Zusammenfassung
Die (n)ostalgischen Momente in den Dresdner Tatort-Episoden Auf einen Schlag (2016), König der Gosse (2016) sowie Auge um Auge (2017) verraten viel über das Unbehagen und die generellen Befindlichkeiten von Menschen, die einen heimeligen Schutzraum suchen, wenn sie mit vielen aktuellen Themen und Zuständen hadern. Mit dem Ringen um sinngenerierende Konstruktionen von Vergangenheit ist die Intention verbunden, Defizite der Gegenwart auszugleichen und anzuprangern. Der folgende Beitrag wird diese Zeugnisse der Gegenwartsgeschichte mit einem Blick auf Mythosbildung und Heimatsehnsucht dekonstruieren.
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Notes
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Besonders in den 1950er Jahren waren schon bald nach ihrer Premiere in Westdeutschland viele Heimatfilme der BRD auch mit großem Publikumszuspruch in der DDR zu sehen (vgl. Stettner 2001, S. 149–167).
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Das entsprechende Sendeformat in Ostdeutschland war der Polizeiruf 110, der im Zuge der Wende neben dem Tatort die Sonntagabend-Sendezeit bekam. 1992 gab es dann den ersten im Osten produzierten Tatort (Ehrlicher und Kain/MDR).
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Zum Spiel mit Erwartungen passt auch, dass die Polizeidienstanwärterin, die man in dieser ersten Folge des neuen Dresden-Tatorts als Fixpunkt im Ermittlerteam vermutet, ermordet wird. Die Ermittlerinnen sterben doch nicht, schon gar nicht in der ersten Folge eines neuen Ermittlungsteams. Zudem verweist der Tatort mit dem „Ehrenmord“ wiederum augenzwinkernd auf ein gängiges Vorurteil muslimischen Mitbürgern gegenüber.
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Ein Herzensbube urteilt: „Der [Mann] gehört nicht zu uns, der trinkt ja nix“. Die Kommissarinnen witzeln, „Männer haben Gefühle? Ja, ist so `ne Art update“, oder kommentieren lakonisch: „Ganz schönes Phänomen, dass Männer immer kapitulieren, wenn Frauen heulen oder bluten.“
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Schnabel: „Neger im Kohlenkeller […] sind wir die Mordkommission oder die Sprachpolizei,“ worauf die Kommissarinnen erwidern: „Kommen Sie mal langsam in unserem Zeitalter an.“
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Schnabel: „Als hier nur Männer waren, wurde mehr gelacht.“
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„Emanzentick“ und offensichtliche Vorurteile gegen Homosexuelle.
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Schnabel: „Das kriegt Ihre Generation nicht mehr hin, dass irgendwas passiert und nicht geknipst wird“, auf das Smartphone der Anwärterin anspielend. Bei einer anderen Gelegenheit beschwert sich Schnabel dagegen über die Unerreichbarkeit von Kollegen: „Mailbox. Heute, wo wir alle erreichbar sind, erwischt man keinen mehr.“
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Schnabel: „Wenn einer deutsch singt, kennt Ihre Generation die nicht.“ Anwärterin: „Sorry.“ Schnabel: „Okay.“ Anwärterin: „Das ist auch nicht so deutsch…“.
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Der Anatomist bemerkt ironisch: „Bravo, super Sache diese Quotenregelung, warum sollen wir auch immer nur unfähige Männer einstellen?“
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Zitat der Komponisten der Schlagerlieder im Film, Francesco Wilking und Patrick Reising, im Interview. http://www.daserste.de/unterhaltung/krimi/tatort/specials/interview-komponisten-schlager-100.html (Letzter Zugriff am 28. Februar 2018). Drehbuchautor Ralf Husmann bekräftigt dies: „Schlager und Volksmusik sind die letzten Bastionen, in denen die Welt noch friedlich ist, das Glück ewig und der Himmel schlicht blau und frei von Klimawandel. Hier kann man Probleme einfach wegjodeln. Ich fand es reizvoll, wenn da die Gewalt einbricht. Außerdem wollte ich mal gucken, ob der MDR, der ja selbst auch ein paar entsprechende Shows produziert, so viel Selbstironie aufbringt. Und siehe da: Das tut er. Hut ab schon mal dafür.“ Drehbuchautor Ralf Husmann im Interview. http://www.daserste.de/unterhaltung/krimi/tatort/specials/interview-ralf-husmann-buch-100.html (Letzter Zugriff am 28. Februar 2018).
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Das Akronym PEGIDA steht für die 2014 in Dresden gegründete Interessengemeinschaft “Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes”.
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So sagt er zu seinem Kollegen und Rivalen: „‚Hätte, hätte‘ ist die kleine Schwester von ‚Heul doch‘.“
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Dies ist ein verbindendes Element aller bislang ausgestrahlten Dresdner Tatort-Episoden. Im Dresdner-Tatort Deja Vu (2018) kommentiert Schnabel „das Gerücht“, der Täter solle „ein Flüchtling sein“, mit der überzogenen ironischen Pressemitteilung, dieser habe „den Jungen zuerst gekocht und dann aufgegessen, wie man das so macht in Afrika“.
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Gegen die Verklärung der DDR-Vergangenheit, befreit von staatlicher Kontrolle und abgemildert durch den nostalgisch-selektiven Blick, wehren sich dagegen Sieland und Gorniak. Als Schnabel in Deja Vu (2018) lamentiert: „Wir haben seine DNA, was man damit alles machen könnte“, doch man darf es nicht, kontern die Kommissarinnen: „Es gibt Gründe, warum man damit nicht alles manchen darf, […] Sie müssten das doch wissen, Sie haben doch noch die DDR erlebt“.
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Ludewig, A. (2019). Ostalgie im Dresdner Tatort (2016/2017). In: Hülz, M., Kühne, O., Weber, F. (eds) Heimat. RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24161-2_16
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