Zusammenfassung
Obwohl die soziologische Suche nach dem, was die Gesellschaft im Inneren zusammenhält, schon immer ein Auge auf die Moral richtete, entdeckt (nicht nur) die Wissenschaft das Moralische gerade wieder neu. In Rückgriff auf die Arbeiten von Émile Durkheim, Niklas Luhmann sowie von Jörg Bergmann und Thomas Luckmann wird eine Soziologie der Moral vorgeschlagen, die auch angesichts funktionaler Alternativen, die der Moral in modernen Gesellschaften vermeintlich den Rang abgelaufen haben, leistungsfähig bleibt. Weil aber die Moral in einer primär funktional ausdifferenzierten Gesellschaft nur eine Ordnungskraft unter anderen ist und nicht länger davon ausgegangen werden kann, dass sie eine universale Motivationsstruktur hervorbringt, bedarf eine sozialtheoretisch fundierte und gesellschaftstheoretisch sensible Moralanalyse eine entsprechende Perspektive. Der hier vorgeschlagene Fokus auf die Konkurrenz moralischer Kollektive und ihre Entfaltung im Verhältnis zu anderen Normativen soll dazu beitragen, eine ebensolche Perspektive voranzutreiben.
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Notes
- 1.
Dieser Beitrag findet sich in leicht abgewandelter Form auch in „Skandal und Moral“ (Joller 2018), wo die Idee der Konkurrenz moralischer Kollektive grundlagentheoretisch von einer gesonderten Diskussion der einzelnen moraltheoretischen Ansätze eingeleitet wird.
- 2.
Die moralische Integration von funktional differenzierten Gesellschaften würde im systemtheoretischen Sinne bedeuten, dass die Binärcodierungen der Funktionssysteme mit der Codierung der Moral übereinstimmen. Dass also das Wahre der Wissenschaft unweigerlich als gut und das Falsche als schlecht gehandhabt würde (Luhmann 1990: 23–24). Gleiches gälte für die Beobachtung der Wirtschaft, wobei dann jede Zahlung als gut hingenommen werden müsste, unabhängig davon, ob sie der Entwicklung von veganen Nahrungsergänzungsmitteln oder aber jener von chemischen Kampfstoffen gälte.
- 3.
Nur weil die Moral dieses Potenzial strukturell in sich trägt, wird dieses jedoch nicht unweigerlich auch umgesetzt. Zudem ist es ein Gemeinplatz, dass sich die Moral auch strategisch einsetzen lässt, wenn etwa oppositionelle Kräfte die Regierung moralisch angreifen oder aber beispielsweise gewisse journalistische Formate über Moralisierungen eine erhöhte Aufmerksamkeit zu erreichen suchen. Gerade weil die semantischen Ausformungen der Moral in unterschiedlichen Funktionssystemen instrumentalisiert werden können und sich entsprechend durch eine „Hyper-Konnektivität“ (Stäheli 2004: 183; 2005: 160) auszeichnen, die auch im Populären zu finden ist (ebd. 2005), droht der Moral auch selbst Moralisierung. Nämlich immer dann, wenn die Moral nicht um ihrer selbst willen kommunikativ Form annimmt. Dies führt letztlich dazu, dass sich die Alarmierfunktion der Moral in funktional differenzierten Gesellschaften fortwährend gegen einen strukturellen Strategie-/Manipulationsverdacht behaupten muss.
- 4.
Wenn hier von Inszenierung gesprochen wird, so sei damit keine Täuschungsabsicht, sondern eine kommunikative Notwendigkeit der Darstellung moralischer Urteile unterstellt. Dass Täuschung und/oder strategische Moralisierung zugleich stets möglich sind, ändert nichts an der Unumgänglichkeit der kommunikativen Inszenierung der Moral – vielmehr gründen diese Optionen gerade auf dieser Tatsache.
- 5.
Die unterstellte Reziprozität wirkt sich nicht determinierend auf den Erweis oder den Entzug von Achtung aus, denn nur auf Basis der gleichzeitigen Möglichkeit von Achtung oder Missachtung kann sich eine moralische Ordnung überhaupt entfalten.
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Joller, S. (2019). Zur Konkurrenz moralischer Kollektive. In: Joller, S., Stanisavljevic, M. (eds) Moralische Kollektive. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22978-8_3
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