Zusammenfassung
In den Vorwürfen der Verbreitung von ‚Fake News‘, denen die Massenmedien derzeit ausgesetzt sind, und in deren Abwehr durch Vertreter der Massenmedien werden wir Zeugen einer Moralisierung der Massenmedien: nämlich als ‚Lügenpresse‘ oder im Gegenteil als Hüter der Wahrheit. Ihre eigentliche politische Funktion haben Massenmedien allerdings eher in der politischen Deliberation, die nicht auf Information zu reduzieren ist. Der Artikel untersucht, welche Folgen eine moralisierende Aufwertung von ‚Wahrheit‘ als eigentlichem Geschäft der Massenmedien für die Prozesse der politischen Deliberation hat, die nicht in Moralität, sondern in Normativität den ihnen adäquaten Geltungstypus finden. Abschließend wird eine Gegenwartsdiagnose skizziert, die nicht Postfaktizität, sondern Postnormativität als Kernproblem gegenwärtiger politischer Kommunikationsprozesse ausmacht.
Schlüsselwörter
- Massenmedien
- Politische Öffentlichkeit
- Normativität
- Wahrheit
- Habermas, Durkheim
- Demokratie
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Ich danke Jürgen Schraten und Doris Schweitzer für einsichtsvolle Anmerkungen und hilfreiche Vorschläge zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.
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Habermas hat selbst durch seine publizistische Praxis ein Beispiel dafür gegeben, was für die massenmediale Konstellation politischer Deliberation typisch ist, nämlich die parallele oder auch miteinander verknüpfte Konstruktion unterschiedlicher Bühnen, auf denen bestimmte Aspekte und Register politischer Geltungsansprüche zur Geltung gebracht werden können: Der Habermas der ‚Kleinen politischen Schriften‘ bringt Anderes zur (politischen) Geltung als der Habermas der Theorie des kommunikativen Handelns (obwohl beides im selben Verlag erschien). Auch damit ist er ein Theoretiker politischer Deliberation in Zeiten der Massenmedien, dem klar ist, dass ‚kommunikative Rationalität‘ in vielerlei Spielarten auftritt, die jeweils unterschiedliche Register kommunikativer Rationalität samt unterschiedlicher Normverletzungsdynamiken mit sich bringen und die in den Massenmedien öffentlich zur Schau gestellt werden.
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Insbesondere geht es Habermas dabei um den Nachweis, dass sich gesellschaftliche Modernisierungsprozesse als Formen der kommunikativen, auf die symbolische Struktur von Sprache reflektierenden Rationalisierung auffassen lassen, d. h. dass die Einheit normativer Geltungsansprüche im ‚Sakralen‘ im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung in verschiedene Wertsphären zerlegt wird, die zunehmend die normative Eigenlogik sprachlicher Kommunikation in der Lebenswelt freilegen (Habermas 1981b: 118–133).
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„Wenn sich also, sobald ein Verbrechen geschieht, die Individuen, deren Bewußtsein es verletzt hat, nicht vereinigen, um sich gegenseitig zu bezeugen, daß sie in Kommunikation bleiben und daß dieser besondere Fall eine Anomalie ist, so würde es nicht ausbleiben können, daß sie auf die Dauer erschüttert würden. Sie müssen sich stärken und gegenseitig versichern, daß sie noch immer im Einklang stehen.“ (Durkheim 1992 [1893]: 153; vgl. auch Durkheim 1984a: 157 f.).
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Ich entnehme diesen Begriff der Dissertationsschrift von David Scheller zum Thema „Für ein Recht auf Stadt! Urbaner Raum und Assoziationsweisen in städtischen sozialen Bewegungen. Eine hegemonietheoretische Fallstudie zu Berlin und New York City“ (Justus-Liebig-Universität Gießen).
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Dies gilt ausdrücklich auch für die mit harten Strafen bewehrte Normabweichung: Die Strafe „dient nicht oder nur sehr zweitrangig dazu, den Schuldigen zu korrigieren oder mögliche Nachahmer einzuschüchtern. In beiderlei Hinsicht ist ihre Wirksamkeit zu Recht zweifelhaft und auf alle Fälle mäßig. Ihre wirkliche Funktion ist es, den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, indem sie dem gemeinsamen Bewußtsein seine volle Lebensfähigkeit erhält.“ (Durkheim 1992 [1893]: 158 f.).
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Goffman (1975: 174) verweist darauf, dass unter bestimmten Umständen („kleine[.] familienartige[.] Gruppen“ auch dauerhaft abweichende Individuen nicht aus der Gruppe ausgeschlossen werden.
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Durkheim spricht von dem Unterschied zwischen „organisierte[r] Bestrafung“ und „diffuse[r] Bestrafung“, die dem Unterschied zwischen stark verankerter kollektivem „Bewußtseinszustand“ bzw. dessen starker „Verletzung“ und einer demgegenüber schwachen Ausprägung beider entspricht (Durkheim 1992 [1893]: 153 f.).
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Strafrechtliche Normen „binden das Einzelbewußtsein direkt und ohne Vermittlung an das Kollektivbewußtsein, d. h. das Individuum an die Gesellschaft.“ (Durkheim 1992 [1893]: 166).
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Ich beziehe mich in diesem Abschnitt auf Langenohl (2014), wo dieses Argument in größerer Breite entfaltet wird.
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Langenohl, A. (2019). Informationen gegen Fake News. Zur postnormativen Moralisierung der Massenmedien. In: Joller, S., Stanisavljevic, M. (eds) Moralische Kollektive. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22978-8_5
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