1 Ökonomische Fragestellung

Die Einkommensgerechtigkeit bzw. -ungleichheit innerhalb der Bevölkerung sind aus ökonomischen und politischen Gründen wichtige Kenngrößen. Wird die Kluft zwischen Arm und Reich zu tief, so kommt es oft zur Einschränkung der sozialen Mobilität, was langfristig sogar eine systemische Instabilität hervorrufen kann. Die Steuerungsinstrumente zur Förderung der Einkommensgerechtigkeit bzw. Vorbeugung der Einkommensungleichheit fallen unter den Begriff Umverteilung – das sind Transferleistungen, Subventionen, Steuerprogression und Sozialsysteme. Wir wollen diesbezüglich die folgende relevante Frage beantworten:

Wie fasst man die Einkommensgerechtigkeit bzw. -ungleichheit kenntlich zusammen?

Es seien N Haushalte oder Personen nach der Höhe ihres Einkommens aufsteigend geordnet:

$$ x_1 \le x_2 \le \ldots \le x_n \le x_{n+1} \le \ldots \le x_{N-1} \le x_N. $$

Pen’s Parade ist eine Veranschaulichung von Einkommensungleichheit, in der alle Menschen eines Landes sortiert nach ihrem Einkommen und mit Körpermaßen entsprechend ihrer Einkommenshöhe, nacheinander an einer Zuschauertribüne vorbei hinein in ein Stadion marschieren. Die Menschen mit durchschnittlichem Einkommen sind durchschnittlich groß, so auch der Zuschauer. Jene, die zweimal so viel verdienen, sind doppelt so groß, und so fort. Der Zuschauer sieht eine „Parade von Zwergen, gefolgt von wenigen unglaublichen Riesen“, wie Pen (1971) zur Darstellung der Einkommensungleichheit am Beispiel Großbritanniens feststellt.

Es sei \(\frac{n}{N}\) der relative Anteil der n Ärmsten an der Gesamtpopulation. Wir definieren den relativen Einkommensanteil der n Ärmsten:

$$ F\left( \frac{n}{N}\right) = \sum _{i=1}^{n} x_i : \sum _{i=1}^{N} x_i. $$

Diese Werte für alle \(n=1, \ldots , N\) setzen wir zur sogenannten Lorenzkurve stückweise linear fort, siehe Abb. 35.1. Sie wurde 1905 von Max Lorenz zur Messung der Einkommensungleichheit entwickelt. Es lässt sich an der Lorenzkurve \(F: [0,1] \rightarrow [0,1]\) ablesen, wie viel Prozent der Haushalte wie viel Prozent der Einkommen besitzen. Die Lorenzkurve zeigt Disparitäten in der Einkommensstruktur auf. Zwei Extremfälle sind speziell zu erwähnen:

  • Gleichverteilung \(x_1=\ldots =x_N\) mit der linearen Lorenzkurve

    $$ F_E(x)=x. $$
  • Maximale Ungleichverteilung \(x_1=\ldots =x_{N-1} = 0\) mit der unstetigen Lorenzkurve

    $$ F_I(x)=\left\{ \begin{array}{ll} 0, &{} \text{ falls } x< 1, \\ 1, &{} \text{ falls } x= 1. \\ \end{array}\right. $$

Diskrete Einkommensverteilungen können im Fall vieler Haushalte, d. h. \(N\rightarrow \infty \), durch differenzierbare Einkommensverteilungen approximativ dargestellt werden, sodass der Anteil eines jeden Haushaltes marginal wird. Stückweise lineare werden dann zu differenzierbaren Lorenzkurven \(F: [0,1] \rightarrow [0,1]\), siehe Abb. 35.2. Der Wert F(x) gibt den Einkommensanteil der x Ärmsten an.

Abb. 35.1
figure 1

Lorenzkurve

Abb. 35.2
figure 2

Stückweise stetige und differenzierbare Lorenzkurven

Zunächst wollen wir ein Maß  für die Einkommensgerechtigkeit einführen. Wir starten mit einer diskreten Einkommensverteilung \(x_1 \le \ldots \le x_N\) und definieren den sogenannten Equity-Faktor des n-ten Haushaltes wie folgt:

$$ \varepsilon \left( \frac{n}{N}\right) = x_{n} : \frac{1}{N-n+1} \sum _{i=n}^{N} x_i. $$

Der Equity-Faktor stellt das Einkommen des n-ten Haushalts ins Verhältnis zum Durchschnittseinkommen aller \(N-n+1\) mindestens genauso reichen Haushalte. Es spiegelt das Maß  an Gerechtigkeit wider, die einem Haushalt zuteil wird, wenn er sich mit den gleich- bzw. bessergestellten Haushalten vergleicht. Äquivalent lässt sich der Equity-Faktor durch die zugehörige Lorenzkurve darstellen. Nach einer kurzen Rechnung, die dem interessierten Leser überlassen wird, gilt:

$$ \varepsilon \left( \frac{n}{N}\right) = \frac{F\left( \frac{n}{N}\right) - F\left( \frac{n-1}{N}\right) }{\frac{1}{N}} : \frac{1-F\left( \frac{n-1}{N}\right) }{1-\frac{n-1}{N}}. $$

Diese Darstellung hilft uns, den Equity-Faktor für differenzierbare Einkommensverteilungen zu definieren. Dafür setzen wir hier \(x=\frac{n-1}{N}\) und \(\Delta x = \frac{1}{N}\), sodass folgt:

$$ \varepsilon \left( x+\Delta x\right) = \frac{F\left( x+\Delta x\right) - F\left( x\right) }{\Delta x} : \frac{1-F\left( x\right) }{1-x}. $$

Im Fall vieler Haushalte, d. h. \(N\rightarrow \infty \), liefert der Grenzübergang \(\Delta x \rightarrow 0\) den Equity-Faktor einer differenzierbaren Einkommensverteilung:

$$ \varepsilon (x)= F'(x) : \frac{1-F(x)}{1-x}. $$

Hier beziehen wir wie oben den Einkommensanteil eines Haushalts \(F'(x)\) auf den Einkommensanteil \(1-F(x)\) aller derjenigen \(1-x\) Haushalte, die wenigstens so reich wie dieser Haushalt sind, und zwar im Durchschnitt.

Als Beispiel betrachten wir die Familie der fraktalen Lorenzkurven

$$ F_\varepsilon (x)= 1 - (1 - x)^{\varepsilon } \quad \text{ mit } \varepsilon \in (0,1]. $$

Wir berechnen den zugehörigen Equity-Faktor:

$$ \varepsilon (x) = \left( 1 - (1 - x)^{\varepsilon } \right) ' : \frac{1-\left( 1 - (1 - x)^{\varepsilon }\right) }{1-x} = \varepsilon \cdot (1 - x)^{\varepsilon -1} \cdot \frac{1-x}{(1 - x)^{\varepsilon }} = \varepsilon . $$

Er entspricht dem Parameter \(\varepsilon \) und ist somit konstant. Das bedeutet, dass der Vergleich eines jeden Haushalts mit den wohlhabenderen Haushalten von seiner Einkommensgröße nicht abhängt. Wie viel auch immer an Einkommen ein Haushalt besitzt, widerfährt ihm dieselbe Gerechtigkeit, und zwar zum auf die höheren Einkommen bezogenen Faktor \(\varepsilon \). Für eine Diskussion diesbezüglich verweisen wir auf Taleb (2007).

Wir wollen auch ein Maß  für die Einkommensungleichheit definieren, und zwar den Flächeninhalt zwischen der perfekten Gleichverteilung und der zu einer Einkommensverteilung zugehörigen Lorenzkurve. Ist dieser Flächeninhalt klein, so ist die Einkommensverteilung relativ nah an der Gleichverteilung und die Einkommensungleichheit ist niedrig. Ist umgekehrt dieser Flächeninhalt groß, so ist die Einkommensverteilung relativ nah an der maximalen Ungleichverteilung und die Einkommensungleichheit ist hoch.

2 Mathematisches Modell

Gegeben sei eine integrierbare Funktion \(f{:} [a, b] \rightarrow \mathbb {R}\), \(a < b\). Das bestimmte Integral

$$ \int _{a}^{b} f(x) \mathop {}\!\mathrm {d}x $$

ist die Summe der mit Vorzeichen „\(+\)“ versehenen Flächeninhalte oberhalb der x-Achse und der mit Vorzeichen „−“ versehenen Flächeninhalte unterhalb der x-Achse. Man kann also das bestimmte Integral als den orientierten oder gerichteten Flächeninhalt zwischen dem Graphen der Funktion und der x-Achse interpretieren, siehe Abb. 35.3.

Abb. 35.3
figure 3

Orientierter Flächeninhalt

Der Flächeninhalt zwischen den Graphen von zwei Funktionen \(f_1,f_2:[a, b] \rightarrow \mathbb {R}\) kann analog berechnet werden, wie Abb. 35.4 illustriert:

$$ I=\int _{a}^{b} f_1(x) \mathop {}\!\mathrm {d}x - \int _{a}^{b} f_2(x) \mathop {}\!\mathrm {d}x = \int _{a}^{b} \left( f_1(x) -f_2(x) \right) \mathop {}\!\mathrm {d}x. $$
Abb. 35.4
figure 4

Flächeninhalt zwischen zwei Graphen

3 Schlussfolgerungen und Fazit

Der Gini-Koeffizient für die Einkommensungleichheit ist als doppelter Flächeninhalt zwischen der Gleichverteilungsgeraden \(F_E\) und der Lorenzkurve F definiert:

$$ G = 2 \int _{0}^{1} \left( F_E(x) - F(x)\right) \mathop {}\!\mathrm {d}x. $$

Der Gini-Koeffizient wurde von Corrado Gini 1912 eingeführt. Abb. 35.5 stellt den Gini-Koeffizienten grafisch dar. Daraus ist ersichtlich, dass der Gini-Koeffizient G Werte zwischen 0 und 1 annimmt. Starke Einkommensungleichheit entspricht sehr großen Werten des Gini-Koeffizienten. Die Gini-Koeffizienten einzelner Länder aus dem Jahr 2014 stammen von der Seite www.compareyourcountry.org. Die Einkommensungleichheit in Deutschland ist demnach im OECD-Vergleich unterdurchschnittlich:

figure a

Wir berechnen den Gini-Koeffizienten für die fraktalen Lorenzkurven \(F_\varepsilon \):

$$ \begin{array}{rcl} \displaystyle G_\varepsilon &{}=&{} \displaystyle 2 \int _{0}^{1} \left( F_E(x) - F_\varepsilon (x)\right) \mathop {}\!\mathrm {d}x = 2 \int _{0}^{1} \left( x - \left( 1 - (1 - x)^{\varepsilon }\right) \right) \mathop {}\!\mathrm {d}x \\ \\ &{} = &{} \displaystyle 2 \int _{0}^{1} \left( x - 1 + (1 - x)^{\varepsilon }\right) \mathop {}\!\mathrm {d}x = \left. 2 \left( \frac{x^2}{2} -x - \frac{(1 - x)^{\varepsilon +1}}{\varepsilon +1}\right) \right| _0^1 \\ \\ &{}=&{} \displaystyle 2 \left( \frac{1^2}{2} -1 - \frac{(1 - 1)^{\varepsilon +1}}{\varepsilon +1} - \left( \frac{0^2}{2} -0 - \frac{(1 - 0)^{\varepsilon +1}}{\varepsilon +1}\right) \right) = \frac{1-\varepsilon }{1+\varepsilon }. \end{array} $$

Im Grenzwert bzgl. des Equity-Faktors \(\varepsilon \) gilt:

$$ G_\varepsilon = \frac{1-\varepsilon }{1+\varepsilon } \rightarrow \left\{ \begin{array}{lll} 1 &{}\text{f}\ddot{\mathrm{u}}\text{r}\; \varepsilon \rightarrow 0: &{} \text{ maximale } \text{ Ungleichverteilung }, \\ 0 &{}\text{f}\ddot{\mathrm{u}}\text{r}\; \varepsilon \rightarrow 1: &{} \text{ Gleichverteilung }. \\ \end{array}\right. $$

Der Zusammenhang zwischen dem Equity-Faktor \(\varepsilon \) und dem Gini-Koeffizienten \(G_{\varepsilon }\) ist invers. Wächst der Equity-Faktor \(\varepsilon \), d. h. das Einkommen eines jeden Haushalts steigt im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen aller reicheren Haushalte, so fällt der Gini-Koeffizient \(G_\varepsilon \), was auf eine niedrige Einkommensungleichheit hinweist.

Abb. 35.5
figure 5

Gini-Koeffizient

Zum Schluss geben wir noch die Formel des Gini-Koeffizienten für stückweise lineare Lorenzkurven an, siehe z. B. Sen (1977):

$$ G = \frac{1}{2} \cdot \frac{\displaystyle \frac{1}{N^2}\sum _{i=1}^{N} \sum _{j=1}^{N} \left| x_i - x_j\right| }{\displaystyle \frac{1}{N} \sum _{i=1}^{N} x_i}. $$

Der Gini-Koeffizient wird somit zum relativen Streuungsmaß der Einkommen bezogen auf das Durchschnittseinkommen. Je weiter voneinander die Einkommen gestreut sind, desto größer wird der Gini-Koeffizient. Streuungsmaße werden in der Statistik zur Analyse von Ungleichverteilungen verwendet.