehen würden (vgl. Asad 1993c: 78–79). Interessanterweise identifiziert Asad Durkheims Neffen Marcel Mauss als Referenz für eine Abwendung von einem solchen Dualismus zwischen rituellem Vollzug und symbolischer Bedeutung: Mit seinem Habitus-Konzept konzeptualisiere er ritualisiertes Handeln als Menge verkörperter Fähigkeiten, nicht als Medium symbolischer Bedeutungen.

Asads Sicht weitet die genannte Kritik an einer Lesart, die den Primat bei den Glaubensüberzeugungen sieht, insofern aus, als er dafür nicht bestimmte soziologische, sondern religiöse Einflüsse massgeblich sieht. Auch wenn es einfacher ist, strukturfunktionalistische Einflüsse auf Geertz zu identifizieren als christliche, ist die entsprechende Anfrage gerade aus religionswissenschaftlicher Sicht wichtig.

Wittgensteins Kritik an Frazer

Wittgenstein wurde bereits als Referenz für praxistheoretische Positionen eingeführt (siehe Abschn. 2.2.2.3.). Auf ihn soll im Rahmen der Diskussion über das Verhältnis von Glaubensvorstellungen und Praktiken erneut verwiesen werden, da eine ihm folgende Fassung dieser Beziehung es erlaubt, Schwierigkeiten des Verstehens von religiösen bzw. als „magisch“ bezeichneten Ritualen zu lösen. Dazu soll seine kritische Auseinandersetzung mit dem Ethnologen James George Frazer kurz rekapituliert werden.

Frazers Behandlung der Magie ist ein aufschlussreiches Beispiel für den „intellektualistischen Fehlschluss“, der aus der Unterstellung eines Systems von Glaubensvorstellungen hervorgehen kann. In seiner äusserst einflussreichen Behandlung von Religion, Magie und Wissenschaft stellt Frazer fest, bei Magie (und letztlich auch Religion) handle es sich letztlich um einen kapitalen Irrtum, da sie auf der „völligen Verkennung des Wesens der besonderen, einzelnen Gesetze“ (Frazer 1994 [1922]: 71), die involviert wären, beruhe und damit in gänzlich unnützen Handlungen, wie z. B. Geisterbeschwörungen oder Regentänzen, münden würde. Hinzu komme der Mangel an Einsicht: Obwohl ihre Rituale nichts taugten und die damit verknüpften Vorstellungen der Welt stets aufs Neue widerlegt würden, würden sie von den unbelehrbaren Primitiven wieder und wieder durchgeführt.

Für eine interaktionistisch-konstruktivistische Lesart spricht Durkheims Kritik an Frazer: Dieser interpretiere die von ihm „homöopatisch“ genannte Magie dahingehend, dass der Irrtum begangen würde, Dinge für identisch zu halten, die sich nur ähnlich sind (vgl. Durkheim 1994: 481, 510). Oft sei eine Assimilation von Bild und Modell jedoch nicht festzustellen, es handle sich vielmehr um eine Erschaffung. Nicht der intellektualistisch unterstellte Glaubensirrtum informiere das Handeln, die Vorstellungen seien vielmehr ex post Verbalisierungen eines Gefühls der Erfahrung einer höheren Macht (der Gesellschaft) und der realen, positiven, aber nicht intendierten Konsequenzen des rituellen Handelns.

Wie Durkheim (1994: 487 f., 516 ff.) an Frazer kritisierte, bezog dieser Magie auf „Lehrsätze“ und isolierte sie aus ihrem praktischen Zusammenhang, wodurch unverständlich wird, wie Magie und letztlich auch Religion zu Plausibilität kommen konnte. Auch Frazers Schüler Malinowski ging mit dieser Kritik einig:

„One achievement of modern anthropology we shall not question: the recognition that magic and religion are not merely a doctrine or a philosophy, not merely an intellectual body of opinion, but a special mode of behavior, a pragmatic attitude built up of reason, feeling, and will alike. It is a mode of action as well as a system of belief, and a sociological phenomenon as well as a personal experience.“ (Malinowski 1954: 24–25)

Es ist kein Zufall, dass entschiedene Kritik an Frazers Position auch von Ludwig Wittgenstein erfolgt, der seinerseits als Referenz für praxistheoretische Ansätze genannt wird (siehe Abschn. 2.2.2.3). Wittgensteins Kritik gipfelte in Urteilen wie dem Folgenden: „Frazer wäre imstande zu glauben, dass ein Wilder aus Irrtum stirbt. (\(\ldots \)) Frazer ist viel mehr savage, als die meisten seiner savages.“ (Wittgenstein 1967: 240).

Frazer unterstellt der Praxis eine Logik, er sieht Rituale als Folgerungen aus einem System von geglaubten Kausalitätsverhältnissen, das die rituell Handelnden dazu anleitet, ihre Zwecke auf eine bestimmte rituelle Art und Weise zu verfolgen. Der Blick auf die Ritualisierung der Praxis zeigt jedoch vielmehr, dass das, was in Ritualen zählt, die richtige Abfolge von Schritten ist und sich die kommunikative Kapazität von Ritualen weitgehend darauf beschränkt, mitzuteilen, was der nächste rituelle Schritt ist.Footnote 165 Die Teilnehmer verlassen sich gerade in schwierigen Situationen darauf, dass es zu diesem Zeitpunkt richtig ist, so zu handeln, und der im Ritual erzielte Interaktionserfolg bestätigt dies. Der Glaube an eine Einbindung dieser Handlungsanleitungen in ein System von Gesetzmässigkeiten, die Ableitung ritueller Handlungen aus Glaubensmotiven, stellt eine weitgehende Unterstellung von Frazer dar. Aus ex post Rationalisierungen befragter Ritualteilnehmer können solche Verknüpfungen wohl hergestellt werden, jedoch sind Rituale typischerweise „traditionales Handeln“ im Sinne Webers (1972: 17), es wird so gehandelt, weil nun einmal so gehandelt wird. Regentänze werden nicht praktiziert, weil man ihnen in Ableitung von einem System von Glaubensvorstellungen die Wetterbeeinflussung zutraut, sondern weil sie ein Vokabular für die aktive, das heisst praktische, Beschäftigung mit dem Wetter bereitstellen. Isoliert man diese Handlungen aus ihrem praktischen Zusammenhang, wird tatsächlich unverständlich, wie Magie und letztlich auch Religion zu Plausibilität kommen konnten.

Interessanterweise findet sich bei Parsons eine ähnlich gelagerte Kritik an Versuchen eines „rationalistisch ausgerichteten Positivismus“, Religion zu erklären, wozu er u. a. Frazer zählt:

„With beliefs like that in a soul seperable from the body, ritual practices in turn are held to be readily understandable. It is, however, a basic assumption of this pattern of thinking that the only critical standards to which religious ideas can be referred are those of empirical validity.“ (Parsons 1954 [1949]: 199)

Daraus werde, so Parsons weiter, abgeleitet, dass der Glaube an Religion und Magie und auch die dazugehörenden Praktiken in einer aufgeklärten Moderne verschwinden würden. Parsons hält eine solche Position für „inadequate“ und bietet Pareto, Malinowski, Durkheim und Weber auf, um mit dem Fehlschluss, empirische Validität unter wissenschaftlichen Bedingungen als Kriterium für die Richtigkeit religiöser Vorstellungen und Rituale anzusehen, aufzuräumen. Gerade Durkheim habe die symbolische Ebene von der „intrinsic causality“ getrennt und gehe von der Arbitrarität ihrer Bedeutung aus.

Parsons Frazer-Kritik weist darauf hin, dass es durchaus Berührungspunkte zwischen den Ansätzen gibt, die hier hinsichtlich ihrer Antwort auf die Frage nach der Beziehung von Glaubensvorstellungen und Ritualen einander gegenübergestellt werden – wenngleich es auch nicht allzu schwierig ist, Parsons gleichwohl eine Korrespondenztheorie der Wahrheit zu unterstellen (vgl. z. B. Heritage 1984: 29), die mit Wittgensteins Spätphilosophie und auch mit sich darauf berufenden Praxistheorien nicht vereinbar ist.

2.6.5 Praxis ohne Kultur

Anne Rawls sieht die in diesem Abschnitt nachgezeichnete Diskussion als zentral an:

„This [„privileging of practices over beliefs“ durch Durkheim] is an issue that, I believe, divides contemporary sociology: those who focus on narrative accounts versus those who focus on enacted practices.“ (Rawls 2004: 142)Footnote 166

Die vorliegende Untersuchung geht von der Betonung auf „enacted practices“ aus – die Gründe dafür wurden in den vorangehenden Abschnitten diskutiert: Die Gegenposition basiert einerseits auf einem intellektualistischen Bild des Menschen und seiner Handlungen. Andererseits rekonstruiert sie Bedeutungen als vom Handeln abgetrennte, autonome Angelegenheit und schreibt ihnen logische Kohärenz und Zeitlosigkeit zu. Ein solches Verständnis stellt zu hohe Anforderung an die Bewusstheit der Beteiligten, da sie als Konzeptionen nur in diesem Rahmen Wirklichkeit gewinnen können, es entfernt Bedeutungen aus dem sozialen Vollzug und bringt die Gefahr mit sich, dass der Wissenschaftler sich der Rekonstruktion und oft der blossen Konstruktion symbolischer Logiken widmet und damit eher Theologie als Religionswissenschaft betreibt.Footnote 167

Eine so zu kritisierende Position kann sich durchaus auf Durkheim berufen, genauso lassen sich aber bei Durkheim Ansätze zu einer Praxistheorie finden, einer Argumentationslinie, der hier der Vorzug gegeben wird. Einige konzeptuelle Konsequenzen dieser Entscheidung sollen abschliessend aufgezeigt werden:

  1. 1.

    Kultur vs. Gesellschaft: Auf die Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft wird verzichtet. Wie Parsons und der frühe Geertz von einer separaten Sphäre der Kultur auszugehen, die in irgendeiner Weise von Gesellschaft zu trennen ist, erscheint praxistheoretisch wenig sinnvoll. Es scheint nicht möglich, bestimmte Qualitäten oder Komponenten zu nennen, die eine solche Differenzierung plausibel machen. Wie Luhmann (1980: 17) betont, ist nicht klar, wo in der empirisch vorfindbaren Gesellschaft eine Grenze zu Kultur zu ziehen wäre. Dem würde Parsons entgegnen, dass seine Unterscheidung zwischen sozialem und kulturellem System in der sozialen Realität tatsächlich nicht vorkomme, sondern bloss analytisch sei. Auch das ist wenig sinnvoll: Gerade Parsons wendet beträchtliche Energie darauf auf, Vorgänge der Vermittlung von kulturellem und sozialem System (z. B. durch Institutionalisierung von Wertvorstellungen) zu thematisieren. Empirische Referenzen für Vorgänge der Vermittlung von Ebenen zu suchen, die allein der Theoretiker trennt, scheint wenig sinnvoll.Footnote 168

  2. 2.

    Verzicht auf den Kulturbegriff: Der Verzicht auf die Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft legt es nahe, sich begrifflich an eine der zwei Seiten anzuschliessen: Im Folgenden wird von „Gesellschaft“ bzw. „sozialen Systemen“ gesprochen, da diese Wortwahl an die Durkheimrezeption in der Soziologie und der britischen Sozialanthropologie anschliesst und einer praxistheoretischen Konzeption von der Konnotation her näher liegt.Footnote 169 Die Verwendung des Kulturbegriffs aufgrund der Konnotationen des normativen Funktionalismus und der symbolischen Anthropologie, die diesen Begriff geprägt haben und hier ausführlich kritisiert werden, wäre missverständlicher.Footnote 170

  3. 3.

    Werte und Rationalisierung: Die Eigenständigkeit einer kulturellen Dimension, eines Reichs der Bedeutungen wird abgestritten, aber nicht verneint, dass es Werte, Symbole und Glaubensvorstellungen gibt. Diese bilden jedoch keine Systeme, Systemhaftigkeit kommt ihnen nur im praktischen Vollzug zu, in dem sie nicht von dem getrennt sind, was als Handlung bezeichnet werden kann. Diese wiederum können auch ohne die explizite Zuweisung von Werten erfolgen, entlang impliziter Regeln. Die Zuweisung zu Werten im Sinne einer Rationalisierung von Handlungen, der Formulierung von Beweggründen und Motivationen kann in unterschiedlichem Mass vorkommen und auch in religiösen Traditionen und Ritualen unterschiedlich präsent sein. Solche Rationalisierungen dürfen aber nicht generell erwartet werden. Bei Frazer zeigt sich, wie problematisch es ist, wenn jeglichem Handeln Rationalität als Norm unterstellt wird. Die von Wittgenstein angeprangerten rationalistischen Unterstellungen Frazers führen zu einem Missverstehen von magischen bzw. religiösen Praktiken und zeigen, wie falsche Handlungstheorien der wissenschaftlichen Perspektive Normativität zuführen können.Footnote 171 Auch rationalisiertes Handeln ist zudem praxistheoretisch als Praxis zu sehen und stellt somit einen Vollzug von Strukturen dar, über den sich die Handelnden selbst nicht ganz im Klaren sind – dies dürfte beispielsweise auf Frazers wissenschaftliches Handeln zutreffen, mittels dessen er unter der Annahme von Universalität eine höchst spezifische Weltsicht reproduzierte.Footnote 172

  4. 4.

    Praxis, Handlungskapazität und Emotion: Kultur findet nicht im Kopf statt und es geht nicht um Kognition insofern es sich dabei um psychische Schemata handelt: Weder Varianz noch Konstanz wird auf psychische Dispositionen zurückgeführt, so mit Swidler gegen Vaisey. Sondern: Soziale Verhältnisse geben Handlungsmuster vor. Der Transfer erfolgt so nicht über bestimmte Ideen oder Mythen, die dann im Handeln umgesetzt werden, sondern über die Kapazität zu Handeln. Das heisst, Menschen werden mit der Kapazität und damit einhergehend mit der Neigung versehen, auf bestimmte Arten und Weisen zu handeln. Ritualisierte Praxis stellt durch ihre Einübung entsprechende Kapazitäten her.

2.7 Religion

Die Frage, inwiefern religiöse Rituale von anderen Ritualen unterscheidbar sind, ist für die Bestimmung des Gegenstandes der vorliegenden Untersuchung notwendig. Gleichzeitig trifft man dabei eine Selektion mit Widerspruchsgarantie und wird Teil einer wenig zielstrebigen Diskussion, wie beispielsweise Bryan Turner urteilt:

„The question is, without doubt, significant in both the philosophy and sociology of religion, but it has had the effect of inducing a certain theoretical sterility and repetitiveness within the discipline. The endless pursuit of that issue has produced an analytical cul-de-sac.“ (Turner 1991: 3)

Dennoch ist eine begriffliche Entscheidung notwendig und durchaus zentral für die vorliegende Untersuchung, da religiöse Rituale von nicht-religiösen abgegrenzt werden.

Eine starke Zuwendung zur Definitionsfrage bringt aber die Gefahr einer Verwechslung der Definition von Religion mit ihrer Analyse mit sich: Nur wenn die begriffliche Bestimmung des Gegenstandes als Identifikation seines Wesens gesehen würde, wäre mit der Definition bereits etwas Wesentliches gesagt. Im hier eingeführten Verständnis geht es lediglich darum, die wissenschaftliche Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit von religiösen Ritualen gegenüber anderen Bereichen der sozialen Welt zu gewährleisten. Selbst wenn das so Definierte Spezifika ausweist, wird nicht davon ausgegangen, dass es sich in seinem Funktionieren gänzlich vom Rest dieser Welt unterscheiden muss. Um eine Analogie zu bemühen: Ein bestimmter, an seinem Gefieder erkennbarer Singvogel dürfte neben dem Federkleid einige artspezifische Eigenheiten in der Nahrung, dem Gesang und anderen Verhaltensweisen aufweisen, dennoch stellt er keine von anderen Singvögeln gänzlich verschiedene Lebensform dar. Es wäre dem Verstehen abträglich, ihn begrifflich derart analytisch abzusondern und ihm eine eigene Wesenhaftigkeit zu unterstellen, die den Vergleich mit anderen Singvögeln und das darüber erfolgende Verstehen verunmöglichen würde. Analog dazu ist Religion eine Form des Sozialen neben anderen und als solche zu analysieren. Und genauso wenig, wie das Gefieder des Vogels, das dem Betrachter seine Identifikation ermöglicht, ein bestimmender Faktor seiner Existenz sein muss, muss Religion dadurch bestimmt sein, wodurch wir sie als Wissenschaftler erkennen. Gerade die ausführliche Diskussion um Definitionskriterien, in der die religionswissenschaftliche Theoriebildung sich gelegentlich zu erschöpfen scheint, führt oft dazu, dass Definition mit Analyse verwechselt wird. Da dies nur unter der Annahme sinnvoll wäre, dass es ein Wesen von Religion gibt, das das Phänomen umfassend bestimmt, ist es tunlichst zu vermeiden.

2.7.1 Problem

In seiner im Abschn. 2.1.3.2 dieser Arbeit bereits angeführten Religionsdefinition sieht Durkheim Religion als System von Glaubensvorstellungen und Praktiken, die mit der Unterscheidung heilig/profan arbeiten. Erkennbar ist sie an einer moralischen Gemeinschaft, die diese Unterscheidung hervorbringt und aufrecht erhält. Damit vereint die Definition eine eher funktionale Bestimmung (Religion erzeugt Gemeinschaft) mit einer eher substantivistischen (Religion teilt die Welt in heilig und profan). Insbesondere letzteres, die Identifikation von Religion über bestimmte Glaubensvorstellungen und Semantiken, wurde Gegenstand von Kritik: So zweifelt Edward Evans-Pritchard daran, dass die Bestimmung von sacred/sacré tatsächlich in allen religiösen Traditionen zu finden sei, wie Durkheim es unterstellt:

„(\(\ldots \)) the demarcation of the ‚sacred‘ by interdictions may be true of a great many peoples, but it cannot be universally valid, as Durkheim supposed, if I am right in believing that the participants in the elaborate sacrificial rites of the Nilotic peoples, or some of them, are not subjected to any interdictions.“ (Evans-Pritchard 1965: 65)

An späterer Stelle vermutet Evans-Pritchard (1965: 110) Übersetzungsprobleme bei Begriffen wie „sacré“ und „profane“. Diese Skepsis scheint deshalb umso triftiger, als „sacré“ sich bereits nur schwerlich ins Deutsche übersetzen lässt und beispielsweise „heilig“ ganz andere Konnotationen mit sich bringt.

Mit der Definition von Religion und der Anwendung dieses Begriffes auf unterschiedliche Zusammenhänge, die als Religion identifiziert und damit einem impliziten oder expliziten Vergleich unterzogen werden, gehen zwei Problematiken einher: einerseits die Frage, was denn die Kriterien für eine solche Definition sein sollten, andererseits die Skepsis darüber, ob eine kontextübergreifend anwendbare Definition überhaupt sinnvoll ist. In eine solche Bestimmung würden Merkmale des Herkunftskontextes westlicher Wissenschaft einfliessen, weshalb letztlich die über diese Bestimmung definierten Zusammenhänge über eine religiös geprägte Perspektive gesehen würden. So erteilt beispielsweise Talal Asad (1993a: 54) eine umfassende Absage an eine anthropologische Universalität anstrebende Definition von Religion, da eine solche Begrifflichkeit letztlich aus einer bestimmten Konfiguration von Wissen und Macht stamme. Grundsätzlich sei bereits die Vorstellung, dass Religion überhaupt ein eigenes Wesen habe und sich von anderen Bereichen der Gesellschaft unterscheide, Resultat eines christlich-aufklärerischen Diskurses (vgl. Asad 1993a: 54).

Einen Versuch, einen solchen Ethnozentrismus zu vermeiden, stellen funktionale Religionsdefinitionen dar. So hält Thomas Luckmann fest:

„Eine funktionale Definition der Religion umgeht sowohl die übliche ideologische Befangenheit wie die ‚ethnozentrische‘ Enge der substantiellen Religionsdefinitionen.“ (Luckmann 1991: 78)

An Stelle kulturspezifischer inhaltlicher Merkmale wird Religion über allgemeine Funktionen für die Aufrechterhaltung der Gesellschaft oder, im Fall von Luckmann, das Leben der Menschen definiert. Die Wertfreiheit einer solchen Zuschreibung scheint jedoch angesichts der weiter oben rekapitulierten Diskussion um den Funktionalismus höchst fragwürdig. Das, woraufhin Religion eine Funktion ausübt, muss spätestens seit Hempel (siehe Abschn. 2.4.2.4) als „Standard des Funktionierens“ festgelegt werden. Auch Robert Cummins als Gewährsmann neuerer funktionaler Argumentationen weist darauf hin, dass funktionale Zuschreibungen einer Relationierung zu einem „functional fact“ (Cummins 1975: 763) bedürften, der wiederum vom Wissenschaftler festzulegen ist. Beim als solchen „functional fact“ implizit angeführten „sinndurstigen“ Individuum der Sozialphänomenologie Luckmanns oder der integrationsbedürftigen Gesellschaft des Strukturfunktionalismus, auf die dann die Funktion von Religion hin bestimmt wird, handelt es sich zwar nicht um religiöse Konzepte. Sie sind aber genauso historisch besetzt wie Semantiken wie „Immanenz/Transzendenz“, „Heiliges“ oder „spiritual beings“. So lässt sich die Konzentration auf eine anthropologische, oder wie Bourdieu kritisiert: „psychologische Funktion“, sich mit diesem als Resultat einer urbanen bürgerlichen Perspektive sehen, in der das Individuum und der Sinn, den die Welt für ihn macht, überhaupt erst zum Problem und der Umgang damit „als zum Wesen jeglicher religiöser Erfahrung gehörig angesehen wird“ (Bourdieu 2000a: 70–71).

Eine funktionale Definition ist also keineswegs vor Ideologievorwürfen gefeit, und es überrascht, dass Luckmann sich Mitte der 60er Jahre dessen nicht bewusst war.Footnote 173 Das heisst, dass funktionale Religionsdefinitionen das Ethnozentrismusproblem in keinster Weise lösen.

2.7.2 Differenzierung

Das wissenschaftliche Definieren von Religion ist von einem sozialen Kontext beeinflusst und damit auch vom mit ‚Religion‘ bezeichneten Gegenstandsbereich selbst (vgl. die Diskussion darüber bei McCutcheon 2015: 122–123). Das, was als „Ethnozentrismus“ von Religionsdefinitionen bezeichnet wird, kann letztlich nicht umgangen werden. Roland Robertson stellt fest, dass angesichts des sozialwissenschaftlichen Vergleichsinteresses trotz solcher Bedenken versucht wird, quasi universal anwendbare Definitionen zu formulieren. Einen Weg des Umgangs dieser Spannung zwischen Ethnozentrismus und universalem Vergleichsinteresse sieht Robertson (1993: 13) bei Max Weber: Dieser verzichte auf das Ziel der Universalität und zwar dadurch, dass er einer der wenigen sei, der Nietzsches Mahnung, dass alles, was eine Geschichte habe, sich nicht definieren lasse, beherzigt habe. Dies soll für den folgenden Definitionsvorschlag insofern berücksichtigt werden, als die Geschichtlichkeit zum integralen Teil der Definition wird.

Wenn dementsprechend Religion als ein Gegenstand gesehen wird, der in der Geschichte entsteht, ist es für eine soziologische Perspektive naheliegend, sie als Produkt eines Vorganges der Differenzierung zu sehen. Durch ihn entstand innerhalb der Gesellschaft ein Bereich der Religion. Die entsprechende Unterscheidung spielt sich im Feld ein, führt zur Unterscheidung von Nicht-Religion. Der wissenschaftliche Religionsbegriff orientiert sich daran und versucht, Kriterien herauszuarbeiten, die im Feld für das Ziehen der Grenze entscheidend sind.

In einer Niklas Luhmann folgenden Perspektive ist diese Geschichte als Evolution zu verstehen, als zielloser, nicht determinierter und das heisst auch: nicht-prozesshafter Vorgang, in dem Kommunikation unerwartet ausfällt (Variation), die Möglichkeit besteht, dass auf diese Variation eingegangen wird (Selektion) und das wiederum zur dauerhaften Ausgangslage für die Reproduktion des Systems werden kann (Restabilisierung) (vgl. Luhmann 1998: 434–438). Wenn die Geschichte der Differenzierung von Religion rekonstruiert wird, erfolgt dies im Nachhinein von einem vorläufigen „Resultat“ her, das seinerseits bloss ein vorübergehender Zustand ist. Wichtig ist es, dabei nicht zu vergessen, dass dieser Zustand in keiner Weise vorgängig angelegt war, sondern bloss den vorläufigen Stand eines kontingenten Vorgangs darstellt, der auch anders hätte ablaufen können. Die Frage, wie es zu verstehen ist, dass es schliesslich zu dem kam, was heute als Religion bezeichnet wird, ist über die Betrachtung der Evolution der Kommunikation selbst zu beantworten und nicht mit Rückgriff auf ein telos oder den Zustand der Ausdifferenziertheit, von dem her gefragt wird.

2.7.2.1 Luhmann: Religion als Funktionssystem

Gemäss Luhmann (2000: 57) ist Religion so verfasst, dass sie sich selbst als Einheit beobachtet und bezeichnet. Das heisst, in der religiösen Kommunikation selbst wird bestimmt, was als religiös gilt und was nicht. Wie ist dies zu verstehen?Footnote 174 Die Semantik, die bei dieser Selbstbeobachtung zum Zuge kommt, übernimmt Luhmann in sein Religionsverständnis – er identifiziert Religion wie folgt:

„Religion erkennt sich selbst als Religion, wenn sie alles, was immanent erfahrbar ist, auf Transzendenz bezieht – wie immer dieses Gebot semantisch gelöst wird.“ (Luhmann 2000: 272)

Die Unterscheidung zwischen „transzendent“ und „immanent“ identifiziert Luhmann als Code des Religionssystems. Entscheidend ist dabei, dass das „Immanente“ über das „Transzendente“ gesehen wird, also beispielsweise die Welt (immanent) als Schöpfung Gottes (transzendent), eine Handlung als Sünde oder ein Gebäude als heilig. Immanenz stehe, so Luhmann (2000: 77) „für den positiven Wert, für den Wert, der Anschlussfähigkeit für psychische und kommunikative Operationen bereitstellt, und Transzendenz für den negativen Wert, von dem aus das, was geschieht, als kontingent gesehen werden kann.“ Freilich dürften sich dabei auch begriffliche Äquivalente für „transzendent“ bzw. „immanent“ finden. Das heisst, dass nicht genau diese Begriffe gefunden werden müssen, wenn nach Religion gesucht wird, sondern es ist mit ähnlichen Begriffspaaren zu rechnen, die in diese übersetzt werden können.

Religion differenziert sich wie andere Teilsysteme im Vorgang einer funktionalen Ausdifferenzierung aus, weshalb gemäss Luhmann auch eine bestimmte Funktion ein Spezifikum von Religion ist. Luhmann sieht sie im Bereitstellen von Möglichkeiten des Umgangs mit jeglichem Sinn (dem Ziehen der Grenze zwischen marked und unmarked) inhärenten blinden Fleck:

„Wie immer die Grenze zwischen marked und unmarked gezogen wird: als Religion kann uns nur eine Sinngebung gelten, die genau darin ihr Problem sieht.“ (Luhmann 2000: 53)

Im Folgenden soll jedoch zur Definition von Religion einzig auf den Code geschaut werden, dies aufgrund der eingehend diskutierten Problematiken der Funktionsfrage (siehe Abschn. 2.4) und der schwierigen Operationalisierbarkeit der von Luhmann identifizierten Funktion von Religion.

Drei Punkte, die im Zusammenhang mit der hier verwendeten Religionsdefinition missverständlich sein können, gilt es zu klären:

  1. 1.

    Wichtig ist, dass die entsprechende Unterscheidung nicht in jeder Kommunikationssequenz, die als religiös bezeichnet werden kann, zu finden ist. So kann beispielsweise rituelle Kommunikation ohne diesen Code auskommen, ist aber insofern als religiöse Kommunikation zu bezeichnen, als sie in anderer Kommunikation, z. B. im Rahmen von Theologie, beobachtet und beispielsweise als Kontakt zwischen Gott (transzendent) und den Menschen (immanent) gedeutet wird. So schreibt Luhmann:

    „In den unmittelbaren Operationen der Systeme erscheint der Hinweis auf Codewerte als entbehrlich. (\(\ldots \)) Die Bezugnahme auf Wahrheit ist kein Element der Forschungssprache, so wenig ein Künstler sich verstanden fühlt, wenn man ihm sagt, er habe etwas Schönes gemacht. Und auch eine Bezugnahme auf Codewerte der Religion spendet keinen Trost, gehört nicht in die Predigt, ist kein Argument der Bekehrung oder des Glaubens.“ (Luhmann 2000: 68)

    Die Codes sind in ihrer Explizitheit nur in der Selbstreflexion der Teilsysteme zu erwarten, das heisst im Fall der Wissenschaft in der Methodologie, bei der Kunst in der Kunsttheorie und im Fall von Religion in Theologien. Sind entsprechende Instanzen der Selbstbeobachtung nicht vorhanden, dürfte die Ausdifferenzierung des jeweiligen Systems wenig ausgeprägt sein.

  2. 2.

    Transzendent/immanent ist nicht äquivalent zu Durkheims Verständnis von heilig/profan. Zwar erwähnt Luhmann (1994: 240) die Möglichkeit, sakral/profan und transzendent/immanent parallel zu sehen. An anderer Stelle grenzt er sich aber explizit von Durkheim ab, der „nicht in der Unterscheidung [sakral/profan, Anm. RW] selbst die Form der Religion“ sehe, sondern „den Bereich des Sakralen nach spezifisch religiösen Formen“ (Luhmann 2000: 9) abfrage. Im Gegensatz dazu geht es für Luhmann bei „Transzendenz“ darum, „(\(\ldots \)), dass damit eine Unterscheidung für relevant gehalten wird und nicht etwa die Transzendenz als solche.“ (Luhmann 1994: 238; Hervorhebungen im Original).

  3. 3.

    Die Frage stellt sich, ob Luhmann mit der Übernahme der sich im Feld findenden Unterscheidung von Religion dem Diktum widerspricht, das sich beispielsweise bei J. Z. Smith findet, der betont: „‚Religion‘ is not a native term; it is a term created by scholars for their intellectual purposes and therefore is theirs to define.“ (Smith 1998: 281). Auch Luhmanns Religionsbegriff ist ein Produkt des Wissenschaftlers, das dem Ziel begrifflicher Abstraktion folgt, mit dem Ziel der Theoriebildung und des Vergleichs (vgl. Luhmann 1984: 16). Auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes wird mit der Differenz Religion/Nicht-Religion dagegen Strukturbildung angestrebt. Diese Strukturbildung und die damit verbundenen Codes werden vom Wissenschaftler wiederbeschrieben und in eine Eindeutigkeit überführt, die mit der Vielfalt der Semantiken und wohl auch immer wieder scheiternden Strukturbildungsbemühungen auf der Ebene des Untersuchungsgegenstandes kontrastiert. Beispielsweise ist nicht zu erwarten, dass das entsprechende System notwendigerweise mit dem Begriff „Religion“ bezeichnet wird, es reicht, wenn eine Grenze im Sinne des von Luhmann identifizierten Codes gezogen wird. Tatsächlich wird aber über dessen Berücksichtigung von Luhmann im Gegensatz zu Smiths Position im Zitat der Sinnhaftigkeit des Gegenstandes und damit seiner Historizität Rechnung getragen.

2.7.2.2 Die Ausbreitung einer Unterscheidung

Wird funktionale Differenzierung als Teil von Modernisierung und diese als ein von der Geschichte Europas und Nordamerikas geprägter Vorgang gesehen, ist eine sich daran orientierende Religionsdefinition entsprechend „ethnozentrisch“ und entscheidend von einer christlichen Perspektive beeinflusst. Dies wird hier bewusst in Kauf genommen. Die Frage ist, wie gross die Reichweite eines entsprechenden Verständnisses ist: Lässt es sich nur auf die westliche Moderne und das Christentum anwenden? Wie steht es mit historisch vor der Moderne gelagerten und mit geographisch ganz anders situierten Kontexten?

Zuerst soll der Export des Religionsbegriffes in vormoderne Zeiten kurz diskutiert werden: Luhmann (2000: 187–197) sieht die Ausdifferenzierung des Funktionssystems Religion als eine kontinuierliche Angelegenheit, die ihren Anfang in der Beschäftigung mit spezifischen Themen, der Entstehung spezifischer Situationen (wie z. B. Ritualen) und Rollen (Priester) hatte. Entsprechendes mag als Religion identifiziert werden, da es Elemente aufweist, die im funktional ausdifferenzierten Religionssystem bedeutsam sind. Die Gefahr dabei liegt jedoch in der Unterstellung einer modernen Verhältnissen entsprechenden Geschlossenheit: Auch wenn es einen entsprechenden Kult gab, darf nicht unterstellt werden, dass er sich so von seiner sozialen Umwelt unterschied und intern so strukturiert war, wie es für Religion in der Moderne zutrifft. Das heisst, als Religion kann ein entsprechender Zusammenhang angesichts beispielsweise semantischer Parallelen zu dem, was unter differenzierten Bedingungen als Religion gesehen wird, bezeichnet werden. Damit dürfen jedoch nicht der gesamte Modus der Ausdifferenzierung und die damit einhergehenden strukturellen Merkmale mitunterstellt werden. Gerade die differenzierungstheoretische Rekonstruktion muss einen, so Luhmann (1998: 249), „(\(\ldots \)) davor bewahren, zu viel heutigen Sinn über diese Bezeichnungen in Gesellschaften zurückzuprojizieren, deren Kommunikationsweise ganz anders als die unsrige geordnet war.“

Eine zweite Problematik liegt in der Identifikation früherer Verhältnisse als „Vorstufe“ zu den Verhältnissen, von denen her sie beobachtet werden. Diese Problematik findet sich auch bei anderen Teilsystemen, so schreibt Luhmann über die Wirtschaft:

„So gab es schon ein kompliziertes Kreditwesen und entsprechende Abrechnungsverfahren in Grosshaushalten, bevor Münzgeld eingeführt und als universales Tauschmittel institutionalisiert werden konnte – ein Prozess, der im 7./6. Jahrhundert vor Christus nur wenige Jahrzehnte benötigte, um die Wirtschaft als Geldwirtschaft auf eigene Grundlagen zu stellen. Das autopoietische System sieht dann die Vorgeschichte als eigene Geschichte – so als ob es immer schon Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Kunst usw. gegeben habe und nur Fortschritte zu verzeichnen seien.“ (Luhmann 2008: 318)

Aus der Perspektive des Teilsystems wird Vorangegangenes als Phase eines Prozesses, als Vorstufe der differenzierten Formen der Gegenwart identifiziert. Die wissenschaftliche Perspektive darf eine solche Deutung nicht mitvollziehen, da der Vorgang der Differenzierung als Evolution verstanden wird, in dem das Nachfolgende nicht im Vorangegangenen angelegt war und Letzteres damit nicht über Ersteres verstanden werden kann.

Hinsichtlich des Exports des Religionsbegriffs in moderne, aber nicht-westliche oder nicht-christliche Kontexte ist mit Luhmann zu betonen, dass Gesellschaft Weltgesellschaft ist und genauso sind die funktionalen Teilsysteme, zu denen Religion gehört, global zu verstehen. Die moderne Differenzierung Religion/Nicht-Religion mag von einem postreformatorischen Christentum ausgehen, hat sich jedoch weltweit ausgebreitet. Analog zu Luhmann sieht beispielsweise auch Roland Robertson Globalisierung als integralen Faktor der Entstehung von Kategorien wie derjenigen von Religion.

Als „Religion“ bezeichnete Bereiche der Gesellschaft seien zu einem globalen Faktor geworden. Gerade ihre Erfassung als historische Kategorie erlaubt dabei dem Wissenschaftler, unterschiedliche Verständnisse davon und die Wechselbeziehungen zwischen dieser Kategorie und anderen, mit der sie vermengt oder abgegrenzt wird, zu berücksichtigen (vgl. Robertson 1993: 16). Diese globalen Wechselwirkungen sind der Entstehung des Religionsbegriffes nicht bloss nachgelagert, sondern für sie geradezu konstitutiv. Richard King (2013: 152) betont, dass die Kategorie zwar durchaus westlich geprägt, in ihrer Formierung jedoch ohne Einflüsse der Auseinandersetzung mit nicht-westlichen Zusammenhängen und gerade des Kolonialismus nicht zu verstehen sei. Religion als Kategorie und genauso Religionswissenschaft als Disziplin dürfte beispielsweise von der Auseinandersetzung mit Indien und der entsprechenden Kategorisierungen dortiger Traditionen geprägt worden sein. Von Religion war dabei nicht nur unter Kolonialbehörden und Wissenschaftlern, sondern auch im Feld selbst die Rede, was zu neuen Grenzziehungen im Feld, aber auch zu einem neuen Religionsverständnis führte.

Eine differenzierungstheoretisch angeleitete Definitionsstrategie wie diejenige, die hier im Anschluss an Luhmann verfolgt wird, unterscheidet sich in grundlegender Weise von der Herangehensweise Durkheims: Dieser sucht gerade nach einem undifferenzierten, elementaren Zustand um Religion in universaler Weise zu definieren, während hier gerade nach Differenzierung gesucht wird, um Religion als historisch spezifisches Phänomen zu fassen.

2.7.3 Religion und Ritual

„Religion“ und „Ritual“ werden oft in enger Verbindung miteinander gesehen (vgl. Goody 1961: 148).Footnote 175 Die Art und Weise, wie die zwei Konzepte hier definiert werden, legt dies jedoch nicht nahe. Rituale wurden als ritualisierte Praxis über bestimmte formale Merkmale von Handlung oder Kommunikation gefasst, während Religion über bestimmte historisch ausdifferenzierte Semantiken erkannt wird. Rituale werden dabei als implizite Angelegenheiten gesehen, die gerade nicht von expliziten Semantiken begleitet sein müssen. Deshalb können sie in ihrer unmittelbaren Gegebenheit mit dem vorliegenden Religionsverständnis, das an der Selbstbeobachtung des Feldes ansetzt, gerade nur schwer als religös identifiziert werden.

Mit Verweis auf Frits Staal vermutet Russell McCutcheon (2015: 125) eine solche Implizitheit als generelles Merkmal der sozialen Vorgänge, die von Forschern als Religion bezeichnet werden. Wenn die soziale Welt als eine Welt der Praxis gesehen wird, ist dem durchaus zuzustimmen. Aus praxistheoretischer Perspektive spricht Bourdieu (1993: 126) von einem „praktischen Glauben“, es gehe nicht um einen „Gemütszustand“, sondern um einen Zustand des Leibes (siehe das Zitat im Abschn. 2.6.4.2). Eine solche Praxis der körperlichen Reproduktion basiert damit für Bourdieu nicht auf dem Erinnern eines verbalisierten Wissens:

„Der Leib glaubt, was er spielt: er weint, wenn er Traurigkeit mimt. Er stellt sich nicht vor, was er spielt, er ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus, die damit als solche aufgehoben wird, erlebt sie wieder.“ (Bourdieu 1993: 135; Hervorhebungen im Original)

Auch Russell McCutcheon betont, dass die wenigsten Leute während religiösem Handeln oder Erleben selbst eine entsprechende Kategorie anwenden würden: „in the seemingly authentic moment there is presumably little self-consciousness present or meaning-making taking place“ (McCutcheon 2015: 125). Entsprechend warnt er Frits Staal (1979) folgend vor der Unterstellung von zu viel Bedeutung. Rituale stehen damit in einem Kontrast zu den theologischen Selbstbeobachtungen, die mit einer verbalen Semantik einhergehen, die vom Wissenschaftler rekonstruiert werden kann. Entsprechend kann im Folgenden die einzelne rituelle Praxis im (zu erwartenden) Fall des Ausbleibens von in ihrem Vollzug erfolgenden, expliziten Semantiken nicht als religiös bezeichnet werden, ohne dass Bedeutungen unterstellt würden. Die Gefahr ist, dass der Wissenschaftler entsprechende Zuschreibungen und die Zuordnung zu Religion im Rahmen intellektualistischer Unterstellungen erzeugt. Entsprechende Unterstellungen durch den Forscher sind jedoch gar nicht nötig: Die ritualisierten Praktiken stehen ihrerseits in einem Kontext, in dem sie gedeutet werden. Dieser Kontext ist es, der auf religiöse Semantiken hin untersucht werden kann und damit das Kriterium für die Kategorisierung als religiös bietet.

Das, was in der Praxis stattfindet, darf jedoch, den Überlegungen im Abschnitt folgend, nicht als Realisierung der Konzeptionen gesehen werden, mittels derer sie als religiös identifiziert werden können. Entsprechend soll dem Vorschlag Talal Asads (1993a: 36) Folge geleistet werden und zwischen der religiösen Praxis und über diese Praxis sprechenden Diskursen unterschieden werden. Es sei, so Asad, eine moderne Vorstellung, zu glauben, dass ein religiös Handelnder nicht richtig religiös leben kann, ohne die religiösen Überzeugungen artikulieren zu können. Während Geertz implizite Praxis und explizite Deutungen im Rahmen seines Verständnisses von Religion als Symbolsystem als integriert betrachtet, sei es viel eher eine empirische Frage, wie ein expliziter Diskurs sich über eine Praxis anlegt und autoritative Deutungen durchsetzen und dabei etwas als „Religion“ klassifizieren könne (vgl. Asad 1993a: 37).

Die Autorität dieser Deutungen ist damit variabel: Den Versuchen im Feld, den Konzeptionen handlungsanleitenden Einfluss zu verleihen, ist nicht bereits im Voraus ein determinierender und auch kein bloss beschreibender Charakter zuzuschreiben. Mit Bourdieu (1993: 198–199) könnte sogar ideologiekritisch vermutet werden, dass über entsprechende Diskurse die „objektive Wahrheit“ hinter der Struktur der Praxis mittels Repräsentationen verschleiert wird und dem Sozialwissenschaftler die Aufgabe der Entschleierung zukommt.

An diesen Repräsentationen Religion als solche zu erkennen heisst noch nicht, sie als alleine bestimmenden oder überhaupt dominanten Faktor, in dem, was sie als Religion bezeichnen, zu sehen. Dies bestätigt wieder die eingangs dieses Abschnitts (siehe Abschn. 2.7) eingenommene Position, dass die Identifkation von Religion, die an den Semantiken erfolgt, noch wenig über die Faktoren aussagt, die das so Identifizierte bestimmen.

2.8 Interaktion und Gesellschaft

Im Abschn. 2.5 wurde festgehalten, dass die Frage nach „sozialer Ordnung“ allgemein in die Frage nach spezifischen Formen sozialer Ordnung konkretisiert werden müsse. Giddens’ Verständnis von Ordnung folgend (siehe Abschn. 2.5.2.2), lassen sich soziale Ordnungen entlang ihrer unterschiedlichen raum-zeitlichen Erstreckung unterscheiden. Auf dieser Ausgangslage lässt sich Durkheims Frage nach der Rolle religiöser Rituale für die Konstitution von Gesellschaft als Frage nach den Beziehungen verschiedener Ordnungen konzipieren, wobei auf der einen Seite die rituelle Interaktion steht, eine lokale, zeitlich begrenzte Angelegenheit, auf der anderen der grössere soziale Zusammenhang, auf den hin die Folgen der Rituale gedacht werden, der sich stärker über Raum und Zeit erstreckt.

Eine so gestellte Frage führt direkt zu einer in der Soziologie geführten theoretischen Grossdebatte, diejenige nach dem Zusammenhang zwischen Mikro- und Makroebene des Sozialen, die insbesondere in der amerikanischen Soziologie der 1980er Jahre geführt wurde. Wichtiger Auslöser dieser Diskussion dürfte die zunehmende Prominenz von Autoren und Ansätzen sein, die der Mikrosoziologie zugeordnet werden und aus dieser Perspektive die „Makrosoziologie“ herausforderten: Autoren aus dem Umfeld der Ethnomethodologie und des symbolischen Interaktionismus, aber auch Erving Goffman oder Randall Collins gewannen in den 1970er Jahren immer mehr an Bedeutung.Footnote 176 Damit einher ging die Frage des Stellenwerts ihrer Beiträge für die breitere soziologische Theoriebildung, die bis dahin eher durch Paradigmen wie dasjenige der Modernisierung angeleitet war, die sich auf übergreifende Ordnungen bezogen.

Soziologen wie Jonathan Turner sehen deshalb die Mikro-Makro-Diskussion als eine unumgängliche Problematik, die explizit zu behandeln sei: „Grand theory must resolve the micro-meso-macro linkage problem with more than metaphors and vague pronouncements. (\(\ldots \)) the goal is to develop abstract theoretical principles that explain not only the dynamics of each level but the relations among these levels.“ (Turner und Boyns 2006: 376). Von anderer Seite gibt es aber auch Zweifel an der Debatte, so bittet beispielsweise Stephan Fuchs (1997: 386) darum, die seiner Meinung nach fruchtlose Debatte in Frieden sterben zu lassen.

Auch wenn Fuchs, wie noch zu sehen sein wird, durchaus Recht haben mag, muss die hier gestellte Forschungsfrage nach dem Zusammenhang zwischen religiösen Ritualen und sozialer Ordnung in Bezug auf die Mikro-Makro-Diskussion gesetzt werden: Einerseits sind die verschiedenen zu identifizierenden sozialen Ordnungen, die sich nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Raum-Zeit-Ausdehnung unterscheiden, auf ihre Verortung innerhalb der Mikro-Makro-Unterscheidung hin zu befragen. Zweitens ist darüber hinaus Stellung zu der in der Mikro-Makro-Diskussion zumindest latent immer mitgeführten Frage zu beziehen, ob die Demarkation der verschiedenen Ebenen oder sozialen Ordnungen auf einer analytischen Unterscheidung beruht oder ob sie sich an im Untersuchungsgegenstand selbst vollzogenen Differenzierungen orientiert.

2.8.1 Mikro-Makro-Debatte

Die Mikro-Makro-Diskussion wird als Fortführung einer eher philosophischen Debatte um Individualismus gegenüber Kollektivismus bzw. der Debatte um methodologischen Individualismus gegenüber methodologischem Kollektivismus gesehen (vgl. Giesen 1997: 461, 1987: 337). Bedeutsam wurde sie in den 70er und 80er Jahren in der amerikanischen Soziologie, in der die Mikrosoziologie zunehmend ihren Status im Zentrum der Theoriebildung einforderte. Parallel dazu wurde der Status von „grand theory“ grundsätzlich hinterfragt, nachdem der Strukturfunktionalismus in den 1960er Jahren seine Vormachtsstellung definitiv verloren hatte und marxistische Theorien, die auf die Nachfolge aspirierten, ihrerseits kritisiert wurden.

In der Debatte kristallisierten sich zwei Positionen heraus, diejenige der „reduction“ und diejenige der „linkage“ (vgl. Alexander und Giesen 1987).

2.8.1.1 Reduction

Die Kritik an grossen Theorien nimmt von mikrosoziologischer Seite die Form einer Kritik an grossen Gegenständen an: Massgeblich ist dabei u. a. Randall Collins, der Mikrosoziologie als „the detailed analysis of what people do, say, and think in the actual flow of momentary experience“ (Collins 1981: 984) charakterisiert, Makrosoziologie dagegen als the analysis of large-scale and long-term social processes, often treated as self-subsistent entities such as ‚state,‘, ‚organization,‘, ‚class,‘, ‚economy,‘, ‚culture,‘ and ‚society.‘“ (Collins 1981: 984).Footnote 177 Diesen übergreifenden sozialen Strukturen komme nur in den Mikrophänomenen Realität zu. Da diese wiederum empirisch in aller Eindeutigkeit beobachtbar und fassbar seien, sei Mikrosoziologie der Königsweg der Soziologie; und so liegt der Schluss nahe:

„strictly speaking, there is no such thing as a ‚state,‘ an ‚economy,‘ a ‚culture,‘ a ‚social class.‘ There are only collections of individual people acting in particular kinds of microsituations – collections which are characterized thus by a kind of shorthand.“ (Collins 1981: 988)

In einer solchen Konzeption sind Makroangelegenheiten letztlich blosse Aggregate von Mikrovorgängen. Entsprechende Forderungen nach einer konsequenten Mikroübersetzung von Makrophänomenen stossen aber ihrerseits auf Kritik: Mikrophänomene seien nicht aus sich heraus verstehbar, auch könnten Makrozusammenhänge nicht als blosse Addierung von Mikrophänomenen verstanden werden:

„Social institutions are not explicable as aggregates of ‚microsituations‘, nor fully describable in terms that refer to such situations, if we mean by these circumstances co-presence. On the other hand, institutionalized patterns of behaviour are deeply implicated in even the most fleeting and limited of ‚microsituations‘.“ (Giddens 1986: 141)

Um seinen Gegenstand zu erfassen, müsse Collins deshalb, so vermutet Giddens (1986: 141), trotz dezidiertem Mikrofokus das Konzept einer Struktur im Kopf haben, die über die Aktivitäten der sozialen Handelnden hinausreicht, nicht aus Handlungen besteht, diese aber mitbestimmt. Doch statt sie über (aus radikal mikrosoziologischer Perspektive verdächtige) Begriffe zu thematisieren und zum Gegenstand machen zu können, würden entsprechende Vorstellungen einfach implizit mitgeführt. Auch Ritzer (1985) kritisiert in seiner dezidierten Kritik an Collins’ Plädoyer für Soziologie als Mikrosoziologie nicht die Möglichkeit und Relevanz einer Mikrosoziologie als solcher, sondern deren Anspruch darauf, selber zum übergreifenden Paradigma der Soziologie zu werden – wie er überhaupt der Idee eines solchen Paradigmas skeptisch gegenübersteht. Eine Soziologie, die sich nur auf die Interaktionsebene einlässt und angesichts des eigenen Programms auch ihr Datenmaterial ausschliesslich aus entsprechenden Beobachtungen beziehe, könne Institutionen, übergreifende soziale Strukturen, Sinnzuschreibungen usw. nicht in den Blick nehmen.

Collins (1988b: 252) vertritt in späteren Artikeln eine versöhnlichere Perspektive: Die Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroansätzen soll bloss als Ausgangspunkt dafür genutzt werden, nach einer Verbindung zu fragen, nicht nach separierten Theorien. Zudem würden Muster auf der Makroebene durchaus dabei helfen, Mikrophänomene zu verstehen.

2.8.1.2 Linkage

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre werden die Forderungen in der Mikro-Makro-Debatte insgesamt gemässigter, wie neben Collins’ Texten auch ein Sammelband von Jeffrey Alexander und Mitherausgebern zeigt (vgl. Alexander et al. 1987)Footnote 178. In parsonsianischer Argumentation betonte Alexander darin, Mikro-Makro seien bloss analytische Kontraste, „suggesting emergent levels within empirical units, not antagonistic empirical units themselves“ (Alexander 1987: 290) – und: „The terms ‚micro‘ and ‚macro‘ are completely relativistic. What is macro at one level will be micro at another.“ (Alexander 1987: 291). Eine solche Auffassung kann darauf verweisen, dass eine entsprechende Unterscheidung bei den soziologischen Klassikern noch keinerlei Thema war, sondern Folge einer bestimmten Konstellation in der Geschichte der Soziolologie ist (vgl. Fine 1991).

Die Verlagerung auf eine bloss analytische Unterscheidung scheint jedoch für ein ritualtheoretisches Interesse, das bei empirischen Phänomenen wie „Interaktionen“ und „Gemeinschaften“ beginnt und deren faktische Zusammenhänge analysieren will, wenig zielführend.

2.8.2 Ausdifferenzierung von Interaktion und Gesellschaft

Die im Alexander-Band im Beitrag Niklas Luhmanns vorgestellte Perspektive unterscheidet sich in grundsätzlicher Weise von der Auffassung Jeffrey Alexanders, gemäss welcher die eingeführten Differenzen von Mikro und Makro bloss analytische Unterscheidungen sind, die vom Forscher eingeführt werden. Auch wenn Gary Alan Fine schreibt „The world is seamless, although analyses are not.“ (Fine 1991: 162), steht dies in einem direkten Gegensatz zu einer Auffassung, dass die Welt sich in verschiedene Bereiche ausdifferenziert und sich der sozialwissenschaftliche Beobachter daran zu orientieren habe.

2.8.2.1 Luhmann: Evolution einer Differenz

Einen entsprechenden Ansatz liefert Luhmann: Aus seiner Perspektive ist eine Ebenenunterscheidung zu Gunsten des Blicks auf sich im Untersuchungsgegenstand einspielende Unterscheidungen aufzugeben. Bemerkenswerterweise findet sich ein Beitrag von ihm im erwähnten Band von Alexander (vgl. Luhmann 1987), doch die nur knappen Bezugnahmen auf seine Position in dem im Band enthaltenen Übersichtsartikel weisen darauf hin, dass die Herausgeber mit Luhmanns Verständnis wenig anfangen konnten, dies wohl nicht zuletzt aufgrund seiner Absage an eine bloss analytische Ebenenunterscheidung. Seine Position hinsichtlich der Unterscheidung von Interaktionssystemen und dem System der Gesellschaft ist ritualtheoretisch jedoch gerade deshalb interessant, da sie es erlaubt, Rituale als Interaktionen zu fassen und danach zu fragen, wie sie mit ganz anders konstituierten Systemen wie der Gesellschaft zusammenhängen. Luhmann definiert diese zwei Arten von Systemen wie folgt:

Interaktion

Interaktionen schliessen alles ein, was als anwesend behandelt werden kann, wobei in der Interaktion darüber entschieden wird, was als anwesend zu behandeln ist und was nicht (Luhmann 1984: 560). Das Zusammensein von Personen steuert im Rahmen von Interaktionen die Selektion der Wahrnehmungen und markiert damit auch Aussichten auf soziale Relevanz. Wahrnehmen und Sich-Wahrnehmen steht im Zentrum der Konstitution von Anwesenheit, wodurch die Körper der Beteiligten an Bedeutung für die Verteilung von Relevanzen und Kommunikationsereignissen gewinnen (Luhmann 1984: 562). Als im Rahmen der Kommunikation als anwesend gehandelte Personen geniessen „bevorzugte Beachtlichkeit“ (Luhmann 2005a [1975]: 11) – diese gegenseitige, beinahe unvermeidliche Beachtung führt zu einer geringen Negiermöglichkeit: Kommunikation, Handlung und persönliche Erscheinung werden durch ihre unmittelbare Präsenz beinahe unweigerlich Gegenstand weiterer Kommunikation. Die Flucht in die Abwesenheit ist, solange die Körper präsent sind, schwer möglich und müsste beispielsweise durch Ohnmacht hergestellt werden (vgl. Luhmann 1984: 563). Um die Unmittelbarkeit moderieren zu können, lässt sich aber Kommunikation gemäss Luhmann „modalisieren“, das heisst durch eine indirekte Ebene ergänzen, die die Betonungen und Interpretationen in bestimmbare Richtungen lenkt, z. B. zur Steuerung von Scherz und Ernst, Themenwechsel, Beendigung, Takt, Höflichkeit (siehe zum „Keying“ bei Goffman Abschn. 3.2.3.2). Diese Beispiele zeigen, dass trotz der Wichtigkeit der Wahrnehmung in Interaktionen interaktionsübergreifende Codes unabdingbar sind, das heisst, sie sind nur möglich, weil bereits vorher Kommunikation stattgefunden hat und auch nachher stattfinden wird. Das heisst, dass Interaktionen Teil eines übergreifenden Systems sind, nämlich der Gesellschaft: „Interaktionen sind Episoden des Gesellschaftsvollzugs.“ (Luhmann 1984: 553).

Gesellschaft

Gesellschaft ist für Luhmann „(\(\ldots \)) das umfassende Sozialsystem, das alles Soziale in sich einschliesst und infolgedessen keine soziale Umwelt kennt.“ (Luhmann 1984: 555). Luhmann führt mit dieser Konzeption trotz einiger Unterschiede (z. B. der Frage der „Offenheit“ von Systemen) das bereits bei Parsons (Parsons und Shils 1951: 196) anzutreffende Verständnis weiter, dass die Gesellschaft (society) dasjenige soziale System ist, das alle anderen sozialen Systeme enthält. Das heisst, dass Gesellschaft in Subsysteme differenziert ist: Sie enthält Interaktionen, Organisationen, Teilsysteme wie Politik usw.Footnote 179

Gesellschaft ist umfassend, Interaktion ist anwesend – keines der beiden Systeme kann auf das andere zurückgeführt werden (vgl. Luhmann 1984: 568). Interaktion bedingt die körperliche Kopräsenz der Teilnehmenden an der Kommunikation, während Gesellschaft die Kopräsenz all derjenigen, die an ihr „beteiligt“ sind, nicht herstellen kann oder herzustellen braucht.

Von einer Unabhängigkeit kann jedoch keine Rede sein. So hält die Gesellschaft einen Möglichkeitsreichtum bereit, der die beginnende Interaktion einschränken kann. Darauf zurückgreifend und sich davon differenzierend, nicht zuletzt durch Grenzziehung über Anwesenheit, gewinnt die Interaktion ihr eigenes Profil.

Differenzierung

Wie ist die Verschiedenheit von Interaktion und Gesellschaft mit Luhmann zu verstehen? Gemäss Luhmann ist diese Differenz ein Produkt gesellschaftlicher Evolution, also eines ziellosen und kontingenten geschichtlichen Vorgangs, im Verlaufe dessen sich die zwei Systeme zunehmend voneinander unterschieden.

Luhmann geht nicht davon aus, dass es je Gesellschaften gab, die in einem umfassenden Interaktionssystem aufgingen. Sogenannte „primitive Gesellschaften“ – hier liesse sich das Bild, das Durkheim von den Aborigines zeichnet, als Beispiel nehmen – seien jedoch interaktionsnäher als die moderne Gesellschaft. Die Differenzierungen, die sie prägen, z. B. die Aufteilung in Familien, Wohngemeinschaften und Siedlungen, sind, so Luhmann „Interaktionskonzentrate“, das heisst bauen auf der periodischen Nähe der Beteiligten in der Interaktion auf. Diese Nähe zeigt sich z. B. darin, dass Personen sich nicht stark von dem unterscheiden, wie sie den anderen aus anderen Interaktionen bekannt sind (Luhmann 1984: 567).

HistorischFootnote 180 lässt sich nun gemäss Luhmann zeigen, dass die Kluft zwischen den Interaktionssequenzen und der Komplexität des Gesellschaftssystems, die von der Interaktion weder erfasst noch beeinflusst oder kontrolliert werden kann, ansteigt. Differenzierungen in Einheiten werden relevant, die nicht mehr in Interaktionen hergestellt werden: Weder Schichten im Rahmen stratifikatorischer Differenzierung, noch die Funktionssysteme funktionaler Differenzierung konstituieren sich durch Versammlungen.Footnote 181 Gerade funktionale Differenzierung macht Gesellschaft unabhängiger von einzelnen Interaktionen (vgl. Luhmann 1987; ähnlich: Lockwood 1992b: 86). Schichtzugehörigkeit ergibt sich nicht einfach als Verknüpfung von Situationen, sondern beispielsweise durch Geburt und Aufwachsen in der jeweiligen Gesellschaftsschicht, und ein funktional differenziertes Teilsystem wie die Wissenschaft beinhaltet zwar auch Interaktionen wie Tagungen, die Produktion und Verbreitung wissenschaftlicher Wahrheiten, baut aber weit stärker auf schriftlicher Kommunikation auf als auf „encounters“. Im Wirtschaftssystem werden Preise nicht mehr am Marktstand, sondern vom Weltmarkt bestimmt, der nicht durch Interaktionen einzuholen ist. Funktionale Differenzierung stellt zudem Medien bereit, wie z. B. Schrift oder Geld, mit denen losgelöst von Interaktionen kommuniziert werden kann.

Das heisst nicht, dass Interaktionen verschwinden, sie werden nur unabhängiger von übergreifenden Vorgaben. Wenn der Weltmarkt die Preise fixiert, können die Gesprächsthemen am Marktstand umso freier gewählt oder wahlweise ganz unterlassen werden. Interaktionen sind auch weniger durch Verweise auf übergreifende Eigenschaften von Personen (z. B. Stammes- oder Schichtzugehörigkeit) hinsichtlich ihrer Teilnahmechancen eingeschränkt. Und wenn Beitrittsbedingungen zu Interaktionen formuliert werden, lassen sie sich situativ erfüllen (z. B. Krawatte im Restaurant).

Was mit dem Beispiel des Marktes erwähnt wurde, gilt gemäss Luhmann allgemein: Unter differenzierten Bedingungen besteht eine Kluft zwischen den Interaktionssequenzen und der Komplexität des Gesellschaftssystems, die von der Interaktion weder erfasst noch kontrolliert werden kann (vgl. Luhmann 1984: 579). Die Massenmedien und ihr interaktionsfreies Kommunizieren verstärken die Auseinanderentwicklung von Interaktion und Gesellschaft weiter. Die hohe Komplexität ist auf diese Differenz angewiesen (Luhmann 1984: 584), genauso wenig wie Kakaopreise beim Schokoladenkauf festgelegt werden können, lässt sich wissenschaftlicher Fortschritt auf Diskussionen an Tagungen zurückführen.

Trotz dieser Ausdifferenzierung bleibt Interaktion Teil der Gesellschaft: Erwartungsstrukturen (z. B. sprachliche Konventionen) können in der laufenden Interaktion nicht entwickelt werden (Luhmann 1984: 569), vielmehr wird in Interaktionen auf einen Bereich von Möglichkeiten und damit verbundenen Erwartungen zurückgegriffen, den die Gesellschaft bereithält. Dadurch, dass die Selektionen in der Interaktion selbst bestimmt werden, gewinnt diese aber ein eigenes Profil.

Die Differenzierung hat auch Konsequenzen für die Herstellung der Person: Luhmann verweist auf Durkheim, könnte aber Simmel miteinbeziehen, wenn er darauf hinweist, dass anhand der untereinander unverbundenen Einbindungen in Interaktionen Personen sich in ihrer persönlichen Identität erfahren (vgl. Luhmann 1984: 570). Dadurch, dass die von der Gesellschaft ausdifferenzierte Interaktion ihre eigenen Anschlüsse und Selektionen vornimmt, werde aus Bindung Freiheit.

Weitere Formen

Interaktion und Gesellschaft lassen sich an der ihnen zugrunde liegenden grundsätzlichen Verschiedenheit der Rolle von Kopräsenz gut auseinander halten, es handelt sich jedoch nicht um die einzigen Typen von sozialen Systemen. Gewissermassen dazwischen finden sich verschiedenste Formen von Systemen, die zwar nicht auf Kommunikation unter Anwesenden beruhen, aber doch interaktionsnäher konstituiert sind als die Gesellschaft als Ganzes.

Luhmann (2005a) beschäftigt sich ausführlich mit formal organisierten Sozialsystemen: In komplexen Gesellschaftsordnungen gewinne die Form der Organisation an Bedeutung. Dabei handle es sich um ein neues Prinzip der Grenzziehung und Selbstselektion, das sich nicht auf Gesellschaft oder Interaktion zurückführen lässt: Mitgliedschaft wird an Bedingungen geknüpft, die auch den Ein- und Austritt regeln. Durch die darüber verlaufende Koordination der Motivation der Mitglieder und der Systemziele sind „künstliche Verhaltensweisen relativ dauerhaft zu reproduzieren“ (Luhmann 2005a: 14), Motivlagen können über Mitgliedschaft generalisiert, das heisst situationsübergreifend relevant werden – für funktionale Teilsysteme sei dies unabdingbar: „Entscheidend ist jedoch, dass nur über den Organisationsmechanismus ein so hohes Mass an Motivgeneralisierung und Verhaltensspezifikation erreicht werden kann, wie es die moderne Gesellschaft in vielen ihrer wichtigsten Funktionsbereiche verfügt.“ (Luhmann 2005a: 14).

Wichtig ist, dass mit Luhmann in diesem Zwischenbereich nicht bloss ein Typus sozialer Ordnung angesiedelt ist. Neben Organisationen finden sich innerhalb der Gesellschaft und gewissermassen oberhalb der Interaktion auch Formen wie diejenige der Gemeinschaft. Sie deckt sich am ehesten mit dem, was Durkheim bei den Aborigines vorzufinden glaubte, und wird als typische Sozialform von Religion verhandelt (vgl. z. B. Wilson 1976: 262). Deshalb wird ihr hier neben Interaktion und Gesellschaft ein eigenes Kapitel gewidmet (siehe Kap. 4), in dem auch die Bestimmung und Charakterisierung dieser Sozialform Abschn. 4.1 eingehend diskutiert wird.

Anfragen

Die Anschlussfähigkeit und gleichzeitig die Spezifität von Luhmanns Konzept zeigt sich in einer Diskussion zwischen Anne Rawls und Stephan Fuchs: Im Anschluss an Goffman sieht Anne Rawls (1987: 138) „interaction order“ als Angelegenheit sui generis, die weder der Baustein ist, aus dem sich übergreifende Ordnungen zusammensetzt, noch die blosse situationale Reproduktion übergreifender Strukturen. Rawls kritisiert im Anschluss an Goffman die gegenseitigen Reduktionismen und spricht von verschiedenen Ordnungen, die selbständig aber nicht unabhängig sind. Sie stellt die interaction order nicht als Mikro dem Makro gegenüber, diese Begriffe verwendet sie gar nicht, sondern als Interaktion der Institution, so Rawls (1992) in einer Diskussion mit Mouzelis. Diese Interaktionsordnung unterliege nun ganz eigenen Regeln – das meint sie mit der wohl von Durkheim in der Soziologie prominent gemachten Rede von „sui generis“ – und lasse sich deshalb nicht aus übergreifenden Strukturen erklären. Fuchs (1988) bejaht dies aus einer Luhmannianischen Perspektive, versucht aber mit Luhmanns Systemtheorie klarere Referenzen für diese Ordnungen zu bestimmen, nämlich ganz im Sinne Luhmanns Interaktion, Organisation und Gesellschaft, wobei es in der Diskussion mit Rawls insbesondere um Interaktion geht.

Rawls wirft in ihrer Replik (1988) einem solchen Verständnis von Interaktion als gegenseitiger Wahrnehmung unter Bedingungen der Kopräsenz vor, es würde ein Kriterium anwenden, das vor jeglicher sozialen Geformtheit stehe, das dann die Systembildung (ein Begriff, mit dem sie wenig anfangen kann) bestimme: „For Luhmann, interaction is a place, a physical situation.“ (Rawls 1988: 126). Mit der Bedingung der Kopräsenz sei für Luhmann letztlich ein übergreifendes Konzept bestimmend für Interaktion und nicht die „constraints“, die die Interaktion selbst hervorbringe. Die Betonung von Wahrnehmung wiederum weise darauf hin, dass Luhmann – wie, darauf weist Rawls (1988: 128) hin, Giddens – präsoziale Faktoren für entscheidend halte, was soziologisch wenig sinnvoll sei. In der Charakterisierung ihrer eigenen Position betont Rawls (1988: 126), dass sie mit „interaction order“, eben nicht „encounters“, wie es beispielsweise Luhmann oder Giddens tun, meine.Footnote 182 Vielmehr sei erstere dadurch gekennzeichnet, dass darin das sozial gebildete „self“ und die diesbezügliche interaktive Erzeugung von „meaning“ zentral sei. Es gehe für eine Soziologie der Interaktion darum zu sehen, wie dieses soziale Selbst und die Bedeutungen in Situationen immer wieder neu erzeugt würden (vgl. Rawls 1988: 126). Die Art und Weise sei zu analysieren, wie Interaktionen über Erwartungen strukturiert seien. Diese Strukturierung erfolge nicht über die „organizational needs of systems“ sondern über die „human needs of the self“ (Rawls 1988: 126).

Auch wenn sich Rawls und Fuchs in ihrer Einschätzung der Mikro/Makro-Debatte und der im Gegenstand herausbildenden Selbständigkeit der verschiedenen Ebenen einig sind, finden sie sich in der Diskussion offensichtlich nicht: Tatsächlich kann Rawls ihre eigene Position nicht gänzlich deutlich machen, der Verweis auf „human needs of the self“ dürfte wenig zur Klärung der Eigenschaften spezifischer Interaktionen beitragen. Ihre kritischen Anfragen sind dagegen durchaus ernst zu nehmen:

Wichtig ist, dass physische Kopräsenz zwar eine Bedingung für Interaktion ist, aber bloss die Basis darstellt, auf der Interaktion stattfinden kann oder nicht – ob sie dies tut, ist der Kommunikation überlassen. Schliesslich geht es um Zuschreibung von Präsenz in der Interaktion, das heisst, dass physisch anwesende Personen auch nicht als präsent behandelt werden können, z. B. weil sie schlafen oder sich schlafend stellen. Das heisst, die Interaktionssituation wird durch die Kommunikation und damit sozial hergestellt und über diese soziale Erzeugung in ihrer Varianz, nicht über das Kriterium „Kopräsenz“, vom soziologischen Beobachter verstanden. Damit handelt es sich bei Fragen danach, wie Interaktion hergestellt wird, wie sie Möglichkeiten eröffnet, sich einschränkt und abgrenzt durchaus um eine soziologisch-empirische Frage.

Dagegen scheint Rawls’ Kriterium für Interaktionsordnung, die Bearbeitung des Selbst, höchst voraussetzungsreich zu sein: Das Konzept speist sich stark aus einer bestimmten Lesart von Goffman, der sich wiederum mit historisch sehr spezifischen Fällen auseinandersetzte, von denen aus eine Generalisierung nicht unproblematisch scheint. Im Gegensatz zu Luhmann, der die Differenzierung zwischen Interaktion und Gesellschaft historisch rekonstruiert und damit als sozial geschaffene Angelegenheit zu erfassen erlaubt, fehlt bei Rawls eine historische Rekonstruktion der Herausbildung von Interaktion als Ordnung sui generis. Das heisst, Luhmann scheint der Forderung von Rawls, die interaction order als „order generating setting“ zu verstehen, besser zu entsprechen als diese selbst, da er dieses Setting selbst als „generated“ erfasst. Und gerade für die Differenzierung gegenüber anderer gesellschaftlicher Kommunikation scheint die „Bearbeitung des Selbst“ ein wenig eindeutiges Kriterium.

2.8.2.2 Giddens: Wachsende Raum-Zeit-Distanzierung

Während Luhmann mit seiner Einschätzung hinsichtlich der Mikro-Makro-Unterscheidung auf den ersten Blick im Alexander-Sammelband isoliert scheint und sein Beitrag von den anderen, ansonsten gegenseitig aufeinander verweisenden Autoren des BandesFootnote 183 wenig rezipiert wird, befindet er sich mit seiner Position durchaus in guter Gesellschaft:

Ganz ähnlich wie Luhmann argumentiert Giddens, der seinerseits die herkömmliche Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroebene hinterfragt (vgl. z. B. Giddens 1993: 3). Mit seiner Fassung der Frage nach sozialer Ordnung ist die Unterscheidung von Interaktionssituationen und darüber hinausgehenden sozialen Verhältnissen auch für ihn keine bloss heuristische Angelegenheit, sondern eine Differenz, die sich im Untersuchungsgegenstand selbst präsentiert (siehe Abschn. 2.5.2.2).

Diese im Untersuchungsgegenstand selbst vollzogene Differenz geht nicht mit völliger Unabhängigkeit der Interaktion einher. So seien lokale Phänomene in übergreifende Beziehungen verwoben: „Relations with those who are physically absent, as I have said, involve social mechanisms distinct from what is involved in contexts of co-presence.“ (Giddens 1986: 37; vgl. auch Giddens 1993: 7).

Seine Unterscheidung zwischen dem Sozialen unter den Bedingungen der Kopräsenz und Formen des Sozialen, die darüber hinaus gehen,Footnote 184 schliesst an David Lockwoods Unterscheidung zwischen „social“ und „system integration“Footnote 185 an. Die Differenz ist nicht nur Resultat sozialer Vorgänge, als solche ist sie auch in ihrer Geschichte einem Wandel unterworfen und gestaltet sich in unterschiedlichen Gesellschaftsformen unterschiedlich – Giddens argumentiert im Grundsatz ähnlich wie Luhmann (vgl. Giddens 1986: 181–182). So sind tribale Gemeinschaften stark segmentär und gehen mit einer grossen Bedeutung der Kollokalität einher, soziale und strukturelle Integration sind dagegen stark fusioniert (Giddens 1986: 142 ff.).

2.8.3 Begriffe und Anschlüsse

Die Differenzierung der Gesellschaft und die Frage, wie Rituale nun diese Differenzen überbrücken können oder nicht, liegt im Kern der durkheimianischen Frage nach sozialer Ordnung in modernen Gesellschaften. Für die entsprechende Frage scheint Giddens’ und Luhmanns Berücksichtigung von An- bzw. Abwesenheit für die Identifikation von Interaktion hilfreich zu sein. Rawls (1988: 128) zählt dieses Kriterium zwar zu den „trivial features of particular physical contexts of copresence“, aber gerade für Durkheim, den Rawls in späteren Publikationen ausführlich zu Wort kommen lässt, ist die Herstellung von Anwesenheit keine triviale Angelegenheit: Gerade die Ritualisierung von Interaktion schafft zuverlässig und regelmässig Situationen der Kopräsenz, die nicht zuletzt aufgrund von spezifischen Qualitäten wie der körperlichen Anwesenheit zahlreicher Menschen zu Vorgängen führt, die ganz anders als der Alltag und der Ausgangspunkt für Vorstellungen des Heiligen sind.

Mit Luhmanns Unterscheidung zwischen Interaktion und Gesellschaft können klare Referenzen ausgesprochen werden, die gerade für die Ritualtheorie, die mit Durkheim von Kopräsenz ausgeht, aber mit der vorliegenden Untersuchung nach ihren Konsequenzen für den breiteren sozialen Zusammenhang fragt, nützlich sein dürften. Die Diskussion nach der Beziehung zwischen „Mikro“ und „Makro“ und damit einhergehenden wenig fruchtbaren Huhn-oder-Ei-Fragen können mit Luhmann vermieden werden. Die Differenzierung zwischen Interaktion und Gesellschaft ist eine historisch variable Angelegenheit, wobei Luhmann sie in einer Zunahme begriffen sieht. Differenzierung bedeutet dabei aber nicht Unabhängigkeit. Auch kollokale Interaktionen sind in einen sie strukturierenden Kontext eingebettet. Sie können damit weder als unabhängig und noch als grundlegender als anderweitige Systembildungen im Medium der Kommunikation gesehen werden.

Weder ist Gesellschaft als die blosse Akkumulation von Interaktionen zu verstehen noch Interaktionen durch die sie umgebende Gesellschaft determiniert. Gerade für eine praxistheoretische Position ist es wichtig, eine Praxis wie die Interaktion nicht als blossen Vollzug übergreifender Strukturen zu sehen, jedoch auch nicht als immer wieder spontane und von situationsübergreifenden Strukturen losgelöste Angelegenheit. Mit Giddens und Luhmann lassen sich Interaktionen als eigene soziale Systeme thematisieren, die mit einer eigenen Dynamik aufwarten, ohne dass damit von ihrer Unabhängigkeit oder Folgenlosigkeit ausgegangen werden müsste.

Die Differenzierung zwischen Interaktion und Gesellschaft, ergänzt durch die Sozialform der Gemeinschaft, strukturiert die nächsten drei Kapitel dieser Untersuchung.