Zusammenfassung
Der Ausbau der Stromnetze sorgt für Konflikte zwischen Staat, Bürgern und Netzbetreibern. Um diese Konflikte zu verringern, hat der Gesetzgeber umfangreiche Formen der Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Bedarfsplanung für Stromnetze eingeführt. Der Beitrag erforscht, ob diese Öffentlichkeitsbeteiligung einen Einfluss auf die Planungsentscheidungen der Übertragungsnetzbetreiber hat. Anhand einer quantitativen und qualitativen Untersuchung der Öffentlichkeitsbeteiligung zum Netzentwicklungsplan 2012 argumentiert der Beitrag, dass die Eingaben zur Öffentlichkeitsbeteiligung sich kaum auf die Entscheidungen der Übertragungsnetzbetreiber auswirken. Dieses Ergebnis bestätigt die aus dem soziologischen Institutionalismus abgeleitete Annahme, dass das Verfahren nur „myth and ceremony“ ist und in der Praxis wirkungslos bleibt. Aus tauschtheoretischer Perspektive wirft es die Frage auf, ob das Verfahren deshalb wirkungslos bleibt, weil die Konsultationsteilnehmer keine Informationen liefern, die die Übertragungsnetzbetreiber als erstrebenswertes „Tauschgut“ ansehen.
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Notes
- 1.
„Öffentlichkeit“ meint ein breites Spektrum von Akteuren, wie Bürger, Kommunen, Unternehmen und Verbände. Es handelt sich nicht um reine „Bürgerbeteiligung“, da die Eingaben der Bürger mit den Stellungnahmen von Wirtschaftsverbänden oder Landesregierungen konkurrieren.
- 2.
Bei der Einführung des Verfahrens sagte Wirtschaftsminister Rösler: „[…] es ging im ersten, frühen Stadium darum, mit den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern vor Ort über den konkreten Ausbaubedarf zu diskutieren. Dieses Beteiligungsverfahren ist beispielhaft für viele Infrastrukturmaßnahmen. Denn es hat sehr frühzeitig begonnen […]“, Philipp Rösler, Plenarprotokoll des Bundestages 17/237.
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Beispielsweise schreibt das EnWG nicht vor, dass die Eingaben „abgewogen“ werden sollten. Eine Abwägung im Planungsrecht erfolgt in einem strukturierten Vorgang nach Abwägungskriterien. Die Eingaben zum Netzentwicklungsplan dagegen sollen explizit nur „berücksichtigt“ werden (Harms 2014, S. 39).
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Die Originalformulierung von Meyer et al. lautet „It is easier to create a cabinet ministry with appropriate policies for education or for the protection of women than to build schools and organize social services implementing these policies. It is easier to plan for economic development than to generate capital or technical and labor skills that can make development happen“ (Meyer et al. 1997, S. 154). Analog könnte man formulieren: Es ist einfacher, eine Öffentlichkeitsbeteiligung formal durchzuführen, als nachher auch die Eingaben ernsthaft zu berücksichtigen.
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Anhand von zwei Beispielen: Das Trassenprojekt Korridor B wird im ersten Entwurf mit 296 Wörtern beschrieben. Im Vergleich dazu sind im zweiten Entwurf (also nach der Konsultation) 4 Wörter hinzugefügt und 13 Wörter gelöscht worden. Also sind 17 von 296 Wörtern geändert, so dass ca. 6 % des Textes geändert wurden. Trassenprojekt P33 wird im ersten Entwurf mit 97 Wörtern beschrieben, im zweiten Entwurf sind 122 Wörter hinzugefügt und 9 Wörter gelöscht worden, sodass 133 % des Textes geändert wurden. Alternativ dazu wurden die Variablen TEXT_WOERTERGEAENDERT (Zahl hinzugefügte Wörter + Zahl gelöschte Wörter) sowie TEXT_DIFFERENZ (Zahl der Wörter in Entwurf 2 – Zahl der Wörter in Entwurf 1) gebildet; die substanziellen Ergebnisse ändern sich dadurch nicht. Der Prozentsatz der geänderten Wörter ist außerdem das am besten interpretierbare Maß.
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Die Beschreibung von P39 ist von 77 auf 182 Wörter angewachsen.
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Das Kodierhandbuch ist umfangreich und behandelt viele Grenzfälle, aber die Grundlogik ist einfach: Juristische Argumente beziehen sich auf Gesetze, Regulierungen und Rechtsprechung; politische Argumente auf nicht-einklagbare politische Zielsetzungen, Programme und Legitimitätsvorstellungen; technische Argumente auf technische Eigenschaften der Stromleitungen; ökonomische Argumente auf monetäre Kosten und Nutzen; ökologische Argumente auf Natur-, Klima- und Tierschutz; medizinische Argumente auf Krankheiten; NIMBY-Argumente schließlich beziehen sich auf Landschaftsverschandelung oder lehnen die Stromtrassen einfach ohne eines der anderen Argumente ab.
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Die Interkoder-Reliabilität ist sehr gut für den Akteurstyp, Krippendorff’s Alpha ist 0.9. Krippendorff’s Alpha für die Art der Argumente ist akzeptabel (im Mittel 0.63), und reicht von eher schwach (0.39 für NIMBY Argumente) bis zu sehr guter Übereinstimmung (0.8 für die medizinischen Argumente).
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Auch für den Netzentwicklungsplan war von Beobachtern zunächst befürchtet worden „das Postfach dürfte ziemlich leer bleiben“, da die Dokumente zu technisch seien (Berkel 2011).
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Die Eingaben zu den Trassenprojekten sind durchweg kritisch. Wir haben die Variable „Lob“ kodiert um zu erfassen, ob ein Trassenprojekt in einer Eingabe befürwortet wird. Dies ist nur in 4 von 462 Eingaben (oder 0,87 % der Fälle) der Fall, sodass wir davon ausgehen können, dass eine Eingabe, die ein Trassenprojekt erwähnt, sich auch gegen dieses Projekt wendet.
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Von den Akteurstypen Wissenschaft, Parteien und Bundesbehörden gibt es zu wenige Eingaben, um sinnvoll quantitative Modelle zu rechnen.
- 14.
Stellungnahme abrufbar unter https://www.netzentwicklungsplan.de/konsultation/stellungnahme/2012/46532 (15.05.2017).
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Beispielsweise bei Projekt P38: „Als Alternative wäre eine weitere Vermaschung durch den Neubau einer 380-kV-Leitung Eula – Weida in bestehender 220-kV-Trasse und einem zusätzlichen Trassenneubau von Weida nach Remptendorf denkbar. Nachteil dieser Variante ist die weitere Verstärkung des Lastflusses Richtung Remptendorf/Altenfeld und die etwas größere Trassenlänge für den Leitungsneubau.“ (ÜNB 2012).
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- 17.
https://www.netzentwicklungsplan.de/konsultation/file/66840
https://www.netzentwicklungsplan.de/konsultation/stellungnahme/2012/46.840
https://www.netzentwicklungsplan.de/konsultation/file/66.942
https://www.netzentwicklungsplan.de/konsultation/file/67.083
https://www.netzentwicklungsplan.de/konsultation/stellungnahme/2012/47.325
https://www.netzentwicklungsplan.de/konsultation/file/67330 (alle abgerufen am 15.05.2017).
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Dieser Vorwurf hat durchaus seine Berechtigung. 173 der 1006 Eingaben enthalten Wendungen wie „widerspreche“, „wende mich gegen…“, „Einspruch“ oder „Widerspruch“, die auf diese Sichtweise hindeuten.
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An dieser Stelle ist die Definition des Startnetzes eine Einladung für Konflikte. Das Startnetz wird im Netzentwicklungsplan ausführlich dargestellt. Es soll das Netz abbilden, von dem ausgegangen wird, und enthält a) das bestehende Netz, b) die EnLAG-Maßnahmen, c) die bereits in der Umsetzung befindlichen Maßnahmen sowie d) Maßnahmen deren Planungsstand schon sehr weit fortgeschritten ist. Unter die Punkte b) bis d) fallen einige sehr umstrittene Projekte. Dass diese Projekte aus der Konsultation herausgenommen sind, ist nur schwer zu vermitteln und birgt Konfliktpotenzial.
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Dazu explizit in der Bundestagsdebatte vor allem Johann Saathoff und Thomas Bareiß, Plenarprotokoll des Bundestages 18/143, abrufbar unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/18/18143.pdf#P.14053 (23.05.2017).
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Fink, S., Ruffing, E. (2018). Öffentlichkeitsbeteiligung durch private Akteure: Eine empirische Analyse des deutschen Verfahrens zur Erstellung von Netzentwicklungsplänen. In: Radtke, J., Kersting, N. (eds) Energiewende. Energietransformation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21561-3_8
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