Zusammenfassung
Unter den in der Psychiatrie gebräuchlichen Aufschreib- und Aufzeichnungssystemen spielen der Film und später die Videoaufzeichnung (mit Ton) eine besondere Rolle, scheint sie doch auf den ersten Blick eine „ungefilterte“, „objektive“ Dokumentation zu sein. „Verwickelte pathologische Bewegungsabläufe“, sonst kaum beschreibbar, sollten sichtbar, konservierbar und auch zwischen verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen vergleichbar gemacht werden. Ebenso glaubte man, rein psychopathologische Symptome in Reinform darstellen und zu einer Art „Videoenzyklopädie“ psychiatrischer Symptome zusammenfassen zu können – dies sollte nicht nur dem Unterricht dienen, sondern auch die Entwicklung einer allgemein gültigen Klassifikation erleichtern.
Der vorliegende Beitrag nimmt die Entstehungsweise psychiatrischer Lehrfilme am Beispiel von Filmdokumenten in den Blick, die in den 1970er und 1980er Jahren in der vorwiegend psychopathologisch ausgerichteten Heidelberger Universitätspsychiatrie entstanden sind. Der Einführung und Kontextualisierung dient ein kurzer Rückblick auf andere psychiatrisch genutzte Aufzeichnungssysteme.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Andrews weist auf das „Casebook“ von John Monro aus dem Londoner Bethlem vom Jahr 1763 hin. 1803 habe Thomas Percival das Führen von „Journals of Patients“ vorgeschlagen, in der Anstaltspraxis habe sich der Vorschlag etwa ab 1815/1816 durchgesetzt.
- 2.
Nach Andrews stand Percivals Forderung nach „Journals“ in Zusammenhang mit dem Streben „to augment medical knowledge of insanity“. In den Jahren 1815/1816 habe das „Commons Committee on Madhouses“ skandalöse Zustände im Bethlem und anderen Institutionen öffentlich gemacht, die zu strengeren Regeln einschließlich Dokumentation geführt hätten. Diese Aufdeckung resultierte in verstärkter Kontrolle wie auch der Einführung der Dokumentation.
- 3.
Schmieder bezieht sich auf den Schweizer Anthropologen Rudolf Martin (1864–1925) und dessen „Lehrbuch der Anthropologie“ in der 2. Auflage von 1928.
- 4.
Die Tagungen des Arbeitskreises wurden dokumentiert, einige in nicht im Buchhandel erhältlichen Readern (z. B. die 3. und 4. 1978/1979 in einem 1980 von Joachim Ronge publizierten Reader mit dem Titel „Audiovisuelle Methoden in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung“), andere in regelrechten Tagungsbänden (z. B. die 17. von 1995) in dem von Hartwich herausgegebenen Buch „Videotechnik in Psychiatrie und Psychotherapie“.
- 5.
Telefonisches Zeitzeugengespräch von Maike Rotzoll mit Dr. Joachim Ronge am 07.05.2015 und persönliches Zeitzeugengespräch in Ludwigsburg am 22.05.2015.
- 6.
Hierauf verwies Ronge nach seiner Erinnerung im Zeitzeugengespräch.
- 7.
Auch auf diese Zusammenhänge verwies Ronge im Zeitzeugengespräch.
- 8.
Es wurde auch ein Zeitzeugengespräch mit Werner Janzarik geführt, in dem dieser einer Verwendung der Filme für einen Aufsatz und auch der Abbildung von Standbildern zustimmte.
- 9.
Das Spiegel-Heft 10/1977 vom 28. 02. dieses Jahres über den ersten großen Abhörskandal in der BRD trug den Titel: Verfassungsschutz bricht Verfassung. Lauschangriff auf Bürger T. – Atomstaat oder Rechtsstaat? Vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40941938.html (zuletzt eingesehen am 12.11.2015).
Literatur
Alger, I., & Hogan, P. (1967). The use of videotape recordings in conjoint marital therapy. American Journal of Psychiatry, 123,1425–1430.
Andrews, J. (1998). Case notes, case histories and the patient’s experience of insanity at Gartnavel Royal Asylum, Glasgow, in the nineteenth century. Social History of Medicine, 11,255–281.
Ankele, Mo. (2009). Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn. Wien: Böhlau.
Anonym. (1922). Bericht über die 15. Jahresversammlung des Vereins Bayerischer Psychiater in München am 30. und 31. Juli 1921, 2. Sitzung: Emil Kraepelin, Demonstration kinematographischer Krankenaufnahmen. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin, 78, 147.
Aubert, G. (2002). From photography to cinematography: Recording movement and gait in a neurological context. Journal of the History of Neurosciences, 11,248–257.
Balz, V. (2008). Die Geburt der Stammkarte. Zur Genese eines Epistems der neuroleptischen Wirksamkeit in der frühen Psychopharmakaforschung in der BRD. Medizinhistorisches Journal, 43,56–86.
Bernet, B. (2009). „Eintragen und Ausfüllen“: Der Fall des psychiatrischen Formulars. In S. Brändli, B. Lüthi, & G. Spuhler (Hrsg.), Zum Fall machen, zum Fall werden (S. 62–91). Frankfurt a. M.: Campus.
Bömelburg, H. (2007). Der Arzt und sein Modell. Porträtfotografien aus der deutschen Psychiatrie 1880 bis 1933. Stuttgart: Steiner.
Bonah, C., & Rotzoll, M. (2015). Psychopathologie in Bewegung. Zur Geschichte der Psychiatriefilme in Straßburg und Heidelberg. In P. Osten, G. Moser, C. Bonah, A. Sumpf, T. Close-Koenig, & J. Danet (Hrsg.), Das Vorprogramm. Lehrfilm, Gebrauchsfilm, Propagandafilm, unveröffentlichter Film in Kinos und Archiven am Oberrhein, 1900–1970 (S. 263–286). Heidelberg: A 25 Rhinfilm.
Borck, C. (2005). Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroencephalographie. Göttingen: Wallstein.
Cording-Tömmel, C. (1980). Ökonomie statt Perfektion. Videoproduktionen im psychiatrischen Großkrankenhaus. In J. Ronge (Hrsg.), Audiovisuelle Methoden in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung. Ludwigsburg: Reprografischer Fachbetrieb Michael Haubner.
Didi-Hubermann, G. (1982). L’invention de l’hystérie. Charcot et l’iconographie photographique de la Salpêtrière. Paris: Ed. Macula.
Elkeles, B. (1989). Die schweigsame Welt von Arzt und Patient. Einwilligung und Aufklärung in der Arzt-Patient-Beziehung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Medizin, Gesellschaft und Geschichte, 8,63–91.
Hartwich, P. (Hrsg.). (1999). Videotechnik in Psychiatrie und Psychotherapie. Sternenfels: Wissenschaft & Praxis.
Hennes, H. (1910). Die Kinematographie im Dienste der Neurologie und Psychiatrie, nebst Beschreibung einiger seltener Bewegungsstörungen. Medizinische Klinik, 6,2010.
Hoffmann-Richter, U. (1995). Das Verschwinden der Biographie in der Krankengeschichte. Eine biographische Skizze. Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 8,204–221.
Janzarik, W. (1979). 100 Jahre Heidelberger Psychiatrie. In W. Janzarik (Hrsg.), Psychopathologie als Grundlagenwissenschaft (S. 1–18). Stuttgart: Enke.
Jaspers, K. (1948). Allgemeine Psychopathologie (5. Aufl.). Berlin: Springer.
Jaspers, K. (1965). Allgemeine Psychpathologie (8. Aufl.). Berlin: Springer.
Kersting, F.-W., & Schmuhl, H.-W. (2016). Christliche Liebestätigkeit, medizinischer Fortschritt und NS-Erbgesundheitspolitik. Der Bethel-Film „Ringende Menschen“ (1933) aus Sicht der Visual History. In M. Benad, H.-W. Schmuhl, & K. Stockhecke (Hrsg.), Bethels Mission 4; Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte: Bd. 44. Beiträge von der Zeit des Nationalsozialismus bis zur Psychiatriereform (S. 117–136). Bielefeld: Luther-Verlag.
Kick, H. (1992). Der Wahn als Problem der klinischen Diagnostik und als Abwandlung der dialogischen Grundverfassung. Fundamenta Psychiatrica, 6,190–195.
Köhler, G. K., & Miller, M. (1982). Arbeit mit dem Video in der Psychiatrie: Ursprünge, Entwicklungen, Tendenzen. In B. Kügelgen (Hrsg.), Video und Medizin (S. 37–63). Erlangen: perimed Fachbuch-Verlagsgesellschaft.
Köhler, G. K., & Miller, M. (1989). Bedeutung des IAAPP (1977–1987) für die Arbeit mit Video in Psychiatrie und Psychotherapie. In B. Kügelgen (Hrsg.), Video in Psychiatrie und Psychotherapie (S. 2–10). Heidelberg: Springer.
Köhne, J. B. (2009). Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens (1914–1920). Husum: Matthiessen.
Kretschmer, E. (1921). Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten. Berlin: Springer.
Kretschmer, E. (1929). Geniale Menschen. Berlin: Springer.
Lachmund, J., & Stollberg, G. (1995). Patientenwelten: Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien. Opladen: Leske + Budrich.
Larsen, Ø. (1991). Case histories in nineteenth-century hospitals – What do they tell the historian? Some methodological considerations with special reference to Mckeown’s criticism of medicine. Medizin, Gesellschaft und Geschichte, 10,127–148.
Ledebur, S. (2012). Zur Epistemologie einer Ausschlussdiagnose. Unwissen, Diskurs und Untersuchungstechniken bei Simulation psychischer Erkrankungen. In M. Wernli (Hrsg.), Wissen und Nicht-Wissen in der Klinik. Dynamiken der Psychiatrie um 1900 (S. 17–50). Bielefeld: Transcript.
Meier, M., Bernet, B., Dubach, R., & German, U. (2007). Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870–1970. Zürich: Chronos.
Nolte, K. (2009). Vom Verschwinden der Laienperspektive aus der Krankengeschichte: Medizinische Fallberichte im 19. Jahrhundert. In S. Brändli, B. Lüthi, & G. Spuhler (Hrsg.), Zum Fall machen, zum Fall werden (S. 33–61). Frankfurt a. M.: Campus.
Regener, S. (2010). Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: Transcript.
Reichert, R. (2007). Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens. Transcript: Bielefeld.
Ronge, J. (1978). Über die Anwendung audiovisueller Methoden in der psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg. In H. Helmchen & E. Renfordt (Hrsg.), Fernsehen in der Psychiatrie (S. 16–17). Stuttgart: Thieme (Symposium Berlin, Oktober 1977).
Rost, K. L. (1987). Sterilisation und Euthanasie im Film des „Dritten Reiches“. Nationalsozialistische Propaganda in ihrer Beziehung zu rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Staates. Husum: Matthiessen.
Schmieder, F. (Friedrich) (1943). Die Photographie in der Psychiatrie. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 176,31–50.
Scholz, F. (1892). Lehrbuch der Irrenheilkunde. Für Ärzte und Studierende. Leipzig: Mayer.
Schuster, P. (1898). Vorführung pathologischer Bewegungskomplexe mittelst des Kinematographen und Erläuterung derselben. In A. Wangerin & O. Taschenberg (Hrsg.), Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte 1897 (S. 196–199). Leipzig: Vogel.
Spatz, H. (1922). Die 12. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte in Halle am 13./14. Oktober 1922. Münchener Medizinische Wochenschrift, 69,1524.
Thomalla, C. (1919). Ein psychiatrisch-neurologisches Filmarchiv. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 45,87–97.
Weygandt, W. (1902). Atlas und Grundriss der Psychiatrie. München: Lehmanns.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2019 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Rotzoll, M. (2019). Aufzeichnung oder Anordnung? Zum psychiatrischen Lehrfilm am Beispiel der „Audiovision“ an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik in den 1970er-Jahren. In: Ankele, M., Kaiser, C., Ledebur, S. (eds) Aufführen – Aufzeichnen – Anordnen. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20151-7_11
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-20151-7_11
Published:
Publisher Name: Springer, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-20150-0
Online ISBN: 978-3-658-20151-7
eBook Packages: Psychology (German Language)