Zusammenfassung
Der Beitrag widmet sich der Frage, welche Rolle Ausstiegsmöglichkeiten für die Bedingungen gelungener Lebensführung spielen: Gehört die Möglichkeit zu Ablehnung und Ausstieg zu den Bestandteilen oder gar auf den sich auch der Ausstieg aus Gruppen zurückführen lässt. Verzicht auf Partizipation umfasst dabei sowohl den Ausstieg aus Praktiken, an denen man bereits teilnimmt – also Exit im engeren Sinne, als auch die Verweigerung des Einstieges in Praktiken, an denen Teilnahme erwartet wird oder nur möglich ist. Es ist also eine umfassendere Kategorie als Exit. Im Beitrag wird gezeigt, warum die Möglichkeit des Verzichts auf die Teilnahme an konkreten sozialen Praktiken eine Bedingung des guten Lebens in einer Gesellschaft und gleichzeitig für diese Gesellschaft als Ganzes vorteilhaft ist.
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Diese Kritiklinie macht zwar meines Erachtens zu starke Voraussetzungen, nämlich, dass jeder Perfektionismus problematisch sei. Es ist dagegen durchaus denkbar, dass sich Bestandteile eines guten Lebens identifizieren lassen, die unabhängig von den Präferenzen des Individuums zu den Bedingungen eines guten Lebens gehören. Meines Erachtens hat gerade der Befähigungsansatz in dieser Hinsicht viel geleistet, obwohl dessen Hauptautorin, Martha Nussbaum, sich explizit gegen den Perfektionismus wendet (vgl. Nussbaum 2011).
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Die von Rawls thematisierte Gemeinschaft von Gemeinschaften ist mehr als die Summe zufälliger oder von den Gemeinschaften gewählter, freiwilliger Kontakte selbstgewählter Gemeinschaften. Vielmehr sind diese Gemeinschaften durch das Band gemeinsamer Grundprinzipien aneinander gebunden. Diese Grundprinzipien und deren Bindung machen den Staat aus. Der Gedanke, dass es ausschließlich solche frei gewählten Gemeinschaften gebe und der Kontakt zwischen diesen wiederum von den Gemeinschaften frei gewählt sei, wird von Rawls nicht entwickelt. Er findet sich in alternativen Konzeptionen wie dem sogenannten Panarchismus oder den sogenannten Functional, Overlapping and Competing Jurisdictions von Eichenberger und Frey ausgeführt (Eichenberger und Frey 2006).
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Doyal und Gough sind sich der autonomiezersetzenden Wirkung mancher Partizipation durchaus bewusst: „Successful participation may entail accepting the unacceptable: performing roles which undermine critical autonomy even as they facilitate participation in a particular culture.“ (Doyal und Gough 1991, S. 189)
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Entgegen Nozicks These, dies sei nur in minimalen, sogenannten Nachtwächterstaaten möglich, können auch stärkere Staaten die Möglichkeit der Ablehnung in ihre Grundstruktur einbauen.
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Interessanterweise bemüht er Wilhelm von Humboldt als Vorläufer dieser Idee. Bei diesem findet sich tatsächlich der Gedanke, dass Gesellschaften sich durch Vielfalt der Lebensentwürfe und deren Bewährung im Zusammenleben entwickelten: „Daher müsste, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat treten, und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation mit Gewissheit hoffen, und nur bei einem solchen schädlichen Einfluss der bürgerlichen Einrichtung auf den Menschen nicht besorgen.“ (Von Humboldt 1851, S. 93) Humboldt bemüht sogar die Idee eines Kampfes um Bewährung in Bezug auf soziale Phänomene.
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Unter der Metapher des Experiments führen zahlreiche Autoren, u. a. Nozick, den Entwicklungsgedanken weiter (Nozick 1974, S. 307 ff.). Nur durch Experimente alternativer Lebensweisen sei es möglich, deren Wert – individuell wie kollektiv – zu ermessen.
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Die Vorlage für die hier präsentierte Überlegung, auch das sei nicht verschwiegen, findet sich in Mills Gedanken zur theoretischen Rechtfertigung von Überzeugungen: „There is the greatest difference between presuming an opinion to be true, because, with every opportunity for contesting it, it has not been refuted, and assuming its truth for the purpose of not permitting its refutation. Complete liberty of contradicting and disproving our opinion, is the very condition which justifies us in assuming its truth for purposes of action; and on no other terms can a being with human faculties have any rational assurance of being right.“ (Mill, On Liberty, S. 35) Umformuliert für den aktuellen Fall: Es gibt einen immensen Unterschied auch darin, die sozialen Praktiken der Gemeinschaft für gerechtfertigt zu halten, weil sie sich in der Konfrontation mit anderen Handlungsweisen als stabil erwiesen haben, oder sie für gerechtfertigt zu halten, um Abweichungen davon zu sanktionieren. Die Freiheit, sich den sozialen Praktiken einer Gemeinschaft zu entziehen, ist die Bedingung dafür, diese Praktiken für gerechtfertigt und für das Zusammenleben geeignet zu halten.
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Sunstein diskutiert überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, juristische und wissenschaftliche Praktiken.
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Heinrichs, JH. (2019). Das gute Leben von Humes Seemann. In: Dietz, S., Foth, H., Wiertz, S. (eds) Die Freiheit zu gehen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26668-4_5
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