Zusammenfassung
Das hier entwickelte Verständnis von Migrationsregimen ermöglicht die Beschreibung und Erforschung der Selbstorganisation von Akteursgeflechten, die durch institutionelle Problematisierungen von Migration in Beziehung zueinander gesetzt werden. Der Begriff akzentuiert einerseits die Fragmentierung, Dezentrierung und Multiplizierung staatlich durchdrungener Ordnungsfigurationen und andererseits die Ko-Konstitution migrationsbezogener Phänomene durch komplexe Akteurskonstellationen. Der Macht Problematisierungen zu lancieren, durchzusetzen und zu modellieren kommt dabei konzeptionell eine zentrale Rolle zu. Der Regimebegriff reflektiert vor allem jene Vernetzungs- und Kooperationsnotwendigkeiten über organisatorische Grenzen hinweg, die durch das Regieren von komplexen sozialen Phänomenen, wie Migration, in komplexer institutioneller Landschaft entstehen. Er ist als offener nicht-essentialistischer Strukturbegriff der Mesoebene zu verstehen, der zwischen Individuen, Organisationen und Makrostrukturen vermittelt. Die Flexibilität des Begriffs erlaubt eine große Breite an Gegenstandbezügen und ermutigt explorative Forschungsstrategien. Er umreißt empirische Forschungsfelder, eröffnet reflexive Metaebenen für Fallvergleiche und ermöglicht Generalisierungen.
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Notes
- 1.
Ethnic lens bezeichnet die Kritik, dass wissenschaftliche Beobachter_innen Personen als Vertreter_innen ethnischer Gruppen wahrnehmen, weil sie bereits im Vorhinein davon ausgehen, dass sie und deshalb nicht.
- 2.
Holismus ist die Vorstellung, dass benennbare Entitäten aus sich heraus eine sinnhafte Ganzheit darstellen und nicht aus mehr oder weniger unverbundenen Teilen bestehen, die bloß aufgrund einer Benennung als Ganzheit erscheinen.
- 3.
Diese Formulierung habe ich aus persönlichen Gesprächen mit Richard Rottenburg übernommen.
- 4.
Dies trifft auch auf vornationalstaatliche Formen der Gesellschaftsbildung zu. Die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden geht aber über meine fachliche Expertise hinaus und ich verweise diesbezüglich auf die einschlägige historische Fachliteratur (vgl. Oltmer 2016).
- 5.
Staaten regulieren natürlich nicht nur den Schutz von Staatsbürgern, sondern können, wenn sie einmal Zuständigkeit für und Zugriff auf Personen hergestellt haben, alle möglichen Praktiken anschließen.
- 6.
https://de.wikisource.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenrechte#Artikel_13. Zugriff: 28.04.2016.
- 7.
William Walters (2015) bestimmt den Begriff der Gouvernementalität in ähnlicher Weise.
- 8.
2015 wurde die Gesetzesänderung durch Bundestag und Bundesrat verabschiedet, nach der die Altersgrenze für die Handlungsfähigkeit im Asylverfahrensgesetz auf 18 Jahre erhöht wurde (Bundesrat 2015, S. 43).
- 9.
Das bedeutet, dass 16- und 17-jährige Jugendliche in Sammelunterkünften mit Erwachsenen untergebracht werden konnten, die Jugendlichen Leistungen nach dem Asylverfahrensgesetz und nicht nach dem SGB VIII erhielten, kein Vormund bestellt und im Asylverfahren kein fachlich qualifizierter Verfahrenspfleger bestimmt wurde.
- 10.
Vgl. http://www.hamburg.de/contentblob/2672526/46fe123acc3c5250e1a1381b6b0e9e46/data/doku-2010.pdf. Zugriff: 22.06.2017.
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Nieswand, B. (2018). Problematisierung und Emergenz. Die Regimeperspektive in der Migrationsforschung. In: Pott, A., Rass, C., Wolff, F. (eds) Was ist ein Migrationsregime? What Is a Migration Regime?. Migrationsgesellschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20532-4_4
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