6.1 Videoeinleitung

Im letzten Jahrhundert hat sich die Medienpädagogik inhaltlich vorwiegend an den audiovisuellen Medien orientiert – also an Film und Fernsehen, Video, Rundfunk und an den Audiomedien wie Tonband oder Kassettenrecorder. Vor allem die Warnungen der Bewahrpädagogik beflügelten die pädagogischen Diskussionen, wobei ähnliche Argumente bei jedem neuen Medium ins Feld geführt wurden (vergleiche dazu den Überblick in Kap. 2). Eine eigentliche Medienpädagogik, die im Umgang von Kindern und Jugendlichen auch positive Ressourcen sah, begann sich erst seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zu entwickeln. Inhaltlich drehten sich diese Diskussionen vor allem um die audio-visuellen Medien und das Fernsehen als damaliges Leitmedium der Kinder und Jugendlichen. Begrifflich stand dabei der neue Begriff der „Medienkompetenz“ im Zentrum, der in den Medien eine positive kulturelle Ressource sah, die aus den Lernprozessen Heranwachsender nicht ausgeschlossen werden sollte. Wer aktuell am Alltagsleben teilnahm, musste sich auch mit Zeitschriften, Tageszeitungen, Fernsehen, aktuellen Musikmedien, später auch mit Computern befassen.

Allerdings hat die rasante Medienentwicklung der letzten Jahre viel verändert. Dies ist das Thema des vorliegenden Kapitels. Im einleitenden Video zur Abb. 6.1 werden einige zentrale Aspekte der digitalen Entwicklung aufgegriffen, die im Text des Buches vertieft werden.

Abb. 6.1
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Einleitendes Video zum Kapitel „Medienkompetenz und Medienbildung im digitalen Zeitalter“ (https://doi.org/10.1007/000-0gc)

Auch wenn sich mit der Digitalisierung der Medien neue Perpektiven ergeben haben, bedeutete dies nicht, dass die vormalige Medienpädagogik total umgeschrieben werden muss. Vielmehr bleiben zum Beispiel der Rundfunk über Internetradios oder Fernsehereignisse über YouTube-Filme nach wie vor auch bei Jugendlichen aktuell, die man nicht mehr als typische Fernsehnutzerinnen und -nutzer bezeichnen kann. Gewalt im Fernsehen wiederholte sich in den Computerspielen, und was früher die Stars im Fernseh- Casting waren, sind heute die YouTuber und Influencer. Digitalisierung bedeutet nicht, dass die „alten“ Medien total verschwinden, diese stellen vielmehr die Basis für viele der neuen Medienentwicklungen dar, die sie auf einer digitalen Ebene substituieren.

Die Digitalisierung hat die analogen Medien eingeholt, aber sie nimmt von ihnen Impulse auf und entwickelt diese auf der digitalen Basis weiter. Auf diesem Hintergrund sind auch viele der medienpädagogischen Überlegungen, die im Rahmen der analogen Medien entwickelt worden waren, bis heute gültig geblieben.

6.2 Die Diskussion um die Medienkompetenz

Vor allem Dieter Baacke gelang es, mit dem Konzept der „Medienkompetenz“ einen wichtigen Markstein zu setzen, der zwar im analogen Zeitalter entwickelt wurde, aber bis in die aktuellen medialen Diskurse um Fragen der Digitalisierung nicht aus den medienpädagogischen Diskussionen wegzudenken ist. Er bezog sich dabei auf das Konzept einer kommunikativen Kompetenz, das der Soziologe Jürgen Habermas entwickelt hatte (vgl. Baacke 1973; Habermas 1971). Dieses geht von der Sprachkompetenz aus – verstanden als ein flexibles Regelsystem, das es erlaubt, mit endlichen Mitteln eine unendliche Zahl von Sätzen zu produzieren. Dahinter steht die These des Sprachwissenschaftler Noam Chomsky (1992), der die Sprachkompetenz als angeborene Fähigkeit betrachtete, über die jeder Mensch verfügt.

Baacke sieht die Notwendigkeit einer Ausweitung dieses Kompetenzbegriffs über die Sprache hinaus: „Kommunikation besteht aber nicht nur aus sprachlichen Interaktionen. Deshalb genügt es nicht, bei der Sprachkompetenz stehen zu bleiben. Was Chomsky für die Produktion grammatisch-sinnvoller Sprache fordert, gilt für den Bereich der gesamten Wahrnehmung: es werden nicht nur wahrgenommene (gesehene und gehörte) Gestalten isomorph aufgenommen und im internen Wahrnehmungszentrum abgebildet, sondern der Mensch kann neue Gestalten produzieren ebenso, wie er bisher nicht gehörte oder nicht gelesene Sätze bilden kann“ (Baacke 1996, S. 52).

„Kommunikative Kompetenz“ bedeutet damit die komplexe Fähigkeit des Menschen (Abb. 6.2), potenziell über die ganze Mediensphäre hinweg situations- oder aussagenadäquate Kommunikationen auszugeben und zu empfangen, ohne an Reize und von ihnen gesteuerte Lernprozesse gebunden zu sein. In der Umsetzung dieses Konzepts auf die medienpädagogische Praxis betont Baacke die Wichtigkeit, Kommunikations- und Medienkompetenz zu vermitteln – und zwar für alle Menschen: „Jeder Mensch ist ein prinzipiell ,mündiger Rezipient‘, er ist aber zugleich als kommunikativ-kompetentes Lebewesen auch ein aktiver Mediennutzer, muss also in der Lage sein (und die technischen Instrumente müssen ihm dazu zur Verfügung gestellt werden!), sich über das Medium auszudrücken“ (Baacke 1996, S. 7). Die Medien „verlängern“ gleichsam technisch die Gestaltungsmöglichkeiten der Sprache, wenn man sie – über den bloßen Konsum von Medienbotschaften hinaus – aktiv und kreativ nutzt.

Abb. 6.2
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Begriffsmatrix zum Konzept der Medienkompetenz. (https://plus.google.com/116955357171088631979)

Vor diesem Hintergrund differenziert Baacke folgende vier zentrale Dimensionen der Medienkompetenz aus:

  • Medienkritik, indem man fähig ist, sich analytisch, ethisch und reflexiv mit Medien auseinanderzusetzen. Jeder Mensch soll nach Baacke sein analytisches und sonstiges Wissen auf sich selbst und sein persönliches Handeln beziehen und anwenden können.

  • Medienkunde als Wissen über Medien. Dazu gehören zwei Dimensionen: einmal die Informiertheit über das Mediensystem, etwa über die Monopolisierung im Medienmarkt, die wichtigsten Regeln des Journalismus, die technologische Entwicklung der digitalisierten Gesellschaft. Dann gehört dazu aber auch eine instrumentell-qualifikatorischen Fähigkeit, nämlich die entsprechenden Geräte bedienen zu können – Videokamera, Handy, Programme wie Word oder Apps wie Facebook.

  • Mediennutzung sowohl durch Rezeption wie aktiv als Anbieter. Der potenzielle Rezipient, der über das notwendige Wissen verfügt, wendet sein Wissen an und wird zum kompetenten Nutzer von Medienbotschaften. Gleichzeitig gehört dazu auch eine interaktive Nutzung, die über den bloßen Mediengebrauch hinausgeht, indem der User nicht nur Rezipient, sondern im Rahmen der Kommunikationssituation auch Anbieter von Medienbotschaften ist.

  • Mediengestaltung bezieht sich auf innovative und kreative Aktivitäten (Baacke 1996, S. 8). Videoprojekte, digitale Bildbearbeitung oder das Gestalten einer Schülerzeitung gehören hier dazu. Ebenfalls angesprochen ist die Mitarbeit an einer innovativen Gestaltung des Mediensystems, indem bestehende Angebote verändert und weiterentwickelt werden.

Wegweisend am Konzept der Medienkompetenz war, dass damit die Konzeption einer bloßen Bewahrpädagogik überwunden werden konnte. Kompetent mit Medien umzugehen ist danach eine unverzichtbare Ressource des menschlichen Handelns, je größer der gesellschaftliche Einfluss der Medien im Alltag wird. Es handelt sich um eine Ressource, die von Erziehung und Schule aufgegriffen und vertieft werden muss, wenn Kinder und Jugendliche in der aktuellen und der zukünftigen Gesellschaft handlungsfähig bleiben wollen.

Zwar ist der Umgang mit Medien nicht risikolos; aber Angst und bewahrpädagogische Maßnahmen sind ein schlechter pädagogischer Ratgeber. Im Zentrum steht ein verantwortungsvoller und gestaltungsbezogener Umgang, der gelernt werden kann bzw. über die Vermittlung von Medienkompetenzen gelernt werden muss. Baacke macht aber auch deutlich, dass es dabei nicht um kritiklose Medieneuphorie geht. Deshalb steht für ihn an erster Stelle der Medienkompetenz die Medienkritik, also die analytische, ethische und reflexive Auseinandersetzung mit Medien.

So fruchtbar der Begriff der Medienkompetenz für die Medienpädagogik war, als Chiffre für das medienpädagogische Kernanliegen kann er auch Diskussionen abblocken, da schließlich allen klar ist, dass Medienkompetenz in der heutigen Gesellschaft notwendig ist. Auch wenn kaum eine Veranstaltung oder ein Kongress darum herumkommt, den Begriff der Medienkompetenz zu strapazieren, besteht die Gefahr, dass immer vager wird, was sich letztlich empirisch hinter diesem Begriff versteckt.

Stefan Aufenanger sieht dabei die Gefahr, dass Medienkompetenz oftmals den pädagogischen Zusammenhängen entrissen und recht einseitig entweder unter einem medientechnologischen Aspekt betrachtet oder als eine Aufgabe der Menschen verstanden werde, sich in der Mediengesellschaft zurechtfinden zu müssen. Außerdem werde der Begriff „in den meisten Zusammenhängen auch recht naiv verwendet, was heißt, daß er kaum mit entsprechenden medienpsychologischen, -theoretischen oder lernpsychologischen Theorien in Zusammenhang gebracht wird. Grundsätzlich ergibt sich das Problem, wie Medienkompetenz in einer Gesellschaft bestimmt werden kann, in der die medientechnologischen Entwicklungen schnelle Veränderungen hervorbringen, die sich kaum noch überschauen lassen“ (Aufenanger 1998, S. 3).

Insgesamt ging es in der Diskussion der Medienkompetenz vor allem darum, deren Konzept operabel zu halten und es angesichts des technologischen Wandels zu präzisieren (Hugger 2008, S. 94). So wurde der Begriff der Medienkompetenz immer wieder durch neue Begriffe und Facetten ergänzt – etwa bei Norbert Groeben (2002) durch eine medienbezogene „Genussfähigkeit“. Dies ist bis zu einem gewissen Punkt auch notwendig, wenn das Konzept im digitalen Zeitalter noch Bedeutung haben soll. Denn Baacke starb bereits 1999 und konnte Überlegungen zur beginnenden Digitalisierung nur noch am Rande einbringen – indem er zum Beispiel für die Nutzungskompetenz festhielt, dass darunter auch Kompetenzen vom Tele-Banking bis zum Tele-Shopping oder zum Tele-Diskurs gemeint seien (Baacke 1996, S. 120). Vom aktuellen Standpunkt der digitalen Entwicklung aus mag das schon fast naiv erscheinen – trotzdem belegen solche Überlegungen, dass das Konzept der Medienkompetenz und die damit verbundenen Dimensionen mit geeigneten Anpassungen durchaus anschlussfähig für das digitale Zeitalter sind.

Wenn vor diesem Hintergrund der Begriff der Medienkompetenz nach wie vor als zentral gesehen wird, so hängt dies mit den vier Perspektiven zusammen, die das Baacke’sche Modell anspricht:

  • Kulturell als Vertrautsein mit den jeweiligen Codes der Medien sowie mit ihren ästhetischen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen. Dieser Aspekt verdeutlicht, dass Medien als elementarer Bestandteil in die Alltagskultur eingegangen sind. In diesem Sinne ist es notwendig, dass kompetente Nutzer die entsprechenden Codes zu lesen vermögen und Medienaussagen kompetent wahrnehmen und verarbeiten können.

  • Sozial als Fähigkeit, auf die mit den Medien verbundenen Kommunikationsangebote und -zumutungen sinnvoll und sachgerecht eingehen zu können. Beziehungen und Beziehungsangebote sind immer auch in mediale Kontexte eingebunden. Das betrifft nicht nur das Telefon, sondern auch die elektronischen Möglichkeiten von E-Mail, Internet, Facebook oder WhatsApp. Weil diese aber auch die Parameter der „realen“ Kommunikationsbedingungen verändern, ist es notwendig, sich auf diese neuen Beziehungsformen in besonderer Weise einzustellen.

  • Reflexiv als kritische Vergewisserung der Funktion der Medien in der Gesellschaft und als Medienkritik. Die kritische Medienreflexion ist eine traditionelle Zielsetzung der Medienpädagogik, die nichts von ihrer Bedeutung verloren hat – sondern infolge der Expansion der Medien und all den Fragen um den „digitalen Kapitalismus“ noch an Bedeutung gewinnt.

  • Technisch als Notwendigkeit, Medien richtig zu handhaben und die mit ihnen verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten zu beherrschen. Dieser Aspekt bezieht sich darauf, dass die Handhabung technischer Medien – schon bei einer gewöhnlichen Fernbedienung – oft recht kompliziert ist. Aber auch Computerprogramme, die „intuitiv“ zu bedienen sein sollen, verlangen mindestens eine Vertrautheit mit der zugrunde liegen Logik grafikorientierter Benutzeroberflächen sowie ein Grundwissen zum „Computational Thinking“.

In der Rückschau müssen allerdings auch einige grundsätzliche Schwierigkeiten und Kritikpunkte an den überkommenen Konzepten der Medienkompetenz hervorgehoben werden:

1. Einmal war der vom amerikanischen Linguisten Noam Chomsky (1992) übernommene Kompetenzbegriff sprachlogisch definiert, während er durch seine medienpädagogische Umdeutung sehr viele unterschiedliche Facetten umfasst – von der Medienkunde bis zur Mediennutzung. Es gibt also kaum eine klar definierte Grundstruktur oder „Grammatik“ der Medienkompetenz, sondern es werden darin – je nach Autor, der diesen Begriff verwendet – sehr unterschiedliche Anforderungen verpackt. Der Begriff der Sprachkompetenz rekurriert auf angeborene Fähigkeiten und ist deshalb sehr schwierig umzudeuten. In diesem Sinne kritisiert Kübler: „Schon gar nicht läßt sich die Chomskysche Sprachkompetenz pädagogisch einpflanzen, vermitteln, trainieren oder ausbauen. Sie bekommt man von der Natur als sprachfähiger Mensch mit, sie entfaltet und sozialisiert sich im jeweiligen sprachlichen Umfeld – wie alle Eltern jedesmal mit Erstaunen und Ehrfurcht bei ihren Kindern mitbekommen“ (Kübler 1996, S. 12). Man kann zwar versuchen, den Sprachbegriff auszuweiten, indem man auch die Codes der Bilder oder die (Programmier-)Logik des Computers als eine Art von Sprache fasst. Doch dies geht weit über den Begriff einer natürlichen Sprache hinaus, wie ihn Chomsky gefasst hatte.

2. Zudem hat sich vor allem im Schulbereich während der letzten Jahrzehnte ein Kompetenzbegriff entwickelt, der mit dem ursprünglichen Begriff der Medienkompetenz kaum mehr als den Namen gemeinsam hat. Dieser ist seit dem „PISA-Schock“ vor allem mit der Diskussion von Bildungsstandards verbunden: Nach den ernüchternden PISA-Ergebnissen von 2003 wurde als eine Reformmaßnahme die Einführung von allgemeingültigen Standards im Schulwesen vorangetrieben, welche generelle Leistungsanforderungen für die Schule – als deren „Output“ – formulierte. Dies betraf primär die schulischen Kernfächer wie „Deutsch“ oder „Mathematik“. Der medienpädagogische Kompetenzbegriff passte mit seiner kommunikationstheoretischen Ausrichtung kaum dazu. Denn die Messbarkeit von Kompetenzen stand hier gegenüber den gestaltungsorientierten Aktivitäten eines „kompetenten“ Handelns im Hintergrund.

Allerdings hat die Medienpädagogik in der Folge auch auf diese „neue Kompetenzdiskussion“ reagiert und sich im Hinblick auf Bildungsstandards für den Medienbereich positioniert. Erste konkrete Modelle zur Standardformulierung für die Medienbildung liegen – etwa mit den Arbeiten von Tulodziecki – vor. Tulodziecki, Herzig und Grafe (2010, S. 235 ff.) sehen vor diesem Hintergrund Medienkompetenz im Schulbereich unter folgenden Perspektiven:

  • Auswählen und Nutzen von Medienangeboten unter Beachtung von Handlungsalternativen

  • Eigenes Gestalten und Verbreiten von Medienbeiträgen

  • Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen

  • Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen

  • Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung

In einem eigenen Beitrag (Abb. 6.3) habe ich vorgeschlagen, neun Standards als Grundlage der Medienkompetenz zu definieren die dann weiter zu konkretisieren sind. Sie beziehen sich auf personale Kompetenzen („Können“, “Austausch“ und „Reflexion), die Jugendliche (weiter-)entwickeln sollen, und verknüpfen diese mit Bereichen der Medienkompetenz, die im Mittelpunkt des Handelns mit Medien stehen sollen.

Abb. 6.3
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Ein Standardmodell zur Umsetzung von Kompetenzmodellen. (Nach Moser 2010)

Im Sinne einer „Indikatorenbildung“ können zu den einzelnen Standards konkrete Ziele formuliert werden, die auf einer Verhaltensebene beschreiben, was die Erfüllung eines Standards bedeutet (Indikatoren zeigen an, ob und wie weit ein Standard erreicht ist). Ziel solcher Überlegungen ist es, die medienpädagogische Diskussion anschlussfähig an die Kompetenzdiskussion im schulischen Bildungsbereich zu machen und Kompetenzen in einer Form zu definieren, die sie empirisch überprüfbar machen.

So könnte etwa der Standard „routiniertes und mediengerechtes Handeln“ am Ende der 6. Klasse wie folgt umgesetzt werden:

Die Schülerinnen und Schüler

  • verfassen in Dreiergruppen einen Bericht kooperativ mit einer webbasierten Textverarbeitung;

  • berichten, wie sie ihr Handy im Alltag nutzen, und begründen ihre Nutzungsformen;

  • können Bilder von ihrer Digitalkamera routinemäßig vom Handy in eine Bildergalerie laden;

  • nutzen selbständig Lernprogramme, um individuell zu üben.

Der Vorteil einer Entwicklung von Standards und zugeordneten Indikatoren ist es, dass sie damit für eine Überprüfung des Lernerfolgs zugänglich werden – also eine Überprüfung der gelernten Kompetenzen möglich machen. Die Standarderreichung kann dabei in ganz unterschiedlicher und vielfältiger Weise überprüft werden:

  • Arbeitsberichte von Schülerinnen und Schülern

  • Dokumentationen von Schülerarbeiten in einem Portfolio

  • Umfragen bei den Schülerinnen und Schülern zum Gelernten

  • Kleine Tests über das Gelernte (z. B. im Multiple-Choice-Verfahren)

  • Aufgaben, die zeigen, ob das Gelernte in einem neuen Kontext angewandt werden kann etc.

  • Einschätzung der Erreichung der Standards durch die beteiligten Lehrkräfte und Schüler

  • Evaluation über gegenseitige Unterrichtsbesuche im Kollegium

Übung 6.1: Cookies als medienpädagogisches Projekt

Im medienpädagogischen Lehrmittel „medienkompass 1“ (2008) findet sich unter dem Titel „Ausgeschnüffelt und durchschaut“ der untenstehende Text zu „Cookies“.

„Cookies helfen, gezielt Angebote bereitzustellen.

Webseiten ‚merken‘ sich alles Mögliche. Dazu schreiben sie die Informationen in Textdateien und speichern diese Notiz auf die Festplatte des Computers, von dem aus gesurft wird. Diese Dateien werden Cookies genannt, was auf Deutsch eigentlich Kekse heißt. Wird die Seite zu einem späteren Zeitpunkt wieder besucht, dann sucht sie nach ihrem Cookie und liest die Angaben, die sie beim letzten Mal hinterlassen hat. Dabei kann jede Webseite nur die Cookies lesen, die sie selbst geschrieben hat. Auf diese Weise können Webseiten sich deine bevorzugten Einstellungen merken, aber auch welche Seiten du besucht hast, und wie lange du dort verweilt bist und weitere Angaben, die die Betreiberinnen und Betreiber der Website für ihre Zwecke nutzen wollen.

Cookies können sehr praktisch sein. In einem Internetforum beispielsweise, in dem über Fussball gefachsimpelt wird, können anhand der Cookies beim nächsten Besuch der Seite alle Beiträge gezeigt werden, die seit dem letzten Besuch dazugekommen sind. Oder es wird direkt der Diskussionsbereich angezeigt, der bisher vom betreffenden Computer am meisten besucht wurde“ (medienkompass 1, 2008, S. 62).

Allerdings gehören „Cookies“ auch zu den ungebetenen Gästen auf den eigenen Webseiten, die Werbung einblenden und Daten abgreifen, deren Weiterverwendung für den User oft unklar bleibt. Gerade um den Begriff der Cookies dreht sich oft auch die Kritik um „Big Data“.

Gestalten Sie für dieses Thema im Rahmen der Schule oder der Jugendarbeit einen Nachmittag zum Thema „Cookies“. Gehen Sie dabei wie folgt vor:

  1. 1.

    Überlegen Sie sich anhand des Standardmodells (Abb. 6.3), in welchen Bereichen Sie in Ihrem Projekt Schwerpunkte setzen wollen (z. B. mehr beim Grundlagenwissen oder bei der Reflexion.

  2. 2.

    Erstellen Sie einen Projektvorschlag als Skizze, der Standards und dazu Indikatoren enthält.

  3. 3.

    Beschreiben Sie Ihr Projekt in einer Zusammenfassung und vergleichen Sie Ihren Vorschlag mit solchen von Mitstudierenden. Wie unterscheiden sich diese Vorschläge? Bei welchen Standards werden jeweils Schwerpunkte gesetzt? Fehlen noch Aspekte in Ihrer Skizze, die in einem Anschlussprojekt mit den Jugendlichen erarbeitet werden müssten?

Nun ist die Diskussion zu Bildungsstandards in der Medienpädagogik nicht unkritisch geführt worden. Denn Medienkompetenzen waren seit Baacke immer offen und in kommunikativer Aushandlung mit den Kindern und Jugendlichen definiert worden – und nicht als enggeführte Verhaltensziele. Darauf verweist auch Gerhard Tulodziecki: „Gelungene medienpädagogische Aktivitäten, z. B. die Erstellung eines Hörbeitrags oder einer Website, zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass sich Lehrkräfte und Schüler in einem offenen Prozess auf eine bestimmte Aufgabe einigen, eine gemeinsame Planung durchführen, eigenständig Produkte oder Lösungen für die vereinbarte Aufgabe entwickeln, ihre Produkte oder Lösungen diskutieren und abschließend Ergebnis und Prozess reflektieren. Durch das Vorhandensein von Bildungsstandards besteht die Gefahr, dass am Anfang des Lernprozesses nicht mehr ein Verständigungsprozess zwischen Lehrenden und Lernenden bezüglich gemeinsamer Aktivitäten steht, sondern ein Bildungsstandard, der als vorgegebenes Ziel aufgefasst wird und damit unter Umständen wünschenswerte Prozesse unterbindet“ (Tulodziecki 2007, S. 25).

In der Erziehungswissenschaft ist zudem die Einführung von Bildungsstandards auch unter dem Stichwort „teaching to the test“ kritisiert worden. Man befürchtet, dass die Schulen sich immer stärker auf die Erfüllung von Standards ausrichten und sich letztlich viel zu stark um das Bestehen der Testaufgaben kümmern, die im Rahmen solcher Standards formuliert wurden. Eine Engführung des Unterrichts auf Testanforderungen bedeutet aber letztlich eine verstärkte Verschulung. Sie kann am ehesten dort ausgeschlossen werden, wo man Kompetenzen nicht als Qualifikationen, sondern als Selbstorganisationsfähigkeiten betrachtet.

Hilfreich zur Weiterentwicklung des Kompetenzbergriffs könnte dazu die aus der Perspektive der Erwachsenenbildung formulierte Konzeption von Erpenbeck und Sauter (2007) sein. Die Autoren bestehen darauf, dass Kompetenzen von Qualifikationen zu trennen sind: Qualifikationen sind in dieser Sichtweise primär auf die Erfüllung vorgegebener Zwecke gerichtet. Demgegenüber sind Kompetenzen als Dispositionen bzw. Fähigkeiten zu verstehen, selbstorganisiert zu denken und zu handeln sowie sich selbst in Bezug auf den betroffenen Kompetenzbereich weiterzuentwickeln (Tab. 6.1).

Tab. 6.1 Der Unterschied zwischen Qualifikationen und Kompetenzen

Wenn es also um Kompetenzen im Bereich der Medienpädagogik geht, so sollten diese nicht mit – meist technisch spezifizierten – Qualifikationen verwechselt werden. So stellen die folgenden Zielsetzungen des Unterrichts nach den Überlegungen von Erpenbeck und Sauter noch keine Kompetenzen dar:

  • Die wesentlichsten der vorgegebenen Layoutformen im Textverarbeitungsprogramm beherrschen

  • Das Betriebssystem des Rechners installieren, warten und neu aufsetzen können

  • Fotos von der Digitalkamera auf den Rechner übertragen und zur qualitativen Verbesserung bearbeiten können

  • Das Profil in Facebook auf die eigenen Sicherheitsbedürfnisse einstellen können

Kompetenzförderung steht dagegen dann im Fokus, wenn Schülerinnen und Schüler lernen,

  • notwendige Schutzbedürfnisse im Netz zu erkennen und die Regeln der „Privacy“ an ihrem eigenen Rechner umzusetzen;

  • für die eigenen Kommunikationsbedürfnisse im Netz verschiedene Social Communities zu vergleichen und sich mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen auseinanderzusetzen;

  • Medienerfahrungen anhand biografischer Fundstücke zu analysieren (vgl. Die Ausführungen zum „Kuratieren“ in Kap. 7) und damit die eigene Entwicklung der Identitätsproblematik zu reflektieren;

  • Mechanismen und ihre Folgen zu beschreiben, die Handys zu Datensensoren machen.

3. Die konkrete Ausformulierung der verschiedenen Dimensionen der Medienkompetenz bei Baacke kann – trotz vieler Anschlussmöglichkeiten – nicht vergessen lassen, dass diese zu einer Zeit formuliert wurde, als von Computern als Medium erst am Rande die Rede war. So ging es Baacke und seinen Nachfolger(inne)n bei der Medienkritik stark um die Medienproduktionen im analogen Zeitalter von Rundfunk und Fernsehen – was auch nicht verwunderlich ist, weil die traditionellen Medienkonzerne damals noch in voller Blüte standen.

Die Frage stellt sich insbesondere, ob in den Zeiten von Google, Facebook, Amazon und Apple die traditionellen Medienkonzerne (Presse, Film und Fernsehen) und ihre Produkte noch jene Organisationen sind, auf die sich Medienkompetenzen wie die Medienkritik primär beziehen sollten. Es scheint nicht mehr so sicher, dass im Zeitalter der Digitalisierung der traditionelle Begriff der Medienkompetenz seine Bedeutsamkeit noch behalten kann. Harald Gapski jedenfalls spricht von „Entgrenzungen“, „Verschiebungen“ und „Überforderungen“ einer in die Jahre gekommenen Metapher. Seine Kritik verdeutlich dies am Beispiel des Autofahrens: „Worin besteht die Kompetenz des menschlichen Autofahrers bzw. des Mediennutzenden, wenn – mithilfe von Navigationsdaten, Daten anderer Verkehrsteilnehmender, Wetter-, Straßen- und Kontextdaten – das ,Medium Auto‘ selbständig den besten und schnellsten Weg von A nach B findet? Wenn das autonome Auto selbst Verkehrsregeln beachtet und entscheidet, wieviel Kraftstoff verbrannt wir? Was bleibt, ist die Entscheidung, das Auto nicht zu nutzen, das Transportmittel zu wechseln – eine Handlungsoption, die in Zeiten des ,always on‘ und des Internet der Dinge zunehmend obsolet wird“ (Gapski 2016, S. 19). Gapski deutet damit an, dass viele jener Phänomene, die unter dem Stichwort Internet 4.0 diskutiert werden, durch traditionelle Konzepte der Medienkompetenz nicht abgedeckt werden.

Wie Benjamin Jörissen betont, entstammt der Begriff der Medienkompetenz einer Auffassung, welche die Kommunikationsaspekte der Medien in den Vordergrund stellte. Diese hätten zwar immer noch eine wichtige Bedeutung, aber man müsse den Blick weiten: „Dann sieht man, dass die Medienpädagogik im Verhältnis kleiner und der Bereich des Digitalen grösser wird. Es ist ein riesiger Bereich entstanden, zu dem die Medienpädagogik nicht viel gesagt hat, weil sie stark an dem kommunikationstheoretischen Paradigma festgehalten hat. Aber damit können wir keine Software Studies betreiben oder verstehen, wie Algorithmen oder soziale Netzwerke funktionieren“ (Jörissen 2016, S. 29).

Durch die Digitalisierung haben sich denn auch die Objekte, auf die sich die Medienkompetenzen bezogen, entscheidend verändert (vgl. Tab. 6.2): Die audiovisuellen Medien des letzten Jahrhunderts kamen von außen, sie waren externe Medien, die mit bestimmten Geräten verbunden waren (Fernseher, Radio, Film etc.). Medienkonsum bezog sich deshalb auf bestimmte Situationen und Orte, wo man sich den Medien aussetzte – sie konsumierte oder aktiv mit ihnen umging. Und nicht zuletzt konnte man diese Medien jedoch an- und abschalten bzw. sich ihnen entziehen, wenn man sich außerhalb der Reichweite ihres Schweinwerfers begab.

Tab. 6.2 Die Integration von analogen und digitalen Medien im Alltag

Heute ist der gesamte Alltag zum Teil einer medial verfassten Lebenswelt geworden. Natürlich kann man bestimmte Geräte weiterhin ausschalten oder sich ihrer Nutzung verweigern. Charakteristisch ist aber eher jene Entwicklung, die zum Beispiel bei den Handys zu Flatrates geführt hast, welche es ermöglichen „always on“ zu sein. Medien werden damit omnipräsent und sind in der Form des Smartphones oder Laptops überall dabei. Für Tickets im öffentlichen Verkehr gibt es bald keine Schalter und Automaten mehr. Sie werden über Apps bezahlt oder vielleicht bald automatisch abgebucht, wenn man in einen Zug einsteigt. Smart Home oder selbstfahrende Autos sind im Alltag immer stärker automatisch integriert und lassen es nicht zu, dass man auf sie verzichtet.

Zwar sind mit Internet-Diensten wie Facebook, Twitter oder Instagram und der mobilen Kommunikation über das Handy immer noch die kommunikativen Möglichkeiten ein wichtiger Treiber der digitalen Entwicklung. Doch im Mittelpunkt der digitalen Ökonomie stehen nicht mehr die großen früheren Medienkonzerne, welche die Massenkommunikation dominierten. Großverlage oder Filmproduktionsgesellschaften werden immer stärker abgelöst durch digitale Konzerne wie Google, Facebook, Samsung oder Apple. Sie entwickeln und verkaufen die Plattformen, auf denen das jeweilige mediale Interface beruht (Couldry 2012, S. 14). Der überwiegende Gewinn dieser neuen Medienmonopole entstammt auch nicht den kommunikativen Angeboten (soziale Dienste, Filme auf YouTube, Mail- und Nachrichtenprogramme etc.), sondern den Daten, die gesammelt und vermarktet werden. Daten bzw. die Auseinandersetzung mit ihnen sind es denn auch, die immer stärker den Kern der aktuellen Medienauseinandersetzung im digitalisierten Zeitalter ausmachen.

Dazu gehören Aspekte wie „Big Data“, also die Aufzeichnung und Auswertung von Daten in einem riesigen Stil – wo sogar noch das Handy der Bundeskanzlerin vom amerikanischen Geheimdienst abgehört wird. Menschen werden so zur gläsernen Persönlichkeit, deren Präferenzen man bis hin zum Kaufverhalten kennt, wobei man diese für personalisierte Werbeeinblendungen in Apps wie Facebook nutzen kann. Und die Entwicklung geht immer weiter: „Internet und Fernsehen, Haushaltgeräte aller Art sowie die Haushaltsinfrastruktur wie Strom-, Gas- und Wasserversorgung (Stichwort: ‚smart metereing‘), aber auch mobile Geräte mit Geo-Informationen werden weiter miteinander verschmelzen. Das ,Internet der Dinge‘ wird immer mehr Daten aus der Sensorik von Geräten liefern, die wir zum Teil selbst betreiben und ständig bei uns tragen und deren Daten uns – zumindest theoretisch – durch verfügbare Technologien auch persönlich zugeordnet werden können. In der Konsequenz werden immer mehr Daten über den Einzelnen zur Verfügung stehen – gerade auch aus persönlichen Lebensbereichen“ (Bachmann et al. 2014, S. 20).

Mit dem Internet der Dinge wird es immer unwahrscheinlicher, dass man sich den Medien noch entziehen kann. Denn die Datenkommunikation ist direkt in die Alltagsgegenstände eingebaut: Über Daten-Interfaces wird automatisch die Heizung oder die Lichtanlage, die in der Dämmerung eingeschaltet wird, reguliert. Dabei entstehen neue Zwänge: Wenn einmal das autonome Fahren serienmäßig in die PKWs eingebaut ist, wird man kaum mehr die Wahl haben, darauf zu verzichten.

Für das Konzept von Medienkompetenzen ist diese Entwicklung zwiespältig: Einerseits werden diese – etwa im Sinn einer Medienkritik, welche hinter die Oberfläche schaut – immer unumgänglicher und wichtiger. Denn immer weniger geht es im Alltag ohne den Umgang mit digitalisierten Prozessen: Wo Bahn- und Bankschalter schließen, wird man nicht mehr darum herumkommen, seine Geschäfte online über das Internet zu tätigen. Die digitalisierte Gesellschaft scheint mit dem sich wie ein Spinnennetz ausbreitenden Internet der Dinge immer selbstverständlicher und alternativlos zu werden.

Wenn aber das Handeln über automatisierte Algorithmen abläuft, wird es in solchen Kontexten so weit vereinfacht, dass es keine spezifischen Kompetenzen mehr braucht. Die komplexe Bedienung von Fahrkartenautomaten dürfte zum Beispiel bald schon durch einfache Abrechnungssysteme, die weitgehend übers Handy laufen, abgelöst werden. Und weil die Medien oft fast unkenntlich zur Steuerung im Alltag eingebaut sind, wird das entstehende Internet der Dinge immer weniger bewusst vermittelte Kompetenzen im technischen Umgang mit digitalisierten Medien benötigen. Dieser Wandel geht bis hin zu jenen im Medienzeitalter dominierenden Fragen, wie lang und intensiv der Medienkonsum pro Tag oder pro Woche sein darf. Solche Fragen werden rasch unsinnig, wenn Medien und Alltag ein integriertes Ensemble darstellen und fast alle Menschen immer online und an die Medienkreisläufe angeschlossen sind.

Letztlich bedeutet dies, dass die alltäglichen Lebensräume zu Medienräumen geworden sind, in die Kinder und Jugendliche im Rahmen des Sozialisationsprozesses automatisch hineinwachsen. Das bedeutet nicht zuletzt, dass World Wide Web und Internet längst in die alltäglichen Lebenswelten integriert sind und auch, dass die Trennung in virtuelle Welten und realen Alltag nur mehr wenig Sinn macht. In dieser Perspektive ist es auch wenig sinnvoll, Kinder im Sinne der Bewahrpädagogik von den Gefahren der Medien, die von außen kommen, abschotten zu wollen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Bildungs- und Subjektivierungsprozesse grundsätzlich in medial geprägten kulturellen Lebenswelten und in medialen Interaktionszusammenhängen stattfinden (vgl. Marotzki und Jörissen 2008, S. 100).

6.3 Das Konzept der Medienbildung

Die dargestellten Veränderungen der Mediensysteme haben dazu geführt, dass in den letzten Jahren der Begriff einer „Medienbildung“ in den Mittelpunkt medienpädagogischer Überlegungen getreten ist. Der traditionelle Begriff von Medienkompetenzen reicht nicht mehr aus, um die Bedeutung der Medien in der heutigen Gesellschaft zu charakterisieren. So spricht Michael Kerres (2017) von Medienkompetenz oder -bildung als „Bildung in einer durch digitale Technik geprägten Welt“. Er erläutert dies: „Da die Digitalisierung die Lebenswelt maßgeblich durchdringt, erfahren wir diese durch digitale Medien. Unsere Teilhabe an Kultur, die Kommunikation mit Anderen basiert weitreichend auf digitalen Medien und auch unsere Sicht auf uns selbst wird beeinflusst durch Artefakte, die wir mit digitalen Werkzeugen herstellen. In dieser Sicht wird anerkannt, dass die Medienthematik nicht mehr ‚neben‘ anderen Lerngegenständen steht, wie dies in einer früheren Medienpädagogik – und den analogen Medien – gebräuchlich war“ (Kerres 2017, S. 95).

Ausgangspunkt ist dabei die „Medialität“ von Bildungsprozessen (Spanhel 2011, S. 110), nämlich die Frage, wie das Bewusstsein und die Reflexion des Medialen im Entwicklungsprozess gefördert werden kann. Wenn die mediale Vermittlung von gesellschaftlichen Handlungsprozessen über ein technisches Interface „verschwindet“, so wird die Entwicklung eines Medialitätsbewusstseins zu einem vorrangigen Ziel von Bildungsprozessen. Bildung ist dabei mit Orientierungsleistungen verbunden, indem – wie es Marotzki und Jörissen beschreiben – „vorhandene Strukturen und Muster der Weltaufforderung durch komplexere Sichtweisen auf Welt und Selbst ersetzt werden“ (Marotzki und Jörrissen 2008, S. 100).

Allerdings ist für Menschen, die in diese Gesellschaft hineinwachsen, der Komplex der Medien erst einmal eine Welt, die ihnen als Objekt gegenübersteht (vgl. dazu Moser 2010). Es scheint, dass wir uns eine „fremde“ Realität aneignen müssen – wobei wir übersehen, dass diese Realität durch die Menschen selbst bereits über mediale Vermittlung konstruiert ist.

Damit hat dieses Mediensystem zur Entfremdung der Menschen von ihrem Alltag beigetragen: Es ist für uns oft nicht mehr klar, wo die reale Welt endet und wo die virtuellen Welten beginnen, welche Beziehungen bzw. welche Anteile an ihnen medial vermittelt oder allein face-to-face bedingt sind. Wir fühlen uns den Medien ausgesetzt und als ihr Objekt und Spielball: Ist ein Ereignis nur aufgrund der Medien so wichtig oder weil es „wirklich“ bedeutsam ist – oder ist es erst dann „wirklich“ bedeutsam, wenn darüber in den Medien berichtet wird? Sind die Prozesse des Internets der Dinge quasi naturgegeben vorausgesetzt oder gibt es auch da Handlungsspielräume und Einflussmöglichkeiten?

Herzig hat dieses Mediensystem wie folgt beschrieben: „Medien können somit als Mittler verstanden werden, durch die in kommunikativen Zusammenhängen (potenzielle) Zeichen mit technischer Unterstützung übertragen, gespeichert, wiedergegeben oder verarbeitet und in abbildhafter oder symbolischer Form präsentiert werden“ (Herzig 2016, S. 62). Es handelt sich um ein Interface, das mit Kommunikation über technische Prozesse verbunden ist. Kommunikation als Zentrum des Medienbegriffs reicht danach nicht aus:

„Ein solcher Medienbegriff rekurriert also nicht nur auf das Artefakt als Gegenstand, auf die vermittelnde Funktion und die kommunikative Situation, sondern auch auf die Bedeutung der technischen Bedingtheit dessen, was sich uns als Medienangebot zeichenbasiert offeriert (oder wir selbst als solches gestalten). Auf die besonderen Eigenschaften computerbasierter Medien wird in der genannten Definition mit der Funktion der Verarbeitung von Zeichen hingewiesen“ (Herzig 2016, S. 62). Im Grunde gibt es damit zwei Möglichkeiten für Schnittstellen – eine, die über technische Prozesse und Algorithmen verläuft und eine zweite, die über Kommunikation zugänglich ist. Computerbasierte Medien beruhen denn auch nach Herzig auf der einen Seite auf ihren Rechenfunktionen, die Gegenstand der Informatik sind. Dies wäre kein Problem, wenn diese technische Basis für pädagogische Fragen nicht relevant wäre und sich die medienpädagogische Auseinandersetzung auf die wahrnehmbare Oberfläche beschränken könnte. Jedoch sind indessen beide Seiten – technische Basis und Kommunikation und Interaktion mit dem Computer – in der digitalen Gesellschaft medienpädagogisch zentral.

Abb. 6.4 verweist auf die beiden Formen von Schnittstellen, über die wir mit der digitalisierten Welt in Verbindung treten: Einmal sind es die kommunikativen Dienste, von Wikipedia bis zu Mailverkehr und Sozialen Diensten wir Facebook, die uns zum Handeln auffordern. Es ist jener Teil, des Internets, der als Web 2.0 auch als „Mitmachweb“ gekennzeichnet wurde. Dieser Teil scheint für unsere Eingaben und Kommunikationen offen. Irritiert werden wir allenfalls, wenn auf dem Display unsere Handys eine Nachricht wie die folgende (Abb. 6.5) finden: „Reminder. Anscheinend wachen Sie um 8:00 auf.“

Abb. 6.4
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Das digitale Interface und seine Schnittstellen

Abb. 6.5
figure 5

Was das Handy alles von uns weiß

Warum weiß das Handy, dass man um 8 Uhr aufsteht, wie viele Schritte man am Tag macht, wo man sich im letzten Monat überall aufgehalten hat etc.? „BigData“ stehen auch hier Datensensoren zur Verfügung, die ohne unser Zutun viel mehr über uns wissen, als wir selbst ahnen. Natürlich kann man solche Angaben sperren, aber dafür muss man erst einmal mehr über die Funktionsweise des Handys wissen.

Die Betreiber von Webseiten sind zudem auch bestens darüber informiert, wenn wir – zum Beispiel im Rahmen einer schulischen Lektion zum „sicheren Computer“ – versucht haben, unseren PC möglichst werbefrei zu halten und dazu einen Adblocker heruntergeladen haben. So poppt beim Surfen – hier auf „bento“ – plötzlich die ultimative Aufforderung auf, dieses Programm auszuschalten, wenn man die Inhalte, die man suchte, auf dem Bildschirm lesen will (Abb. 6.6).

Abb. 6.6
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Aufforderung, den Adblocker auszuschalten

Schnittstellen fordern uns allerdings nicht nur zu eigenen Eingaben auf, wenn sie wirksam sein wollen: Versteckte Algorithmen in Autos, im öffentlichen Verkehr, in der Wirtschaft und generell im Alltag werden uns auch ungefragt steuern, je mehr das „Internet der Dinge“ in den Alltag eingreift. Eine solche fremdgesteuerte Welt ist nun aber gerade das Gegenteil dessen, was die Propheten eines partizipativen Internets für die Zukunft prognostizierten.

Im Gegenteil dazu bedeutet Medienbildung, sich diese entfremdete Welt wieder anzueignen – und zu erkennen, dass sie von den Menschen selbst gemacht und verantwortet ist. Sie hat die Aufgabe, Bildungsprozesse zu unterstützen, die deutlich machen, wie Medien Werkzeuge der Menschen sind, um die Welt zu verstehen und über sie zu kommunizieren.

Vertreterinnen und Vertreter aus der Medienpädagogik und der Informatik haben 2016 ein Konzept für eine Bildung in der digitalen Welt veröffentlicht, das davon ausgeht, dass ohne ein Verständnis der grundlegenden Konzepte der digitalen vernetzten Welt Bildungsprozesse heute zukunftsfähig nicht mehr gestaltet werden können. Sie entwickelten in ihrer „Dagstuhl-Erklärung“ das nachfolgende Modell (vgl. Abb. 6.7), das die Kompetenzen zum sachgerechten Agieren und zum aktiven Mitgestalten in der digitalen Welt „in einer anwendungsbezogenen, einer gesellschaftlich-strukturellen und einer technologischen Sichtweise auf Phänomene, Artefakte, Kontexte und Systeme der digitalen Welt strukturiert“ (Brinda 2017, S. 176).

Abb. 6.7
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Das Dagstuhl-Modell der Bildung in einer vernetzten Welt. (Dagstuhl-Erklärung 2016, S. 3)

Das Dagstuhl-Modell richtet sich dabei vor allem an der Schule aus und fordert eine nachhaltige und strukturell verankerte Bildung für die digital vernetzte Welt. Dazu sei es notwendig, die Erscheinungsformen der Digitalisierung unter technologischer, gesellschaftlich-kultureller und anwendungsbezogener Perspektive zu betrachten. Nur deren gemeinsame didaktische Bearbeitung könne zu einer fundierten und nachhaltigen Bildung in der digitalen vernetzten Welt führen (vgl. Dagstuhl-Erklärung 2016), wie es Abb. 6.7 verdeutlicht.

Dabei ist positiv der integrierte Ansatz zu sehen, der Technologie und die kulturelle Ebene der Digitalisierung miteinander verbindet. Diese Wechselwirkungen der digital vernetzten Gesellschaft mit den Individuen und der Gesellschaft werden vor allem unter der gesellschaftlich-kulturellen Perspektive angesprochen. Dazu heißt es bei Dagstuhl: „Sie geht z. B. den Fragen nach: Wie wirken digitale Medien auf Individuen und die Gesellschaft, wie kann man Informationen beurteilen, eigene Standpunkte entwickeln und Einfluss auf gesellschaftliche und technologische Entwicklungen nehmen? Wie können Gesellschaft und Individuen digitale Kultur und Kultivierung mitgestalten?“ (Dagstuhl-Erklärung 2016, S. 3).

Allerdings gewinnt man den Eindruck, dass das gesamte Dagstuhl-Modell dennoch stark von einer funktionalistischen Perspektive gesteuert ist – vor allem, wenn man die drei in (Abb. 6.7) genannten Fragen als den zentralen Kern des Modells betrachtet: Wie wirkt das? Wie funktioniert das? Wie nutze ich das? Hier bietet das Baacke’sche Kompetenzmodell mit seiner im Mittelpunkt stehenden Fragen der Medienkritik nach wie vor eine Alternative, mit der primären Forderung, sich analytisch, ethisch und reflexiv mit den Medien auseinanderzusetzen.

Medienkritik geht weiter als ein Medialitätsbewusstsein und ein daraus entstehendes funktionales Verständnis im Umgang mit Medien, das die Reflexion auf die Mediensphäre beschränkt. Auch die Umformung von Medienkompetenzen in die Forderung nach Datenschutzkompetenzen ist zu eng, wie sie im Hamburger Memorandum von 2011 für eine verpflichtende informatische Bildung und Medienbildung gefordert wird: „Wenn der kompetente Umgang mit Medien und informationsverarbeitender Technik eine zentrale Kulturtechnik ist, dann muss sie, wie die klassischen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen, alle Schülerinnen und Schüler erreichen und in einem verbindlichen Fach oder Lernbereich verankert werden. Hier wäre dann auch Raum für die wichtige Aufgabe der Förderung der Datenschutzkompetenz, die Schülerinnen und Schülern ein selbstverantwortliches Verhalten in der digitalen Gesellschaft erst ermöglicht“ (https://www.ew.uni-hamburg.de/ueber-die-fakultaet/personen/breier/files/memorandum-pdf.pdf).

Es ist zwar sinnvoll, dass man lernt, seine eigenen Daten möglichst gut zu schützen – auch wenn dies oft mit dem bewahrpädagogischen Unterton versehen ist, damit einen „sicheren Umgang“ im Netz zu gewährleisten. Doch genauso muss man sich bewusst sein, dass dieser Schutz jederzeit prekär bleibt und gehackt werden kann. So ist damit kaum gegen „Big Data“ anzukommen; im schlimmsten Fall wird sogar die Illusion vermittelt, man habe es selbst in der Hand zu vermeiden, dass die eigenen Daten abgegriffen werden – bis dann, wie es in Abb. 6.6 zum Ausdruck kommt, Zeitungen und Zeitschriften ostentativ verlangen, den vermeintlich schützenden Adblocker auszuschalten.

Zwar ist seit 2018 das das neue Datenschutzrecht der Europäischen Union in Kraft. Damit sollen persönliche Daten besser geschützt werden, sodass zum Beispiel der eigene Name, die Adresse und die Handynummer von Unternehmen wie Facebook und Google nicht mehr ohne Weiteres gespeichert und verwendet werden dürfen. Viele Nutzerinnen und Nutzer dürften jedoch die Erklärungen dazu, die sie unterschrieben haben, kaum durchgelesen haben.

Selbstverantwortliches Verhalten in der digitalen Gesellschaft geht über die instrumentelle und funktionale Anwendung von Medien hinaus und ist zuallererst mit einer Medienkritik verbunden, die sich als Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft und den Alltag versteht – mit Fragen wie:

  • Wie hat sich unser Leben und unsere Kultur durch die Medien verändert –positiv, aber auch mit Bezug auf problematische Tendenzen?

  • Welche Errungenschaften einer „vordigitalen“ Welt müssen für eine lebenswerte Zukunft erhalten bleiben?

  • Wie müsste ein „gutes Leben“ vor dem Hintergrund eines digitalisierten Alltags aussehen?

  • Wie werde ich durch die Prozesse der Digitalisierung beeinflusst und wie kann ich mich in diese neue „digitale“ Kultur aktiv und kritisch einbringen?

  • Welche Forderungen an die Politik müssten die Ansprüche des digitalen Kapitalismus begrenzen?

Übung 5.2: Facebook und seine jugendlichen Nutzer

Fridtjof Küchemann kritisiert in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass im Rahmen der europäischen Datenschutzgrundverordnung das Mindestalter für die Nutzung von WhatsApp von 13 auf 16 Jahre hinaufgesetzt wurde.

„Es ist nicht etwa so, dass Whatsapp die Eltern im Stich ließe. Die auch unter Kindern und Jugendlichen populärste aller Messenger-Apps hatte ihre Nutzer schon einen Monat vor Inkrafttreten der neuen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) Ende Mai auf Veränderungen vorbereitet – und kurzerhand das Mindestalter für die Nutzung in der EU auf sechzehn Jahre heraufgesetzt. Whatsapp wird nicht nur von 97 Prozent der bei der aktuellen Mediennutzungsstudie Jim 2017 befragten sechzehn bis neunzehn Jahre alten Teenager täglich oder zumindest mehrmals pro Woche genutzt, sondern auch von 95 Prozent der vierzehn bis fünfzehn und von 85 Prozent der zwölf bis dreizehn Jahre alten Jugendlichen. Die müssten nun leider draußen bleiben – aus ihrem mit Abstand beliebtesten Kommunikationskanal, über den sich nicht allein jugendliche Freunde bevorzugt austauschen, sondern auch Familien, Sportvereine und Schulklassen“ (Küchemann 2018).

Und was Küchemann besonders stört: „Die müssen ihren unter sechzehn Jahre alten Kindern jetzt nicht etwa das Smartphone entwinden, um das Whatsapp-Konto und die App zu löschen. Sie können ihr Kind auch beim Unternehmen anzeigen, unter der eigens eingerichteten Adresse agereport@support.whatsapp.com. Alles, was verlangt wird, ist ein Eigentumsnachweis für die Mobilfunknummer, mit der das Whatsapp-Konto verbunden ist, dazu eine Kopie der Geburts- oder Adoptionsbescheinigung zum Nachweis der elterlichen Gewalt. ,Wir werden den Whatsapp Account sofort deaktivieren, wenn es vernünftigerweise nachweisbar ist, dass das Konto deinem minderjährigen Kind gehört‘, verspricht Whatsapp und stellt gleich klar: ,Du erhältst keine Bestätigung dieses Vorgangs‘.“ So meint Küchemann: „Was unter den frequently asked questions bei Whatsapp wie ein Routinevorgang erscheinen soll, wirkt im familiären Zusammenleben beschämend, belastend und absurd“ (Küchemann 2018).

Wie beurteilen Sie die neue Altersgrenze von 16 und das Vorgehen von Facebook?

6.4 Die Auseinandersetzung mit den „digitalen Lebensstilen“

Im Rahmen von Bildungsprozessen und der zunehmenden gesellschaftlichen Digitalisierung spielt in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit „digitalen Lebensstilen“ eine wichtige Rolle. Denn alltägliche Routinen und Handlungsaufgaben werden immer häufiger im Rahmen eines digitalen Medienkontexts vollzogen. Diese Hybridisierung von lebensweltlichen Räumen lässt sich im generationenspezifischen Verlauf auch empirisch nachzeichnen (Moser und Scheuble 2014, S. 80): In einer Umfrage im Rahmen einer Ausstellung zum „digitalen Leben“, die 2011 im schweizerischen Lenzburg stattgefunden hatte, äußerten sich Befragte aus allen Altersgruppen zum Beispiel zu folgenden Fragen, die einen Verhaltenswandel im Zeitalter der digitalen Medien (hier im Rahmen der Handykommunikation) ansprechen:

  • Reicht es aus mit eine SMS zu antworten, wenn ein guter Freund zum Geburtstag gratuliert? Hier gehen die Meinungen stark auseinander Während 47,7 Prozent der Meinung sind, es reiche nicht aus, stimmen 52,3 Prozent zu.

  • Auf die Frage, ob eine SMS ausreiche, um eine Beziehung zu beenden, wenn man nach ein paar Monaten merke, dass die Beziehung keine Zukunft habe, antworteten 88,2 Prozent mit „Nein“ und nur 11,8 Prozent mit „Ja“.

  • Und wie ist es, wenn die Mutter einer entfernten Bekannten gestorben ist? Darf man dann sein Beileid per SMS bekunden? 86,9 Prozent der Befragten meinen „Nein“ und nur 13,1 Prozent „Ja“.

Einerseits wird in der Umfrage deutlich, wie unsicher die Meinungen in einer sich entwickelnden „digitalen Lebenswelt“ noch sind (bzw. zum Zeitpunkt der Umfrage waren). Die Antworten vermitteln den Eindruck, dass die früheren Regeln des „realen Lebens“ bei der virtuellen Beziehungspflege nicht einfach ausgeschaltet sind. Vertrauen ist eine Ressource, die auch im „virtuellen Leben“ nicht ungestraft verletzt wird. Sogar wenn es um die Mutter einer entfernten Bekannten geht, erscheint es nicht angebracht, ausschließlich mit einer elektronischen Nachricht zu reagieren.

Allerdings zeigte die Auswertung entlang der Alterslinien, dass sich Veränderungen abzeichnen: So ist bei der älteren Generation der über 21-Jährigen die traditionelle Lösung bei den Geburtstagswünschen (p = .003), bei der Beendigung einer Beziehung (p = .000) und bei den Kondolenzbezeugungen (p = .001) dominanter. Dieser Generationenunterschied ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Erfahrungen zu interpretieren: Wer wie die Jüngeren digitale Medien häufiger und intensiver nutzt, wird ihren Gebrauch eher ausweiten – auch auf Situationen, die früher nicht mit „flüchtiger“ Medienkommunikation bewältigt worden wären.

Im Anschluss an die Lenzburger Studie ist zu vermuten, dass sich dieser Wandel in den letzten Jahren noch beschleunigt hat. Seit fast alle Jugendlichen über einen Facebook-Account verfügen, ist es ganz selbstverständlich geworden, dass man sich zum Geburtstag über die sozialen Medien gratuliert. inwieweit Ähnliches auch für die beiden anderen Fragen zutrifft, ist in diesem Rahmen schwer zu beurteilen. Insgesamt kann jedoch aus der Lenzburger Studie geschlossen werden, dass die Integration der digitalen Medien in das Verhaltensrepertoire der Menschen nicht ohne Brüche erfolgt. Dies führt oft zu Widersprüchlichkeiten, aber auch zu Hilflosigkeit und Unsicherheit über die aktuell geltenden Regeln und Routinen.

„Habe per Whatsapp mit Adela Schluss gemacht“

In der Online-Zeitung „20 minuten“ war am 5. Juli 2018 folgendes Interview mit dem Schweizer Bachelorette-Gewinner Cem Aytac zu lesen:

„Cem, du hast heute per Insta-Video die überraschende Trennung von Adela mitgeteilt. Was ist passiert?

Ja, mein Post hat viele Reaktionen ausgelöst, mein Handy steht seither nicht mehr still. Die Gründe für die Trennung habe ich im Video genannt, mehr gibts dazu nicht.

Du sagst, sie habe sich seit Drehschluss keine Zeit für dich genommen. Habt ihr euch denn gar nie gesehen?

Leider zu selten, um eine ernsthafte Beziehung aufbauen zu können.

Gestern hast du ihr noch Diamanten gekauft.

Nein, die waren nicht für Adela. Die waren für meine Mami.

Adela ist gerade auf Bali. Wie hast du Schluss gemacht?

Per Whatsapp-Nachricht. Das ist eigentlich nicht meine Art, aber es war nicht anders möglich. Und ich sah schlicht keinen Sinn mehr in der Beziehung.

Wie hat sie denn reagiert?

Keine Ahnung, ich werde zurzeit mit Nachrichten überschwemmt und konnte noch nicht alle lesen. Ob sie sich schon gemeldet hat, weiss ich nicht“ (http://www.20min.ch/people/schweiz/story/-Ich-habe-per-Whatsapp-mit-ihr-Schluss-gemacht--13787191).

Wie finden Sie das Vorgehen von Cem Aytak? Darf man im digitalen Zeitalter eine Beziehung auf diese Weise „elektronisch“ beenden? Nehmen nach Ihrer Wahrnehmung solche „Problemlösungen“ generell zu oder müsste man bei der Beurteilung den Kontext einer „Casting-Sendung“ einbeziehen?

Die neuen technologischen Möglichkeiten stellen in vielen gesellschaftlichen Bereichen Probleme, die lange gelöst schienen, neu zur Disposition – etwa, wenn in der Lenzburger Studie gefragt wird: „Du erhältst spätnachts eine SMS von deinem Chef mit der Bitte um einen Rückruf. Meldest du dich?“ Obwohl die Arbeitszeiten arbeitsrechtlich geregelt sind, kann die Handykommunikation, welche die jederzeitige Erreichbarkeit ermöglicht, verunsichernd wirken. Der Druck, den die umfassende Erreichbarkeit bedeuten kann, wird hier evident. Über die Hälfte (58,9 %) der Befragten antworten mit „Ja“ und wagen es nicht, die SMS zu ignorieren. Es zeigt sich in dieser Frage allerdings ein signifikanter Alterseffekt. „Sind es bei den Über-40 Jährigen zwei Drittel, die sich nicht melden (65,7 %), ist das Verhältnis bei den Unter-16-Jährigen genau umgekehrt: Hier würden sich 64,1 % melden (p = .000)“ (vgl. Moser und Scheuble 2014, S. 94 ff.). Diese Alterseffekte könnte damit zusammenhängen, dass sich die Erwachsenen der arbeitsrechtlichen Problematik bewusst sind, während Kinder und Jugendliche noch stärker auf Autoritäten in Familie und Schule fixiert sind – und deshalb solchen Anordnungen nicht zu widersprechen wagen.

Ganz neue Fragestellungen und moralische Probleme entstehen im Rahmen des Internets der Dinge. So stellt sich die Frage, wie die automatisierten Systeme bei einem Unfall im selbstfahrenden Auto reagieren. Das Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat dazu auf einer Website eine „moralische Maschine“ bereitgestellt, mit der man verschiedene Situationen simulieren kann, wenn ein Unfall unausweichlich wird. Auf der zugehörigen Website heißt es als Einführung: „Wir zeigen dir moralische Dilemmata, bei denen sich ein führerloses Auto für das geringere Übel entscheiden muss, beispielsweise die Entscheidung, zwei Mitfahrer oder fünf Fußgänger zu töten. Als ein außenstehender Beobachter entscheidest du, welcher Ausgang deiner Meinung nach akzeptabler ist. Am Ende kannst du deine Antworten mit denen der anderen Teilnehmer vergleichen“ (http://moralmachine.mit.edu/hl/de).

Abb. 6.8 verdeutlicht eines der möglichen Dilemmata, die sich daraus ergeben können:

  • Linkes Bild: Das selbstfahrende Auto mit plötzlichem Bremsversagen wird in diesem Fall ausweichen und über einen Zebrastreifen auf der gegenüberliegenden Spur fahren. Das führt zu:

    • Tot: 1 Ärztin, 1 Arzt, 1 Athletin, 1 fülliger Mann, 1 Krimineller

    Abb. 6.8
    figure 8

    Moralische Dilemmata im Internet der Dinge. (Vgl. http://moralmachine.mit.edu/hl/de)

  • Rechtes Bild: Das Auto wird in diesem Fall geradeaus weiterfahren und in eine Betonbarriere prallen. Das führt zu:

    • Tot: 1 Hund, 2 Babies, 1 füllige Frau

Die Entwickler der moralischen Maschine stellen aufgrund von eigenen Studien fest, dass die Definition der Algorithmen, welche die autonomen Fahrzeuge (AFs) bei solchen moralischen Entscheidungen unterstützen, eine gewaltige Herausforderung darstelle (Bonnefon et al. 2016). Die Menschen befürworteten zwar utilitaristische Lösungen, in denen die AFs die Passagiere eines Autos für das größere Gut opfern. Sie votieren zudem dafür, dass andere solche Wagen kaufen, aber gleichzeitig ziehen sie es vor, in einem Auto zu fahren, das sie um jeden Preis schützt. Die Studienteilnehmer sprachen sich also zwar gegen die Durchsetzung utilitaristischer Regulierungen aus, doch sie wären wenig gewillt, selbst ein solches Fahrzeug zu kaufen.

Übung 5.3: Wie kann das moralische Dilemma der autonomen Fahrzeuge gelöst werden?

Diskutieren Sie das obige Beispiel der „moralischen Maschine“. Wie lösen Sie das Problem des unausweichlichen Unfalls? Bevorzugen Sie eine utilitaristische Lösung (wo der Schaden möglichst klein ist) oder gibt es andere Lösungen, die mehr überzeugen (gar kein Algorithmus, der eine „Moral“ beinhaltet, Verzicht auf alle Konzepte des autonomen Fahrens etc.).

Recherchieren Sie im Internet, wo diese Frage sehr heftig diskutiert wird. Gibt es dort überzeugende Lösungen für das geschilderte moralische Dilemma?

Schwierig ist die Bewältigung solcher neuen Anforderungen eines digitalen Lebensstils, weil die traditionellen Routinen nur ungenügende Anleitung geben und weil die Mediensphäre als eine fremde Macht erscheint, die nicht mehr beeinflussbar ist. So liegt es nahe, es den Experten und den Juristen zu überlassen, wie zum Beispiel die Regulierung des autonomen Fahrens gelöst wird. Und dennoch wäre es wichtig, dass die Heranwachsenden sich der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung nicht entziehen, sich in die Diskurse als mündige Bürger einschalten und ihre partizipativen Rechte einfordern. Das Ziel wäre nämlich, Lösungen zu entwickeln, die sowohl allgemeine Zustimmung aufgrund rationaler Überlegungen erreichen, dabei aber auch Bedürfnisse und Interessen der betroffenen Menschen einfordern.

6.5 Medienpädagogische Handlungsräume als partizipative Räume

Geht es bei der Auseinandersetzung mit der digitalen Welt und ihren Lebensstilen allein um den Nachvollzug der Wirkprinzipien und Funktionsmechanismen der neuen Technologien, dann besteht die Gefahr, den Blick auf die medienpädagogischen Handlungsspielräume und die dabei mögliche aktive, kreative und experimentelle Auseinandersetzung mit der digitalen Welt zu verkürzen. Wie Dieter Spanhel (2017) dagegen betont, sind in diesen Medienwelten neue Handlungsräume entstanden, die neben allen Zwängen freie und unkontrollierte, selbstgesteuerte, spielerische und reflexive Lernprozesse eröffnen. Deren Lernpotenziale resultierten aus den besonderen räumlich-zeitlichen Strukturen der Mediensysteme im Verhältnis zu den psychischen Strukturen der Heranwachsenden. Gemäß Spanhel zeichnen sich diese Handlungsräume einerseits durch ihre Offenheit und die Möglichkeit zur Selbstkonstruktion seitens der Heranwachsenden aus. Gleichzeitig sind sie in die Kontexte der Alltagswelt und der Entwicklungsprozesse der Kinder und Jugendlichen eingebettet. In einem ähnlichen Sinn spricht James Paul Gee (2005) von „Affinity Spaces“ – Räumen, die ein Gefühl der Verbindung und die Offenheit mit andern Personen schaffen. Dies sind für ihn Orte, an denen durch die Affinität der Beteiligten informelles Lernen erleichtert wird, weil sie ein intensives Interesse und Engagement an bestimmten Aktivitäten miteinander teilen.

Spanhel konkretisiert seine Auffassung mit einer Reihe von Beispielen: „Im Rahmen der Online Communitys, der Nutzung von Social Software und Plattformen im Netz lernen die Heranwachsenden, sozial und kulturell vielfältige sozio-technische Praktiken auszubilden. Sie erproben vielfältige Möglichkeiten zur Unterhaltung und Information, zur Kontaktherstellung und Partizipation, zur Bildung sozialer Gemeinschaften und Entwicklung neuer Kommunikationsformen innerhalb der Regeln und Grenzen, die von Hard- und Software bestimmt werden (z. B. in den Computerspielen). Sie lernen, ihre Suchkriterien im Internet zu verfeinern, Spielstrukturen zu durchschauen, sich in den wechselnden Online-Beziehungen neu zu verorten, mit Kritik umzugehen, ihr Handeln zu reflektieren und aus unterschiedlichen Perspektiven zu beurteilen“ (Spanhel 2017, S. 5).

Das gilt nicht allein für den PC, auch das Handy ist zu einem Teil dieser neuen Kultur- und Handlungsräume geworden. Das beginnt damit, dass es als physisches Objekt Kult(ur)gegenstand ist. So verwandelt sich das Handy häufig zu einem modischen verführerischen Objekt, das irgendwo zwischen Accessoire und Schmuck angesiedelt ist (Fortunati 2006, S. 176). Einige Merkmale, die den Kulturraum des Mobiltelefons charakterisieren, hat Srivastava (2006, S. 235) herausgearbeitet: So sei die physische Nähe des Geräts zum menschlichen Körper auffällig. Die meisten Nutzer seien während des Tages kaum mehr als einen Meter von ihrem Handy entfernt. Sie hätten es in der Nacht neben dem Kopfkissen liegen und benutzen es als Wecker. Generell ist die emotionale Bindung an das Mobiltelefon hoch: „Wer sein Handy verliert, hat das Gefühl, sein Leben sei irgendwie durcheinander, und viele geraten darüber in Panik“ (Srivastava 2006, S. 235).

Und wenn in einem öffentlichen Raum, wie etwa einem Zugabteil, jemand per Handy zu telefonieren beginnt, so zeigen sich im „Kulturraum Zugabteil“ ganz unterschiedliche Reaktionen: Die einen etwa verschwinden peinlich berührt in den Gang, wenn ein Anruf auf ihrem Mobiltelefon ankommt, andere demonstrieren lautstark ihre Wichtigkeit, wenn sie dem ganzen Wagen zu verstehen geben, dass sie einer Sekretärin Anweisungen geben. Wieder andere wenden sich von den Mitreisenden ab, senken ihre Stimme und flüstern nur noch – oder sie antworten einsilbig und entschuldigen sich beim Anrufer, dass sie gerade im Zug sind. Diese Beispiele weisen darauf hin, wie sich Medien – etwa bei den Zugfahrern – ganz unterschiedlich in soziale Situationen einklinken können. Daraus können sich Handlungsmuster entwickeln, die dann einen persönlichen „Style“ bzw. Lebensstil charakterisieren. Bachmair bezieht dies auf Handy-Klingeltöne, die zur Frage Anlass geben: „Gehöre ich zu einer Gruppe, die so ein Handy, solch einen Klingelton verwendet?“ (Bachmair 2009. S. 71).

Zentrales Stichwort für eine Auseinandersetzung mit den Handlungsräumen einer digitalisierten Welt ist weniger der Schutz vor deren allumspannenden Gefahren wie das Konzept der „Partizipation“, das Henry Jenkins in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zum medienpädagogischen Handeln gestellt hat. Deutet sich die Entstehung einer neuen „medialen Partizipationskultur“ (Wagner und Gebel 2014, S. 93) an, die sich durch die Medienentwicklung der letzten Jahrzehnte quasi automatisch herausgebildet hat?

Jenkins selbst relativiert dies, indem er die Frage stellt, ob alle Kulturformen gleichermaßen Partizipation ermöglichten. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass verschiedene Konfigurationen der Kultur unterschiedlichen Graden der Partizipation Raum geben. Das gilt nicht zuletzt für die Medien, wo die Massenmedien des 20. Jahrhunderts solche Spielräume eher eingeschränkt hatten. Denn diesen ging es mit ihren Produkten vor allem um die Vermittlung von Informationen an die passiven Konsumenten. Dagegen wachsen die Einflussmöglichkeiten mit den digitalen Medien an: „Mit der digitalen Kultur sind mehr Leute mit Medien aktiv geworden und teilen das, was sie produziert haben, miteinander. Amateurhafte und alltägliche Ausdrucksformen erhalten so größere Visibilität“ (Jenkins et al. 2016, S. 8).

Dennoch mahnt Jenkins zur Vorsicht, digitale Medien automatisch als partizipatorisch zu betrachten. Denn Technologien sind an und für sich nicht partizipatorisch; dies sind nur Kulturen. Zwar können Technologien in ihrer Anlage interaktiv sein und die Kommunikation von vielen zu vielen unterstützen. Sie können vielleicht solche Werte durch ihr „Interface“ verstärken, doch letztlich müssen sie von den Menschen aufgegriffen und entsprechend genutzt werden, die in kulturellen Kontexten mehr oder weniger partizipatorisch handeln.

Jenkins unterscheidet hier also zwischen „Interaktivität“ einerseits, die sich auf Eigenschaften von Technologie bezieht und es den Nutzern erlaubt, bedeutsame Entscheidungen zu treffen und eigene Erfahrungen zu personalisieren (zum Beispiel bei einer App wie Facebook), und „Partizipation“ andererseits, die sich auf kulturelle Eigenschaften bezieht, wo Gruppen kollektive oder individuelle Entscheidungen fällen, die geteilte Erfahrungen beeinflussen. Kurz: Nach Jenkins nehmen wir Teil an etwas, und wir interagieren mit etwas (Jenkins et al. 2016, S. 11). So kommt er zu dem Schluss: Plattformen wie Facebook oder YouTube stellen für ihn keine partizipatorischen Kulturen dar. Denn Technologien seien nicht an und für sich partizipatorisch – dies im Unterschied zu Kulturen: „Technologien können in ihrem Design interaktiv sein; sie können die Kommunikation vieler zu vielen erleichtern; sie können für vielfache Arten von Benutzern zugänglich und anpassungsfähig sein; und sie können bestimmte Werte durch ihre Nutzungsbedingungen und durch ihre Schnittstellen encodieren. Aber letztlich werden jene Technologien von jenen Menschen einbezogen und genutzt, die in kulturellen Zusammenhängen operieren, welche mehr oder weniger partizipatorisch sein können“ (Jenkins et al. 2016, S. 11). Es sind also eher Werkzeuge, die partizipatorische Communities nutzen, um soziale Kontakte aufrechtzuerhalten oder kulturellen Produkte miteinander zu teilen.

Im Zentrum steht deshalb für Jenkins die kulturelle Teilhabe und nicht das technische Funktionswissen: „Eine partizipative Kultur entsteht dadurch, dass die Kultur auf die Explosion der neuen Medientechnologien reagiert und sie absorbiert – indem dies dem Durchschnittskonsumenten die Möglichkeit gibt, Medieninhalte auf eine machtvolle neue Weise zu archivieren, zu kommentieren, anzueignen und wieder neu in Umlauf zu setzen“ (Jenkins 2006, S. 8).

Es ist dieser Beitrag zu einer partizipativen Kultur, der die Medienbildung auszeichnet; unser Ziel sollte es sein, die Kinder und Jugendlichen zu ermutigen, Fähigkeiten, Wissen, ethische Werte und Selbstvertrauen zu entwickeln, die notwendig sind, um vollwertige Teilnehmer einer digitalen Gesellschaft zu werden.

6.6 Das Konzept von „Digital Citizenship“

Eine Zielperspektive für die Entwicklung partizipativer Kulturen im digitalen Zeitalter stellt das US-amerikanische Konzept der „Digital Citizens“ dar, das von jedem Bürger und jeder Bürgerin einen verantwortungsvollen Umgang mit den digitalen Medien einfordert. Wie Mike Ribble (2011) betont, hat die digitale Welt einen wesentlichen Einfluss darauf, wie sich die Menschen als Bürgerinnen und Bürger der realen Welt verhalten. Medienuser leben, kommunizieren und arbeiten nicht allein in der physischen Welt, sondern ebenso in der digitalen und virtuellen Welt. Auf seiner Website definiert Ribble „Digital Citizenship“ als Konzept, das Lehrern, Führungspersonen im Technologiebereich und Eltern hilft zu verstehen, was Schüler, Kinder, Technologienutzer wissen sollten, um die Technologie auf richtige Weise zu nutzen. Digital Citizenship ist für ihn mehr als ein Tool für Lehrkräfte; es ist der Weg, um Schüler bzw. Technologienutzer auf eine Gesellschaft vorzubereiten, die von Technologien geprägt ist. Digital Citizenship ist eng verknüpft mit einem angemessenen und verantwortungsvollen Technologiegebrauch (vgl. dazu: http://www.digitalcitizenship.net).

Allerdings ist dieses Konzept von Digital Citizenship zwiespältig. Es scheint bei vielen Autoren, die diesem Konzept verpflichtet sind, dass sie die „richtigen“ Verhaltensweisen und Normen bereits kennen und wie O‘Brien (2010) den jugendlichen Usern im Gegensatz dazu wenig Zutrauen entgegenbringen, Technologien von sich aus verantwortungsbewusst zu nutzen: Sowohl Jugendliche wie Erwachsene missbrauchten diese Technologie bzw. nutzten sie falsch. Deshalb fordert er: „Digital Citizenship ist ein Weg, um Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, was es bedeutet, ein guter digitaler Bürger zu sein, und was man tun muss, um einer zu werden.“

Damit aber droht das Konzept des selbstverantwortlichen digitalen Bürgers seinerseits eine bewahrpädagogische Note zu erhalten – denn auch hier wird viel zu häufig vor Gefahren gewarnt; das Verhalten der Kinder und Jugendlichen wird beobachtet und überwacht, während es in Wirklichkeit in vielen Fällen noch unklar ist, welches die zukünftigen Regeln und Normen sind, die in der (digitalisierten) Gesellschaft gelten. Im Konzept des Digital Citizens müsste mitschwingen, dass ein aktiver Umgang mit der digitalen Welt anders aussehen wird als das, was die Erwachsenen gegenwärtig für gesichert halten. Neben einer Kontrolle des unangemessenen Verhaltens (etwa im Umgang mit Fake News, mit der Netiquette und allen weiteren Gefahren und Risiken des Internets) geht es wesentlich um die Auseinandersetzung und um einen kreativen Umgang mit den neuen Kulturen des Netzes. Digital Citizenship besteht nicht einfach auf dem Erlernen von vermeintlich sicheren Regeln bzw. Rechten und Pflichten, die dem Netzbewohner auferlegt sind. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang entscheidend, dass der digital verantwortliche Bürger nicht schon existiert, sondern sich in der aktiven Auseinandersetzung mit dem digitalen Alltag erst entwickelt (vgl. auch McCosker et al. 2016). Dabei ist es schwierig, solche Auseinandersetzungen aus einer gültigen Perspektive zu führen, da es oft noch keine anerkannten Lösungen gibt und verschiedene Institutionen, Firmen, politische Organisationen etc. ganz unterschiedliche Interessen verfolgen. Gerade dies führt zur Forderung, dass medienpädagogische Räume möglichst offen, experimentell und selbstgesteuert sein sollten.

Auch Lehrende und Erziehende sind dabei Mitlernende und nicht Akteure, die über ein geheimes Wissen verfügen, das lediglich noch autoritativ weiterzugeben ist. So hebt Ohler (2016, S. 52) diesen Zwiespalt hervor, wenn er für den Schulbereich betont, dass das Konzept der Digital Citizenship die Suche widerspiegelt, den Schüler(inne)n sowie auch uns selber (als Lehrpersonen) zu helfen, die Fähigkeiten und Perspektiven zu entwickeln, die notwendig sind, um einen digitalen Lebensstil zu praktizieren, der sicher, ethisch und verantwortlich ist, inspirierend, innovativ und beteiligt. Schüler/innen und ihre Lehrpersonen bilden dabei gemeinsam Communities, die kooperativ die Rolle von Teilnehmenden, von Forschern und Forscherinnen übernehmen.

Dabei unterscheidet Ohler zwischen zwei Perspektiven, aus denen Wertefragen zur Ethik einer digitalen Gesellschaft gestellt werden können. Einmal werde die Meinung vertreten, es seien keine besonderen Überlegungen zur Ethik einer digitalen Gesellschaft notwendig. Denn das Richtige zu tun gelte in allen gesellschaftlichen Formationen; was im realen Leben funktioniere, werde auch in den neuen digitalen Kontexten funktionieren. Aus einer kontrastierenden Perspektive werde aber auch behauptet, dass wir in einer immersiven Realität lebten, indem wir gleichsam in zwei Welten – der realen des Alltags und der virtuellen der Netze – gleichzeitig lebten. Dies habe zu einer neuen Welt mit neuen Verhaltensanforderungen und komplexen moralischen Anforderungen geführt: „Wir sind Mashups von uns selbst und müssen unsere Beziehungen in multiplen Dimensionen bewältigen. Natürlich benötigen wir dazu auch neue Ansätze für unsere Ethik“ (Ohler 2016, S. 77).

Die Entwicklung zu einer Kultur des Sharing und der Partizipation habe zum Beispiel zu der strukturellen Erwartung geführt, dass wir gegenseitig unser Material nutzen, es mit eigenen Aspekten versehen und es im Netz weiterverbreiten – als Mashup durch die Kombination von bestehenden Elementen. Für Ohler ist dies nicht einfach anti-sozial oder ein Anschlag auf die bisher gültigen Urheberrechte, sondern ein Ausdruck, wonach sich das Normale um 180 Grad verändert habe. Habe es doch früher geheißen: „Du darfst mein Ding nicht nutzen und ich tue das auch nicht bei dir, außer wir geben einander die Erlaubnis, es zu tun.“ Dies weise auf eine Zeit zurück, in der es schwierig war, Material zu kopieren und zu verändern. Die neue Zeit besagt dagegen: „Wir nutzen unsere Materialien gemeinsam, ohne zu fragen, außer wir haben ausdrücklich vereinbart, dass unser Werk ein Eigentum bildet.“ Ohler bezeichnet dies nicht als Diebstahl von geistigem Eigentum, sondern als „UOPS“ (using other people’s stuff), was im Falle solcher Mash-ups besser bezeichne, worum es hier gehe (Ohler 2016, S. 78).

Um dieses Argument noch zu verschärfen: Fragen des Urheberrechts, wie sie sich in der digitalen Gesellschaft in neuer Weise stellen, sind oftmals mit Rückgriff auf traditionelle Lösungen der analogen Schriftkultur sowie der Musik- und Filmindustrie nur unbefriedigend zu lösen. Warum darf man Bücher, Filme und Musik nicht einfach kostenlos herunterladen, und was hat es mit den Regelungen der „Creative Commons“ auf sich? Aber es stellt sich natürlich auch die Frage, wovon Autoren und Autorinnen noch ein Einkommen erzielen, das ihnen den Lebensunterhalt sichert, wenn alles gratis heruntergeladen werden kann.

Hier ist es kaum möglich, unter dem Leitprinzip einer politischen Bildung, Jugendlichen autoritär zu erklären, was ein für alle Mal richtig ist – weil es schon für die Buchkultur des 20. Jahrhunderts galt. Vielmehr müsste es darum gehen, die neuen spezifischen Probleme und die darin involvierten Interessen und Meinungen zu diskutieren und zu reflektieren. Da es gerade Jugendliche sind, welche die intensivsten Erfahrungen mit digitalen Medien gemacht haben, wären diese in solche Diskurse aktiv einzubeziehen und nicht von außen zu belehren. Mit Ohler (2016, S. 81) kann übereinstimmend festgestellt werden, dass eine solche Auseinandersetzung über die entstehenden digitalen Lebensstile gleichzeitig problematisch und wertvoll ist. Pädagogische Bemühungen um Digital Citizenship dürfe nicht einfach zu einer Liste von „darf man nicht tun“ führen. Vielmehr müssten die positiven Einflüsse, die das Empowerment als Teil der Vision stärken, hervorgehoben und unterstützt werden.

Mit anderen Worten, es geht um eine Verantwortungsethik, die sich letztlich in ihren diskursiven Auseinandersetzungen an Kants Maxime auszurichten hätte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ In diese diskursethische Verantwortung sind die Heranwachsenden einzubeziehen Es geht also darum, an einschlägigen Beispielen des technologischen Wandels gesellschaftliche Wertediskurse aufnehmen und in der Auseinandersetzung eigene Position zu suchen und argumentativ zu begründen.

Dazu können Rollenspiele geeignet sein, wie dasjenige zu Airbnb, wo Gruppen von Jugendlichen sich über Internetmaterialien in die jeweiligen Standpunkte einarbeiten und im Plenum eines „Runden Tisches“ verteidigen:

Beispiel WebQuest Airbnb

In unserer Stadt soll Airbnb verboten werden. Der Bürgermeister beruft einen Runden Tisch ein mit:

  • Vertretern der Airbnb

  • Vertretern des örtlichen Hotelgewerbes

  • Touristen, die auf Airbnb gebucht haben

  • Mitbewohnern in Airbnb-Häusern

Der Runde Tisch wird in Gruppenarbeit mit Material aus dem Internet vorbereitet. Das hier benutzte Konzept der WebQuests wird im 7. Kapitel ausführlicher dargestellt.

Das „Empowerment“, also die Stärkung von reflexiven und handlungsbezogenen Medienkompetenzen, wie es in medienpädagogischen Handlungsräumen möglich werden sollte, wird von den amerikanischen Medienpädagoginnen Elizabeth Thoman und Jessa Jolls (2005, S. 31) als vierstufige Spirale beschrieben, die ebenso eine erfahrungsmäßige wie eine altersmäßige Entwicklungskomponente beinhalten:

  1. 1.

    Bewusstheit

    Auf dieser Stufe nehmen die Schüler an Aktivitäten teil, die zu Beobachtungen und persönlichen Verbindungen mit Medienerlebnissen führen. Kinder stellen zusammen, wie lange sie in ihrer Klasse täglich Medien nutzen und welche Mitschüler bereits mit welchen Medien Erfahrungen haben: „Oh, das hätte ich nicht gedacht, dass sie fotografieren kann!“ Sie untersuchen, zu welchen Gebieten die Tageszeitung Informationen anbietet. Solche Aktivitäten bieten vielfach Aha-Erlebnisse, welche die Bereitschaft erzeugen, die Medien kritisch zu erforschen.

  2. 2.

    Analyse

    Auf dieser Stufe kommen Fragen nach dem „Wie“ auf, das mit Medienereignissen verbunden ist. Kreative Medienproduktionen (z. B. aktives Produzieren im Web 2.0) können den beteiligten Schülern helfen, besser zu verstehen, „wie“ und „was“ im Austausch zwischen einem Medienproduzenten und seinem Publikum geschieht. Daran knüpfen analytische Fragen nach dem „Wie“ und „Was“ von Medienprodukten an:

    • Wie beeinflussen bestimmte Kameraeinstellungen unsere Gefühle zum Produkt, das in einem Werbespot vorgestellt wird?

    • Welchen Unterschied macht die Farbe des Autos in einer Autowerbung?

    • Was sagen uns in einem Film Kleidung, Make-up und Schmuck über den Charakter der beteiligten Personen?

    • Dazu können auch Projekte mit einer Computersprache wie Scratch gehören.

    Die Analyse sollte also nicht an der Oberfläche bleiben, sondern Momente der „medialen Sprache“ aufgreifen, die nicht an der Oberfläche zu lokalisieren sind. Die Stufe der Analyse vermittelt, dass Medienprodukte konstruiert sind und nach welchen Regeln dies geschieht.

  3. 3.

    Reflexion

    Die Stufe der Reflexion bezieht sich auf die übergreifende Systemebene. So wird hier deutlich, wie Medienereignisse in einem philosophischen, soziologischen oder psychologischen Rahmen stehen, bzw. welche ethischen Werte dahinterstehen und wie dabei partizipative Intentionen zum Ausdruck kommen. Dazu können Fragen gehören wie:

    • Ist Reklame für alkoholische Getränke im Fernsehen vertretbar?

    • Welchen politischen Einfluss kann ich mit einer Facebook-Mitgliedschaft ausüben?

    • Wie beeinflussen die Influencer auf YouTube meine eigenen Vorlieben in der Konsumwelt?

    • Wie äußert sich die Monopolisierung der Medien im Zeitschriftenmarkt?

    • Welchen Einfluss hat die Tatsache auf den Musikmarkt, dass das Internet und Downloads immer wichtiger werden?

    • Was bedeutet die Selfie-Kultur für heutige Jugendliche?

  4. 4.

    Aktionen

    Die vierte Stufe gibt den Beteiligten Möglichkeiten, konstruktive Handlungsideen zu formulieren und umzusetzen. Es handelt sich hier nicht um weltbewegende Projekte, die im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen, sondern um ganz einfache Handlungsprojekte, welche die interne Bewusstheit über Medien und Mediensysteme erhöhen.

    • Eine Klasse beschließt, ein politisches Anliegen dadurch zu unterstützen, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf einer Facebook-Gruppe einschreiben und ihre Haltung auf der Pinnwand begründen.

    • In einem Webprojekt stellen die Schülerinnen und Schüler die Ergebnisse ihrer Projektwoche ins Netz und machen diese öffentlich.

6.7 Politische Partizipation und digitale Medien

Die mit den digitalen Medien verbundene Kultur der Teilhabe stellt zudem die Frage nach der Möglichkeit einer politischen Partizipation mithilfe der digitalen Medien. Denn die Perspektive des Digital Citizen bedeutet auch, dass er politisch aktiv wird, um seine Anliegen zu verwirklichen.

Die Hoffnungen, die mit dem Internet als Treiber demokratischer Partizipation verbunden waren, haben allerdings bereits früh zu Enttäuschungen geführt. Vor allem hatten die Unruhen in den arabischen Ländern, die 2011 mit dem sog. „Arabischen Frühling“ verbunden waren, zu Hoffnungen auf die Macht einer Revolution mit Smartphones geführt. So schildern Rosiny und Richter die damaligen Ereignisse:

Im Nachrichtenkanal al-Jazeera, der in Katar seinen Sitz hat, weite Teile der arabischen Bevölkerung erreicht und sich zum wichtigsten Mobilisierungsmedium des Arabischen Frühlings entwickeln sollte, erschienen mit Handy-Kameras aufgenommene Filme der Selbstverbrennung und der anschließenden Proteste. Bei der lokalen Verbreitung von Information und der Mobilisierung landesweiter Proteste spielten zusätzlich soziale Medien wie etwa Facebook eine Rolle. Schnell erreichte die Empörungswelle die tunesische Hauptstadt Tunis, verbreitete sich von dort weiter in benachbarte Länder und löste dort neue Protestwellen aus, über die dann abermals al-Jazeera berichtete. (Rosiny und Richter 2016).

Die weitere politische Entwicklung im arabischen Raum zeigte jedoch, dass sich die Demokratie kaum in einem Land durchgesetzt hat – trotz der digitalen Medien. Zwar ließen sich mittels der Interaktivität digitaler Medien viele Leute mobilisieren. Ohne wirksame politische Organisation blieb der öffentliche Massenprotest letztlich wirkungslos. Es fehlte offensichtlich die politische Kultur, in der die Technologien über kurzfristige Mobilisierungseffekte hinausgeführt hätten.

Ein zweites Beispiel, das geografisch weit näher liegt als der arabische Raum, ist der Aufstieg und der Fall der Piratenpartei in Deutschland. Diese Partei hatte den Anspruch, die demokratischen Prozesse über digitale Mittel zu vertiefen. Vor allem erhofften die Piraten die Transparenz der Politik dadurch zu erhöhen, dass sich jedermann online an Sitzungen beteiligen konnte, die im traditionellen Geschäft der Politik hinter verschlossenen Türen stattfanden. Khuê Pham (2014) beschreibt in der „Zeit“ die damit verbundene Aufbruchsstimmung: „Es war die Zeit, als die Medien voll waren von Lobeshymnen auf Liquid Feedback, Transparenz in der Politik und das Systemupdate, das die Piraten dem Parlamentarismus verpassen wollten. Sie schienen die politische Antwort auf die digitale Revolution zu sein. Kinder dieser Revolution, die im Gegensatz zu den älteren Parteien verstanden hatten, mit welchen Tools man die traditionsreiche, aber auch langweilig gewordene Politik wieder modern und aufregend machen könnte“ (Pham 2014).

In ihrem Artikel beschreibt sie die Enttäuschung von Anke Domscheit-Berg, einer der damaligen Protagonistinnen der Piraten: Die Transparenz, die Domscheit-Berg wollte, habe das Gegenteil des Erhofften erzielt. Wo alle Prozesse der Politik offengelegt werden, werden auch Konflikte und Meinungsverschiedenheiten transparent. Was hinter verschlossenen Türen vielleicht austariert werden kann, ufert schnell einmal zu gehässigen Auseinandersetzungen aus. Khuê Pham kommt zum Schluss: „Statt den Bürgern die politische Arbeit näherzubringen, haben die Piraten sie abgeschreckt. Durch Live-Streaming, Dauer-Twittern und jede Menge Leaks offenbarten sie zwei Dinge: erstens, dass die Details einer Fraktionssitzung so spannend nun doch nicht sind. Und zweitens, dass auch Amateurpolitiker keine besseren Menschen sind als Berufspolitiker“ (Pham 2014). Auch in diesem Beispiel wird deutlich, dass technologische Werkzeuge und politische Kultur zu unterscheiden sind – bzw. wie schwierig es ist, in das bestehende politische System eine Kultur digitaler Beteiligungsstrategien zu „implantieren“.

Politisch stärker durchgesetzt haben sich dagegen neue Praktiken eines E-Governments, das den Verkehr mit Ämtern und Behörden immer stärker über das Netz organisiert (vgl. Moser 2011). Es geht also darum, den Bürgerinnen und Bürgern Tools und Systeme zur Verfügung zu stellen, die ihnen durch die Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien einen besseren öffentlichen Service anbieten. So unterzeichneten die EU-Mitgliedstaaten am 6. Oktober 2017 in Tallinn eine E-Government-Deklaration die u. a. vorsieht: Für alle Bürger und Bürgerinnen sowie Unternehmen soll es möglich werden, mit dem Staat digital zu verkehren, wobei das Prinzip „once only“ gilt. Man muss sich also nur an einem Ort für eine bestimmte Dienstleistung registrieren (vgl. Graf und Stern 2018, S. 55 f.). Sichergestellt werden sollen Vertrauenswürdigkeit und Sicherheit. Allerdings ist Deutschland gegenüber Nachbarländern wie der Schweiz und Österreich noch im Rückstand. Dennoch ist es wichtig, dass Heranwachsende mit den Möglichkeiten und den Versäumnissen im Bereich des E-Governments vertraut werden.

Fraser und Dutta (2008, S. 272) haben in diesem Zusammenhang schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass die Websites der öffentlichen Verwaltung hauptsächlich Informationen zur Verfügung stellen und bearbeiten – und nicht die Partizipation der Bürger in den Mittelpunkt stellen. Vor allem unter der Perspektive des Web 2.0 wird deshalb vermehrte E-Participation gefordert. Insbesondere stellt sich die Frage, ob nicht digitale Medien ein Mittel sind, das neue Anreize zur Gestaltung der Entscheidungsprozesse (Wahlen, Abstimmungen) im Staat ermöglicht. So entstand in den letzten Jahren eine intensive Diskussion zum E-Voting – dies in der Hoffnung, über die Möglichkeit, online zu wählen, auch neue und jüngere Schichten für die Teilnahme am politischen Prozess zu gewinnen. Vorreiter war Estland, wo Wahlen seit 2005 recht erfolgreich für die Teilnahme über das Netz geöffnet wurden. Bei den Lokalwahlen von 2013 wählten 133.000 Personen online (22 Prozent aller Wählenden); und bei den Wahlen ins Europaparlament waren es 103.000 bzw. 31 Prozent aller Wählenden (http://www.vvk.ee/voting-methods-in-estonia/engindex/statistics).

Allerdings ist das E-Voting stark umstritten, was am Beispiel der Schweiz aufgezeigt werden kann, die mit ihren vielen Abstimmungen, bei denen das Volk direkt befragt wird, möglicherweise besonders geeignet für digitales Voting wäre. So sollen bis zu den Wahlen im Jahr 2019 nach dem Willen der Schweizer Regierung zwei Drittel der schweizerischen Kantone die Möglichkeit der elektronischen Stimmangabe schaffen (Graf und Stern 2018, S. 79). Bereits ist aber eine Volksabstimmung angekündigt, die von Gegnern des E-Voting initiiert wird. Denn die Kritiker befürchten, dass die Gefahr von Hackerangriffen und damit einer Verfälschung und Manipulation von Resultaten bestehe. Vor allem die Hackerangriffe bei den letzten amerikanischen Präsidentenwahlen und der hemdsärmelige Einsatz der sozialen Medien (vor allem Twitter) durch den gegenwärtigen US-Präsidenten Donald Trump haben solche Befürchtungen noch verstärkt, sodass viele Gegner die Demokratie durch E-Voting grundsätzlich in Gefahr sehen.

Zudem ist nicht klar, ob mit digitalem E-Voting die angepeilten neuen – jüngeren – Schichten angesprochen werden können, die bisher nicht wählten oder abstimmten. So kommentiert Nicole J. Goodman (2014, S. 7 ff.) kanadische Versuche mit E-Voting, die in Markham und anderen Gemeinden Ontarios stattfanden. Wählerinnen und Wähler mittleren Alters oder ältere Personen seien diejenigen, welche das E-Voting am Häufigsten nutzten. Vor allem würden solche Personen angezogen, die ohnehin zu den aktiven Wählern gehörten.

Letztlich dürften sich also die Hoffnungen nicht erfüllen, wonach neue und jüngere Schichten sowie bisherige Nichtwählerinnen und -wähler durch das E-Voting angesprochen würden. Vielmehr sind es die bereits aktiven Bürgerinnen und Bürger, die solche neuen Beteiligungsformen ausprobieren wollen. Goodman schließt es zwar nicht aus, dass es auch unregelmäßige oder nichtwählende – vor allem junge – Leute gebe, die über das Internet für eine Teilnahme an Wahlen gewonnen werden könnten. Doch der Effekt scheint bescheiden. Jedenfalls ist nicht zu erwarten, dass durch die Möglichkeit, über das Netz zu wählen, plötzlich neue Mehrheiten und Wählerverteilungen entstünden.

Wirksamer als flächendeckendes E-Voting wäre möglicherweise die Einführung von Modellen der E-Petition. Graf und Stern (2018, S. 77) sehen darin Verstärker für gesellschaftliche Debatten, welche geeignet sein könnten, die Partizipation und die Mitgestaltung über digitale Kanäle zu verbessern. Sie verweisen dabei auf Finnland, wo 2012 eine Plattform für Bürgerpetitionen eingerichtet wurde: Vereinigt ein Anliegen über 50.000 Unterschriften, muss das finnische Parlament darüber beraten.

Auch in Deutschland wurde die Möglichkeit von E-Petitionen eingeführt. Auf „mitmischen.de“, dem Jugendportal des Deutschen Bundestages heißt es dazu unter dem Titel „Mitzeichnen kann jeder“:

„Gesetze ändern, mehr Tierschutz fordern, das Gesundheitswesen verbessern, Vorschläge für den Verbraucherschutz machen – Petitionen können alle möglichen Themen beinhalten. Und das Beste ist: Man muss keine 18 sein, um eine Petition, also ein Gesuch an den Deutschen Bundestag, zu unterstützen. Mitzeichnen und einreichen kann wirklich jeder, der dazu in der Lage ist, eine Petition zu formulieren – egal wie alt. Seit September 2005 kann man sogar online ein Gesuch aufgeben oder mitzeichnen: auf der Plattform für E-Petitionen.

Damit eine Petition in einer öffentlichen Ausschusssitzung besprochen wird, muss sie ein Quorum von 50.000 Mitzeichnern erreichen. Das ist die Anzahl derer, die abgestimmt haben müssen. Das erreichen nicht viele Petitionen. Aber vom Petitionsausschuss geprüft werden sie trotzdem. Mit welchem Ergebnis? Lest selbst!“ (https://www.mitmischen.de/diskutieren/topthemen/politikfeld_bundestag/Petitionen/Petitionen_Jugend/index.jsp)

Es dürfte nicht zufällig sein, dass hier vor allem Jugendliche auf das Petitionsrecht angesprochen werden. Das Engagement für oft überschaubar gehaltene Petitionen dürfte eine attraktive Möglichkeit sein, um Jugendliche zu politischem Engagement und zur Wahrnehmung ihrer Rolle als Digital Citizens zu führen.

Die Beteiligung an solchen öffentlichen Prozessen stellt aber nur einen Teil des politischen Interesses und der politischen Teilhabe von Jugendlichen dar. Dieses reicht von der Beschaffung von Informationen im Netz bis zu aktiver Partizipation an politischen Prozessen. Die Frage stellt sich, in welchen Formen politische Teilhabe bei Jugendlichen zu beobachten ist. Wagner und Gebel (2014, S. 179 ff.) heben vor dem grundlegenden Hintergrund des Sich-Orientierens drei Dimensionen der Partizipation hervor. Die damit beschriebenen medialen Aktivitäten sind insgesamt auf gesellschaftliche Teilhabe bezogen und zielen mit unterschiedlichem Grad aktiver Partizipation darauf ab, sich einzubringen und sich einzumischen (vgl. dazu Abb. 6.9).

Abb. 6.9
figure 9

Dimensionen partizipativen Medienhandelns. (Wagner und Gebel 2014, S. 180)

Niederschwellig positionieren sich Jugendliche, indem sie zu bestimmten Themen eine Meinung signalisieren, etwas liken oder kurz kommentieren. Sich einbringen bedeutet dagegen, dass man sich in Diskursen artikuliert und sich zu einem Thema austauscht. Versucht man, andere zu aktivieren, so geht es darum, andere Jugendliche zu bewegen, an Aktionen teilzunehmen und sich aktiv zu engagieren (Wagner und Gebel 2014, S. 181).

Insgesamt sind Jugendliche an politischen Informationen interessiert, die sie im Internet oder in den sozialen Medien beziehen. Google-Suchen ersetzen immer öfter die abonnierte Print-Zeitung. Wagner zitiert dazu aus ihren qualitativen Interviews den 14-jährigen Jasper: „Also ich mache es, glaube ich, so wie die meisten Menschen, ich gebe es auf Google ein und dann kommen die meisten News auch schon. Man kann ja auch angeben oben News oder so … Ich meine, dass es auch Zeitungen sind, die eben online auch ein paar Blogs bringen, aber ich weiß nicht genau, welche. Ich schaue da meistens nicht so drauf, weil wenn mich der Inhalt interessiert, dann interessiert es mich meistens nicht so, auf welcher Seite das steht“ (Wagner und Gebel 2014, S. 151).

Fraglich ist allerdings, ob in der Online-Kommunikation Partizipation als Diskurs über die Grenzen eingefahrener Ideologien und Meinungen zustande kommt. Vielfach treffen sich hier die Gleichgesinnten, liken ihre Posts gegenseitig und nehmen gegenteilige Meinungen kaum zur Kenntnis. Eli Pariser (2012) hat dies als „Filterblase“ bezeichnet, indem sich die Menschen dadurch voneinander absondern, dass sie vor allem Nachrichten erhalten, die mit ihren Vorurteilen und Meinungen korrespondieren. Dazu kommt, dass über die Algorithmen der sozialen Netzwerke primär Nachrichten ausgewählt und vorgeschlagen werden, welche das eigene Weltbild und die persönlichen Vorlieben widerspiegeln. Dadurch aber polarisiert sich die Gesellschaft und wird Kommunikation über vorgegebene ideologische Raster hinaus verunmöglicht. Allerdings entstehen solche Filterblasen, wo man andere Meinungen nicht mehr zur Kenntnis nimmt, nicht allein durch die Algorithmen des digitalen Interfaces. Es spielen dabei auch kulturelle Faktoren und politische Einstellungen eine Rolle, wenn man bestimmte Nachrichten auswählt und andere gar nicht mehr beachtet. Die Reflexion auf solche Phänomene, die an Beispielen aus dem Netz aufgearbeitet werden, sind eine wichtige Möglichkeit im Rahmen einer politisch orientierten Medienbildung. Sie gehen weit über Digital Citizenship im Sinne der Vermittlung eines angemessenen Technologiegebrauchs hinaus.

Die Interaktivität der digitalen Medien, so könnte man es zusammenfassend formulieren, kann im Rahmen politischer Prozesse helfen, sich zu informieren, aber auch andere zu mobilisieren. In diesem partizipatorischen Austausch haben sich die digitalen Medien in den letzten Jahren immer stärker durchgesetzt. Allerdings sind die dabei stattfindenden Prozesse einer politischen Medienbildung oft flüchtig – etwa, wenn man kurz durch ein „Like“ seine Zustimmung zu einem Online-Kommentar ausdrückt, oder wenn man sich in der Filterblase mit seinen Meinungen gegenseitig verstärkt. Schnell kann sich ein „Shitstorm“ als Protest aufbauen, der aber häufig genauso schnell wieder verfliegt.

Langfristige politisch-partizipatorische Arbeit wird deshalb immer auf die Offline-Welt als kulturelles Umfeld zurückgreifen müssen – und kann nicht, wie es die Piratenpartei in Deutschland angenommen hatte, zu einem überwiegenden Teil online stattfinden. Politische Prozesse beziehen sich – um nochmals die Überlegungen von Jenkins aufzugreifen – weniger auf die technologische Interaktivität als auf eine kulturelle Partizipation, bei der die inhaltliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen wichtig ist. Genau dies wäre die Aufgabe einer medienpädagogisch orientierten politischen Bildung, die sich mit den Inhalten und Positionen auseinandersetzt, die im Internet vertreten werden.

Übung 3.6

Unter partizipativen Aspekten kann man folgende Formen der Internetnutzung unterscheiden:

  1. 1.

    Einmal ist es die – kaum partizipative – Nutzung im Sinne des Web 1.0. Hier lädt man vor allem Informationen aus dem Netz herunter und konsumiert Angebote.

  2. 2.

    Webangebote können aber auch aktiv genutzt werden, indem man z. B. seine Konten über Online-Banking verwaltet, in Online-Shops einkauft, Reisen über das Netz plant und bucht etc.

  3. 3.

    Man trägt über „User-generated Content“ selbst mit Angeboten zum Web bei – etwa indem man auf Facebook oder Twitter Nachrichten postet, einen Blog oder eine Website unterhält etc. Das können aber auch schon sehr niederschwellige Aktivitäten sein wie ein Kommentar zu einer Nachricht, Likes etc. Allerdings ist umstritten, ob solche kleinteiligen Aktivitäten schon zum „User-generated Content“ gehören.

Überlegen Sie sich, unter welchen der drei Formen bei Ihnen der Schwerpunkt Ihrer Web- und Smartphone-Aktivitäten liegt. Wie hat sich ihr Verhalten in den letzten drei Jahren verändert? Hat es sich stärker dem Muster des „Produsers“ angenähert, wie es in der Fachliteratur beschrieben wird? Tauschen Sie sich in Ihrem Seminar oder mit Kolleginnen und Kollegen über die Ergebnisse aus.