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Zwischen formeller Demokratisierung und neoliberaler Strukturanpassung – Das EU-Beitrittsprojekt

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Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei

Part of the book series: Globale Politische Ökonomie ((GPÖ))

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Zusammenfassung

Der Prozess der Neoliberalisierung seit 1980 hatte sich in seiner institutionellen Dimension als ein Zusammenspiel von transatlantischen Finanzinstitutionen und den Imperativen der europäischen Integration konstituiert, die beide in einem hohen Maße komplementär waren. Die türkische Ökonomie hatte sich dabei strukturell in einer unterlegenen Position befunden, da sie Produkte mit geringerer Wertschöpfung herstellte und zugleich aus den am stärksten entwickelten kapitalistischen Ökonomien Produkte mit höherer Wertschöpfung importierte – daraus resultierende Leistungsbilanzdefizite hatte sie zu finanzieren. Diese Notwendigkeit zur Finanzierung der Defizite stellte einen strukturellen Adjustmentzwang an die internationale ökonomische Ordnung dar. Das Kreditverhältnis war letztlich ein wichtiger Hebel zur politischen Implementierung der Strukturanpassungen gewesen.

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Notes

  1. 1.

    Westliche Universitäten spielten eine wichtige Rolle für die Reproduktion der akademischen Eliten in der Türkei und so hatte die Kritik an der Modernisierungstheorie das akademische Feld in der Türkei wesentlich über türkische Wissenschaffende erreicht, die wesentliche Teile ihrer Postgraduiertenausbildung außerhalb der Türkei bestritten hatten. Exemplarisch sei auf Şerif Mardin verwiesen. Ironischerweise sollte sich damit die Kritik am Modernismus kemalistischer Prägung als modernistische Praxis par excellence erweisen, denn die Kritik am kemalistischen Projekt war nicht zuletzt im Zuge der Bemühungen mit westlichen Sozialwissenschaften mitzuhalten aus dem Westen importiert worden. Die Kritiken am Modernismus hatten so zumindest ein modernistisches Moment.

  2. 2.

    Milli Güvenlik Kurumu (Nationaler Sicherheitsrat).

  3. 3.

    Diese aber hatte es – wie im Argumentationsgang dieser Arbeit bislang gezeigt – als quasi überhistorische Konstante gar nicht gegeben. Insbesondere während der siebziger Jahre hatte gerade das konservative und rechte politische Lage das linke Lager, welches versuchte, seine Interessen in Gestalt des (links-)modernistisch kodierten ISI-Projektes zu prozessieren, mittels eines radikalen und islamistisch kodierten Türkismus unter Druck gesetzt (siehe Kap. 5).

  4. 4.

    Wie im Verlauf der Argumentation dieser Arbeit (vor allem Kap. 4 und 5) gezeigt, war die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie, die auf klassenunspezifische Moment von Herrschaft (siehe Kap. 2), in ihren vielen Variationen bereits in den vierziger Jahren Teil des populistischen Diskurses der DP gewesen und fand sich danach in sämtlichen (wirtschaftsliberal-)konservativen Parteien sowie denen der politischen Rechten und des politischen Islams. Insbesondere Vertreter_innen der politischen und gewerkschaftlichen Linken waren aus diesen Spektren dann als Vertreter_innen des Zentrums identifiziert worden, wenn sie versuchten ökonomische Forderungen, wie zum Beispiel Bodenreform, redistributive Besteuerung oder Planung, mittels der Staatsapparate zu prozessieren. Vereinfacht gesagt: Hatten Interessen der Subalternen es bis in die Staatsapparate geschafft, so wurden sie im Diskurs der Herrschenden zur Politik des Zentrums, welches sich gegen die Peripherie richtete.

  5. 5.

    Ausführlich zum Begriff der „diskursiven Gelegenheitsstrukturen“ siehe Ullrich (2008, 21 ff.).

  6. 6.

    Im kurdischen Raum stellte sich die Lage der politischen Linken allerdings anders dar: Der sich dort formierenden kurdischen Bewegung und ihrem bewaffnetem Arm, der PKK, gelang es in Ablehnung des Modernismus und Chauvinismus kemalistischer Prägung zunächst, ihren eigenen marxistischen Narrativ zu entwickeln. Seine Artikulationsmacht über das Klassenspezifische hinaus wurde wesentlich durch die Betonung kurdischer Identität erreicht. Konkrete Schnittmengen zwischen der Mehrheit der klassischen türkischen Linken und der kurdischen Bewegung, die selbst zunehmend ein klassenübergreifendes Bündnis organisierte, blieben zunächst dementsprechend gering. Die Dynamik des türkisch-kurdischen Bürgerkrieges tat ihr Übriges.

  7. 7.

    Dies hielt die europäischen Unternehmensverbände natürlich nicht davon ab, für einen Beitritt der Türkei einzutreten. Gleichwohl, war die Frage, ob die Türkei Mitglied würde, für sie nicht von vitaler Bedeutung. Dies wussten auch die europäischen Regierungen. Vor dem Hintergrund des EU-seitig stark versicherheitlichten Charakters der EU-Türkei-Beziehungen, gaben europäische Akteur_innen sicherheits- und geopolitischen Interessen in ihren Entscheidungen über die Türkei schlicht mehr Gewicht.

  8. 8.

    Eine im Grunde ähnliche Analyse hatten auch die großen Konglomerate entwickelt. So weist Yalman (2009, 293 f.) darauf hin, dass die Aufrechterhaltung der Konglomeratsstruktur wesentlich dem Ziel der Risikostreuung vor dem Hintergrund makroökonomischer Instabilität geschuldet war. Die Reduktion der geschäftlichen Aktivitäten auf den Sektor mit den höchsten Renditeerwartungen (dem der Staatsfinanzierung) war den führenden Kapitalfraktionen schlicht zu riskant gewesen – trotz der bevorzugten Reinvestition industrieller Profite im Finanzsektor hatten sie daher ihre industriellen Aktivitäten beibehalten (siehe auch Abschn. 6.2 bis 6.5). Deindustrialisierung war in diesem Sinne eine relative und keine absolute Tendenz.

  9. 9.

    Zur Diskussion der Mechanismen und währungspolitischen Handlungsoptionen innerhalb eines Currency Boards, insbesondere denen von Schwellenländern, Frankel (1999).

  10. 10.

    Die Restrukturierung des Bankensystems, in dessen Rahmen das Schatzamt die Devisenverbindlichkeiten der privaten Banken übernahm, kostete den Staat 47,2 Mrd. US$ und ließ die öffentlichen Schulden um 33 % des BSP ansteigen (vgl. Şener, 2008, 190). Ataç (2013, 137) betont, dass damit letztlich auch der größte Teil der IWF-Kredite für die Restrukturierung des Bankensektors aufgewendet wurde.

  11. 11.

    Insgesamt vermied das Programm hier direkte Zugeständnisse weitgehend, stellte aber durch die Übernahme einschlägiger UN-Protokolle indirekt Erleichterungen für die kurdische Bevölkerung in Aussicht. Das Wort „kurdisch“ als solches wurde gänzlich gemieden.

  12. 12.

    Ziya Öniş prägte für diese Rolle der internationalen Finanzwelt und der EU gegenüber türkischen Machtblockakteur_innen den Begriff des „doppelten externen Ankers“, ohne den sich diese weiterhin den Reformen widersetzt hätten (exemplarisch: Öniş/Bakır, 2007).

  13. 13.

    Letzteres Prinzip war durch die Verfassungsänderungen im Zuge des Putsches von 1971 deutlich relativiert und durch die Verfassung von 1982, die aus dem Staatsstreich von 1980 resultierte, schließlich aufgegeben worden (siehe Abschn. 5.13 und 5.18).

  14. 14.

    In der Türkei werden Parteien nicht verboten, sondern geschlossen.

  15. 15.

    Unter dem Begriff des Sozialvorbehaltes der Grundrechte/-freiheiten ist zu verstehen, dass individuelle Grundrechte den Belangen des Kollektivs untergeordnet werden können. In der Verfassung der Republik Türkei von 1982 werden Grundrechte/-freiheiten vor allem unter Rekurs auf einen staatsfetischistisch-nationalistischen Narrativ dem Ziel der Regierbarkeit untergeordnet. Dies stellt damit nicht nur eine Einschränkung der Grundrechte/-freiheiten dar, sondern auch eine Aufweichung der Gewaltenteilung, insofern unpräzise – beziehungsweise durch Rückbindung an einschränkende Präambeln, die den weiteren Verfassungsartikeln vorangestellt sind – definierte Rechte den Handlungsspielraum der Exekutive im Bereich der Anklageerhebung erhöhen. An dieser Stelle exemplarisch die Präambel der Verfassung der Republik der Türkei vom 7. November 1982 in ihrer bis 1995 gültigen Fassung: „Um diese Verfassung in ihrem Gedankeninhalt, in ihrem Glaubensgehalt und ihren Entscheidungen zu verstehen, sie in dieser Hinsicht nach Wortlaut und Sinn mit Achtung und absoluter Treue auszulegen und anzuwenden, sei hervorgehoben: daß in Übereinstimmung mit dem Geist des Nationalismus, wie er von dem einzigartigen Atatürk, dem Gründer der türkischen Republik, ihrem verewigten Führer geprägt worden ist, und in der Richtung seiner Reformen und Prinzipien; (…) der absolute Vorrang des nationalen Willens, die Souveränität uneingeschränkt und unbedingt der Türkischen Nation zustehe und keine Person oder Institution, welche diese im Namen des Volkes auszuüben zuständig ist, von der in dieser Verfassung bestimmten freiheitlichen Demokratie und der von ihren Erfordernissen bestimmten Rechtsordnung abweichen werde“.

  16. 16.

    Die Vertreterin der größten türkischen Holdinggesellschaften, TÜSİAD, ist schon seit 1987 Mitglied bei Business Europe, einem der wichtigsten transnational agierenden europäischen Arbeitgeber_innenverbände. Türkische Konglomerate sind auch im European Roundtable of Industrialists präsent und nehmen daher über zwei der größten und mächtigsten Lobbyorganisationen innerhalb der EU nicht nur Einfluss auf die Gestaltung der Europäischen Integration als solche, sondern insbesondere auch der Gestaltung der Handelsbeziehungen zwischen der Triade USA, Japan und EU (vgl. ERT, Online; TÜSİAD: International Memberships).

  17. 17.

    Die bekannteste Stiftung dieser Art dürfte Türkiye Ekonomik ve Sosyal Etüdler Vakfı (Türkische Stiftung für ökonomische und soziale Studien, TESEV) sein, die in ihrem Wirken einen starken Fokus auf die Verrechtlichung der sozialen und politischen Beziehungen in der Türkei legt und in diesem Sinne Demokratisierung und Good Governance sowie Außenpolitik als wichtige Themenfelder hat (vgl. TESEV, Online).

  18. 18.

    So waren zum Beispiel durch die Revision des Bankengesetzes im Jahr 1999 islamische Finanzhäuser offiziell ins Bankensystem integriert, jedoch nicht durch den Einlagensicherungsfonds geschützt worden. Für diese Finanzhäuser hatten sich durch Neuregelung nur Verpflichtungen, nicht aber Rechte ergeben, wie sie die konkurrierenden Banken genossen. Und schließlich hatte sich diese Regelung im Februar 2001 während des Zusammenbruchs des İhlas-Finanzhauses, das 40 % aller Einlagen im „islamischen“ Finanzsektor hielt, als krisenverschärfend erwiesen. Das unter Supervision des IWF erstellte neue Bankengesetz von 2001 band die Finanzhäuser schließlich in die Einlagensicherung mit ein (vgl. Hoşgör, 2008, 268). Gleichwohl sollte das „Grüne Kapital“ der neunziger Jahre sich vom Prozess des 28. Februar in den folgenden Jahren nicht mehr erholen und vom Markt verschwinden (vgl. Öztürk, 2015).

  19. 19.

    Es gilt an dieser Stelle einmal mehr zu betonen, dass die ausgeprägte Referenz der türkischen Akteure auf die frührepublikanische Periode zwar an deren Symbolik anknüpfte und den Staat als solchen fetischisierte. Mitnichten ist daraus jedoch das Postulat vom Staat, der über der Gesellschaft stehe beziehungsweise diese bevormunde, abzuleiten. Vielmehr verdichten sich in derartigen Referenzen die Strategien gesellschaftlicher Akteure, ein jeder Staatsfetischismus ist daher nur im konkreten Kontext zu verstehen: Nach dem Putsch von 1980 waren ausgeprägte symbolische Referenzen auf frührepublikanische Traditionen gemacht worden, die sich weniger dem laizistischen Projekt als vielmehr der Fetischisierung des Staates als solchem verschrieben hatten, um den fehlenden Konsens für dessen Rolle als Neoliberalisierungsakteur_innen zu schaffen (siehe Abschn. 5.18 und 6.1). Und später war im Zuge des Prozesses des 28. Februar unter einem ausgeprägten Rekurs auf den Topos des Laizismus nicht zuletzt eine Rejustierung des Neoliberalisierungsprojektes eingeleitet worden, die unter einer RP-Regierung als nicht erreichbar erschienen war (siehe 6.6 und 7.3 bis 7.4).

  20. 20.

    Am prominentesten, da am weitläufigsten bekannt, wirkten daran wohl die seit 1998 jährlich publizierten Türkei-Fortschrittsberichte der EU-Kommission mit, welche die allgemeinpolitische Lage in der Türkei und insbesondere ihre juristischen Reformen jeden Herbst konkret bewerteten. Zahlreiche Medien hatten die Neigung, die Berichte nicht als politisches Instrument der EU gegenüber der Türkei, sondern als ‚neutrale‘ Informationsquelle über die Türkei zu sehen. Damit entfalteten die Berichte ebenso eine große diskurspolitische Relevanz in den Öffentlichkeiten der EU-Staaten.

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Gehring, A. (2019). Zwischen formeller Demokratisierung und neoliberaler Strukturanpassung – Das EU-Beitrittsprojekt. In: Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei . Globale Politische Ökonomie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24572-6_7

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