Zusammenfassung
Wissenschaftlichkeit ist keine Selbstverständlichkeit im Lehramtsstudium, die vehemente Forderung nach Schulpraxisbezug stellt sie fortlaufend infrage. Die Wissenschaftskompetenz der zukünftigen Lehrkräfte erfährt wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung, obwohl sie in einer von Wissenschaft geprägten Gesellschaft arbeiten werden. Wie kommt es zu Wissenschaftsdistanz und defizitärer Wissenschaftlichkeit? Warum verengt man den Praxisbezug für Lehrkräfte immer auf Schulpraxisbezug und blendet alle anderen gesellschaftlichen Praxen aus? Was kann man der Unlust zur Wissenschaft und der Sucht nach Schulpraxis wirksam entgegensetzen? Der Beitrag erörtert Ursachen und mögliche Maßnahmen. Er arbeitet biografische Kontinuität und Schließung als wesentliche Merkmale der Lehrerbiografie heraus und zeigt, dass die Ähnlichkeit der Praktiken Unterricht und Lehre an Schule und Hochschule das Problem verschärft. Deshalb argumentiert er für einen klaren Bruch zwischen Schule und Studium. Er fordert ein gemeinsames wissenschaftliches Studium der Lehrkräfte mit allen anderen Studierenden des Faches, das sich zugleich auf außerwissenschaftliche Verwendungsformen von wissenschaftlichem Wissen und Können konzentriert.
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Dass in Deutschland in der Regel Zwei-Fach-Lehrerinnen ausgebildet werden, liegt nicht in der Natur der Sache oder des Faches oder der Lehrerarbeit, sondern begründet sich ausschließlich damit, dass der öffentliche Monopolarbeitgeber seine schulorganisatorischen Interessen an flexiblem Personaleinsatz und Rationalisierung durchsetzen kann. Das gilt insbesondere dann, wenn die Einstellung des Personals dezentral von den Schulen selbst erfolgt. In den zyklisch wiederkehrenden Zeiten des allgemeinen, schulform- oder fächerspezifischen Lehrermangels machen die Schulbehörden aber vom Zwei-Fächer-Prinzip ebenso großzügige wie großflächige Ausnahmen.
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Hedtke, R. (2020). Wissenschaft und Weltoffenheit. Wider den Unsinn der praxisbornierten Lehrerausbildung. In: Scheid, C., Wenzl, T. (eds) Wieviel Wissenschaft braucht die Lehrerbildung?. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23244-3_5
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