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Theoretische und methodologische Grundannahmen des Diskursiven Interviews

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Part of the book series: Qualitative Sozialforschung ((QUALSOZFO))

Zusammenfassung

Bevor in den Kap. 3 und 4 das konkrete Vorgehen bei der Datenerhebung und bei der Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster dargelegt wird, befasst sich dieses zweite Kapitel zunächst mit den methodologischen Überlegungen, die dem Diskursiven Interview zugrunde liegen. Diese sollen vor allem verdeutlichen, wie das Diskursive Interview die begrifflich-konzeptionellen Klärungen des ersten Kapitels und die sich daraus ergebenden Anforderungen an eine Deutungsmusteranalyse umzusetzen versucht.

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Notes

  1. 1.

    Hier ist weder der geeignete Ort noch der nötige Raum, um genauer darauf einzugehen, was alles als Wissenssoziologie oder wissenssoziologisch bezeichnet wird. Hierzu kann nur auf entsprechende Einführungen verwiesen werden (insb. Berger und Luckmann 1990; Knoblauch 2005). Aus den nachstehenden Ausführungen sollte aber deutlich werden, dass die wissenssoziologische Tradition in der Nachfolge von Schütz, Mannheim sowie Berger und Luckmann gemeint ist und dass diese Wissenssoziologie deutliche Parallelen im Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie aufweist (vgl. a. Keller 2012).

  2. 2.

    Das ist nicht im Sinne der sozialen Häufung oder Verteilung von Deutungsmustern zu verstehen. Auch soll nicht behauptet werden, Einzelfallanalysen ließen keine Rückschlüsse auf latente oder generative Strukturen zu. Eine Rekonstruktion des spezifisch sozialen Charakters dieser Sinnstrukturen erfordert jedoch eine Kontrastierung (vgl. hierzu ausführlich: Abschn. 4.2.1).

  3. 3.

    Dies gilt selbst für die methodologisch anspruchvollste Interviewform, das Narrative Interview (Schütze 1976a, b, 1977, 1983). So kritisiert Mey (2000, S. 142), das Narrative Interview bzw. Schütze vernachlässige „situative Aspekte weitgehend, da er davon ausgeht, daß sich die Dynamik des Erzählvorgangs gegenüber den Bedingungen der aktuellen Kommunikationssituation (also dem Interview) durchsetzt“.

  4. 4.

    Die ethnomethodologische Konversationsanalyse befasst sich mit den sozialen Konstruktionsleistungen in und von Gesprächen (also u. a. auch Interviews). Sie interessiert sich dafür, wie soziale Ordnung in Interaktionsprozessen hergestellt wird und analysiert daher überwiegend solche sehr basalen Prozesse und Mechanismen (wie die Organisation des Sprecherwechsels oder sog. Reparaturhandlungen). Dagegen interessiert sie sich nicht für die konkreten Inhalte (und Sinngehalte) der untersuchten Konversationen (vgl. u. a. Ten Have 2007). Konsequenterweise beschäftigen sich Konversationsanalytiker/innen daher mit Interviews und Gruppendiskussionen, wenn überhaupt, nur als eine spezifische Art der Kommunikation (vgl. u. a. Baker 2002; Wolff und Puchta 2007). Anders formuliert: Sie fragen danach, wie Interviews und wie Bedeutungen in Interviews (aber nicht welche) interaktiv hergestellt werden.

  5. 5.

    Auf andere Formen durchaus auch radikaler, aber nicht epistemologischer Kritik an (qualitativen) Interviews – hervorzuheben sind hier insbesondere die feministische Kritik (u. a. Oakley 1981) sowie unterschiedliche Varianten forschungsethischer Kritik (vgl. u. a. Ten Have 2004, S. 72 ff.) – kann hier nicht eingegangen werden.

  6. 6.

    „The radical critique of interviews as a means of collecting data about external reality (…) is seen by its proponents as the logical outcome of the understanding that interviews are essentially contextually situated social interactions“ (Murphy et al. 1998, S. 120).

  7. 7.

    Besonders elaboriert ist hier sicher das Narrative Interview (Schütze 1976a, b), das sich auf erzähltheoretische Annahmen stützt.

  8. 8.

    Dass (Interview)Äußerungen nicht nur reaktiv, sondern zugleich auch oder sogar nur intentional (oder pro-aktiv) sein können, gehört m. E. zu den in der konventionellen Interviewforschung am stärksten unterschätzten Aspekten. Denn auch wenn eine Antwort im Interview zunächst reaktiv ist, schließt dies nicht aus, dass Befragte mit ihren Antworten auch „agieren“ und z. B. gezielt Themen setzen (vgl. a. Holstein und Gubrium 1995). Ten Have (2004, S. 66 ff.) zeigt darüber hinaus anhand exemplarischer Analysen, dass auch Interviewfragen nicht nur prospektiv auf mögliche Antworten ausgerichtet sind, sondern auch immer einen „Vergangenheitsbezug“ zu vorangehenden Gesprächselementen haben.

  9. 9.

    Man kann, ganz im Gegensatz zur radikalen Interviewkritik, in der spezifischen Reaktivität von Interviews sogar einen Vorteil sehen. Denn diese Form von Reaktivität kann – anders als die Reaktivität sog. „natürlicher“ verbaler Daten – im Forschungsprozess genau beobachtet und in Teilen wohl auch kontrolliert werden.

  10. 10.

    Um dies – eigentlich eine soziologische Trivialität – einmal deutlich zu betonen: Singuläre Interaktionssituationen (also auch ein Interview) sind für die Genese sozialen Sinns (Bedeutungskonstruktion) weder hinreichend noch notwendig. Sie sind nicht hinreichend, weil Bedeutungen in Interaktionen ausnahmslos unter Bezug auf (unterstelltes) gemeinsames Wissen „generiert“ werden (und das heißt fast immer: verändert, aber nicht völlig neu erschaffen werden) und weil Bedeutungen immer durch eine Vielzahl von Interaktionen erprobt, validiert und tradiert werden (müssen), um als sozialer Sinn wirkmächtig werden zu können. Andererseits sind Bedeutungen nicht notwendig auf konkrete Interaktionen angewiesen, denn (etwa im Sozialisationsprozess erworbene) soziale Deutungsmuster und andere Wissensbestände können in singulären Interaktionen auch nur einfach aktiviert werden, ohne dass sie dadurch in mehr als nur inkrementeller Weise modifiziert würden.

  11. 11.

    Die Entschiedenheit, mit der dies gefordert wird, ist irritierend (und vielleicht auf sich unabhängig voneinander entwickelnde methodologische Diskurse zurückzuführen): Schließlich gehört die Auffassung, dass Interviews Interaktionen sind und dass Aussagen in (Forschungs)Interviews daher nicht losgelöst von der Interviewinteraktion und dem gesamten Erhebungskontext verstanden werden können, „seit jeher“ zu den zentralen Einsichten der qualitativen Interviewmethodologie (vgl. klassisch: Kohli 1978), ohne dass hierzu erst eine „postmoderne“ Methodenkritik erforderlich gewesen wäre.

  12. 12.

    Mit den Gruppendiskussionen gibt es allerdings eine Erhebungsmethode, die zur Gewinnung verbaler Daten explizit Interaktionsdynamiken nutzt und sich gerade auch dadurch von Interviews unterscheidet. Insbesondere Gruppendiskussionen in der Tradition Mangolds (1973) und Bohnsacks (1991; Bohnsack et al. 2007) sind Versuche, in gezielt arrangierten Erhebungskontexten Interaktionsdynamiken sich entfalten zu lassen, die Zugänge zu sonst nicht erreichbaren sozialen Wirklichkeitsbereichen ermöglichen sollen. Angestrebt wird dabei eine möglichst „selbstläufige“ Gruppendiskussion, die mit nur wenigen Moderationseingriffen auskommt. Die interaktive Situation wird hier also indirekt (passiv) genutzt, indem auf Interaktions- und Kommunikationsmechanismen vertraut wird, die eine möglichst moderationsunabhängige Textproduktion gewährleisten. Dadurch unterscheidet sich diese Form einer Nutzung interaktiver Mechanismen grundlegend von der „aktiven“ in Interviews.

  13. 13.

    Mit gewissem Recht kann man behaupten, dass Akteure in letzter Konsequenz auch nur das subjektiv meinen, denken und empfinden können, für das sie über deutende Begriffe verfügen. Ob aber etwa Emotionen tatsächlich nur „sprachlich“ existieren (können), ist eine weit in Setzungen oder Annahmen über die conditio humana hineinreichende Frage und kann hier natürlich nicht entschieden werden. Wichtig ist für die hier vertretene Position aber, dass Emotionen und Deutungen nur insoweit kommuniziert werden und soziale Relevanz erlangen können, wie sie sprachlich verfasst (ergo: sozial) sind.

  14. 14.

    Aufschlussreich können hier auch Vergleiche klassischer Face to Face-Interviews mit (qualitativen) schriftlichen Befragungen (Schiek 2014), Online-Interviews (Früh 2000; Jones 2004) und anderen „kontextarmen“ Erhebungssituationen sein (vgl. Schiek und Ullrich 2016).

  15. 15.

    Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf für qualitative Forschungsinterviews zentrale Bereiche. Daneben bestehen diverse andere disziplinäre Zugänge und Interessen an „Fragen“, die für die Wirkung von Fragen in Forschungsinterviews bedeutsam sein können. Hierzu zählen u. a. journalistische Interviews (z. B. Haller 2001), therapeutische und Beratungsgespräche (z. B. Rogers 1993; Wolff 1986), Gerichtsverfahren und Verhörtechniken, Kommunikationstheorien und -modelle (u. a. Bühler 1999), die Logik von Fragen (z. B. Belnap und Steel 1976; Ladanyi 1965) sowie die „Ethnographie der Kommunikation“ (z. B. Goody 1978; Hymes 1974). Zum Unterschied zwischen (sozialwissenschaftlichen) Forschungsinterviews und anderen Formen von Befragungen aus Sicht der Surveyforschung vgl. a. Meulemann (1993).

  16. 16.

    Wie in Abschn. 2.2 gesehen, speist sich hieraus der Generalverdacht der radikalen Interviewkritik, dass Interviewaussagen ausschließlich Produkte der Interviewsituation sind und keinen darüber hinausgehenden Realitätsgehalt haben.

  17. 17.

    Diese Bezeichnung geht m. W. auf Hindelang (1994, S. 58 ff.) zurück, der Fragen damit von anderen Sprechaufforderungen (z. B. Befehlen) unterscheidet.

  18. 18.

    Unbestritten ist, dass auch andere (formale) Fragen und Sprechaufforderungen sowie die weitere Interviewsituation ein wichtiger Teil der gesamten Interviewinteraktion sind. Dies gilt insbesondere für Fragen zur Organisation der unmittelbaren Gesprächsführung (u. a. Motivierung der Befragten, Filterung, Reparaturen). Diese Gesprächstechniken sind insbesondere in konversationsanalytischen und linguistischen Untersuchungen bereits relativ intensiv untersucht worden. Sie sollten klar von den „informationsgenerierenden“ Fragen unterschieden werden.

  19. 19.

    Damit fällt die jüngere methodologische Diskussion zumindest in diesem Punkt hinter den bereits Mitte der 1980er Jahre erreichten Stand (vgl. insb. Briggs 1986; Mishler 1986) zurück. Insbesondere Briggs (1986) hatte sich in seinen linguistisch geprägten Überlegungen zu qualitativen Interviews mit den kommunikativen Voraussetzungen und Problemen des Interviewens befasst. So untersuchte er u. a. die Bedeutung von Rollenerwartungen im Interview, von (Frage)Kontexten, von kulturellen Unterschieden bei Kommunikationsnormen sowie der Indexikalität sprachlicher Äußerungen für die Interviewkommunikation.

  20. 20.

    Ich halte mich hier an die seit der deutschen Teilveröffentlichung (1979) etablierten Übersetzungen. Wie irreführend diese in ihren Konnotationen sein können, ist leicht zu ersehen.

  21. 21.

    Leider ist die Studie von Richardson et al. (1965) nicht dokumentiert. Daher wissen wir nicht, wie „Verfälschungen“ von Antworten festgestellt wurden.

  22. 22.

    Länger und intensiver als die qualitative Interviewmethodologie hat sich die Surveyforschung mit der Wirkung von Fragen (und der gesamten Befragungssituation) auf das Antwortverhalten befasst. Im Mittelpunkt stehen dabei Aspekte wie die Fragenanordnung, Frage- und Antwortformen, soziale Erwünschtheit, Akquieszenz und Nonresponse (vgl. u. a. Diekmann 1999, S. 371 ff.; Meulemann 1993). Welchen Antworttyp man durch welche Art von Fragen erzeugt, liegt jedoch außerhalb des Interesses von Untersuchungen aus dem Bereich der Surveyforschung. Dies gilt auch für interaktionistische und konversationsanalytische Analysen standardisierter Befragungen (Fink 1995; Foddy 1993; Houtkoop-Steenstra 2000; Maynard et al. 2002). In erster Linie kann dies darauf zurückgeführt werden, dass in standardisierten Befragungen keine Textsorten erzeugt werden und dass durch die Geschlossenheit und Standardisierung der Antworten bereits bei der Fragebogenkonstruktion entschieden wird, welche Art von Antwort und welche inhaltlichen Antworten überhaupt möglich sind.

  23. 23.

    Dieses geringe Interesse an der Wirkung von Fragen mag auf die Vorstellung zurückzuführen sein, dass mögliche Probleme bereits durch einfache Sensibilisierung (anhand von „Not to do“-Listen) und durch Schulung der Interviewer/innen zu bewältigen seien. Auch dass die Zugehörigkeit zum gleichen Kulturkreis wie die Befragten, allgemeine soziale Kompetenzen oder auch nur ein sozialwissenschaftliches Studium bereits hinreichend für die Durchführung qualitativer Interviews qualifizieren, scheinen nach wie vor verbreitete Vorstellungen zu sein (vgl. Hopf 2002, S. 357 ff.).

  24. 24.

    Dagegen können Handlungen und körperliche Reaktionen (insb. Mimik und Gestik) wichtige Kontextinformationen sprachlicher Antworten sein und sollten, soweit dokumentiert, entsprechend berücksichtigt werden.

  25. 25.

    „Textsorte“ ist allerdings ein ebenso häufiges wie unterschiedlich definiertes Merkmal zur Beschreibung von Texten und daher alles andere als eindeutig (vgl. u. a. Adamzik 1995, 2008; Heinemann 2000, Heinemann und Heinemann 2002; Isenberg 1978). Erschwerend kommt hinzu, dass ähnliche Textmerkmale oft mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet werden (z. B. als Texttyp oder Textmuster). Wenn der Begriff „Antwort- oder Textsorte“ für die hier interessierenden Merkmale von Befragtenantworten verwendet und ihm damit eine eher spezifische Bedeutung gegeben wird, so geschieht dies vor allem deshalb, weil mit dieser Begriffsverwendung an eine verbreitete Praxis im Bereich der qualitativen Sozialforschung angeknüpft werden kann. So ist die Analyse von Textsorten vor allem aus der Narrationsanalyse (Kallmeyer und Schütze 1977; Schütze 1976a, 1987) und daran angelehnter Verfahren (z. B. Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997) bekannt.

  26. 26.

    Die in Tab. 2.3 vorgenommenen Unterscheidungen sind nur eine Zusammenstellung bestehender Beschreibungen und sind sicher weder vollständig noch widerspruchsfrei. Die Bestimmung von Textsorten muss als offener Prozess gelten. Dass die hier beschriebenen Textsorten tatsächlich zu finden sind, ist aber zumindest wahrscheinlich und für einige Textsorten bereits wiederholt nachgewiesen worden.

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Ullrich, C.G. (2020). Theoretische und methodologische Grundannahmen des Diskursiven Interviews. In: Das Diskursive Interview. Qualitative Sozialforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27573-0_2

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