Zusammenfassung
Der Beitrag entwickelt den Begriff des sozialen Gedächtnisses das soziales Vermögen, Vergangenes gegenwärtig zu halten beziehungsweise verfügbar zu machen. Die Erinnerung und das Vergessen hängen nicht nur vom Vergangenen ab, aus dessen verarbeiteten Überresten ein Bild davon rekonstruiert wird, sondern auch von den sozialen Bedingungen, in denen dieses Bild in der fortlaufenden Gegenwart erinnert wird. Soziale Gedächtnisse in diesem Sinne sind ein Schlüssel für das Verständnis von Stabilität und Dynamik von Gesellschaften, und der Begriff ist deswegen ein Grundbegriff der Soziologie.
Das Konzept sozialer Gedächtnisse wird in einem ersten Schritt aus den sozialwissenschaftlichen Traditionslinien heraus entwickelt und in einem zweiten Schritt anhand der Übereinstimmungen mit und Abgrenzungen von zurzeit gängigen Gedächtnisbegriffen systematisch konturiert. Daran anschließend arbeiten wir in einem dritten Schritt einige Leitlinien einer sozialwissenschaftlichen Gedächtnisforschung heraus.
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Notes
- 1.
Das grundlegende und grundsätzliche Problem jeder Spielart von Konstruktivismus kann und soll hier nicht diskutiert werden. Wir halten grundsätzlich an der Kantschen Auffassung fest, dass wir einerseits keinen direkten Zugang zu den beziehungsweise Zugriff auf die ‚wirklichen‘ Korrelate unserer Bewusstseinsleistungen haben, andererseits aber annehmen müssen, dass die Beziehung zwischen Korrelat und Bewusstseinsleistung keine willkürliche, sondern eine im pragmatischen Umgang gesicherte ist. Diese Position schließt einen radikalen Konstruktivismus aus.
- 2.
Deshalb stehen bei einer Untersuchung der Formierung sozialer Gedächtnisse psychologische oder neurobiologische Prozesse nicht im Zentrum. Zwar gilt es beiderseits Anschlussmöglichkeiten offenzuhalten (vgl. dafür beispielhaft Welzer 2008), aber soziale Gedächtnisse bleiben doch autologische Prozesse (vgl. Srubar 1994).
- 3.
Um diese Diskrepanz aufzufangen, hat Aleida Assmann weitere Differenzierungen eingeführt, etwa das Generationengedächtnis und das kollektive Gedächtnis (vgl. Assmann 2002, 2003). Bezüge bestehen dabei zu den zeitlich begrenzten Erlebnis- und Erfahrungsgemeinschaften der Generationen von Karl Mannheim (1928). Dabei bleiben die Abgrenzungen allerdings unscharf: Das kollektive Gedächtnis, als „politisches Gedächtnis“ verstanden, stellt „eine gemeinsame Erfahrung und einen gemeinsamen Willen auf Dauer, während das kulturelle Gedächtnis den Bürgern einer Gesellschaft dazu [dient], in langfristiger historischer Perspektive überlebenszeitlich zu kommunizieren“. Entsprechend haben „Bild und Schrift für das kollektive Gedächtnis vorwiegend einen Signalwert und [dienen] als Merkzeichen oder Appelle für ein gemeinsam verkörpertes Gedächtnis, während sich das kulturelle Gedächtnis auf einen komplexen Überlieferungsbestand heterogener symbolischer Formen stützt“ (Assmann 2002, S. 189).
- 4.
„Speziell gesellschaftliche Formen von Gedächtnissen können nur dann ausgebildet werden, wenn Kommunikationstechnologien – Schrift, Buchdruck und schließlich, als letzte Errungenschaften, elektrische und elektronische Medien – zur Verfügung stehen“ (Esposito 2002, S. 34, für die Bindung an Differenzierungsformen vgl. ebenda, S. 36 ff.).
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Sebald, G. et al. (2023). Der Begriff „soziale Gedächtnisse“. In: Sebald, G., et al. Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung . Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26587-8_1
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