Zusammenfassung
Wir Menschen können Erfahrungen machen und Verhaltensweisen zeigen, die treffend als „ambivalent“ bezeichnet werden. Eine differenzierte Analyse ergibt: Thematisiert werden Zwiespältigkeiten und Differenzen und ein mehrdimensionales Erleben von Zeit. Diese verweisen darauf, wie wir Menschen Vorstellungen unserer persönlichen Identität, des „Selbst“, in den Beziehungen zu anderen, der Zugehörigkeit zu Organisationen und „Gemeinschaften“ aller Art entwickeln sowie umsetzen können. Dabei zeigt sich: Es gibt persönliche Unterschiede in der „Sensibilität für Ambivalenzen“; Organisationen entfalten unterschiedliche „Kulturen des Ambivalenten“. Dementsprechend lässt sich im Blick auf die Praxis beispielsweise eine Typologie von Strategien des Führens ableiten. Daraus ergeben sich Anstöße für die Arbeit über Themen der „Zugehörigkeit“. Im Horizont zeichnet sich die Frage ab, welches Menschenbild dieser Perspektive zugrunde liegt.
(Der Mensch) lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt auch sein Erleben.
(Plessner 1986 )
In diesem Text stütze ich mich auf einige Ausführungen in früheren Veröffentlichungen, insbesondere Lüscher (2016, 2012b).
Notes
- 1.
Für eine Skizze der Begriffsgeschichte siehe Lüscher (2009).
- 2.
Eine ausführliche Darstellung bietet Junge (2000) im Rahmen seiner Arbeit über „Ambivalente Gesellschaftlichkeit“.
- 3.
Diese Ausrichtung auf Kausalitäten erfolgt oft reduktionistisch und sogar dogmatisch. Sie findet sich beispielsweise in gewissen Spielformen der psychologischen Bindungstheorie, ferner in der Behauptung eines Primats der Natur vor der Kultur oder in fundamentalistischen Menschenbildern.
- 4.
Siehe hierzu auch Abschn. 3.5.
- 5.
Der dritte Aufsatz ist überdies von Interesse, weil darin die wirtschaftspolitisch relevante These vertreten wird, dass ein konstruktiver Umgang mit Ambivalenzen eher in kleineren, sogenannt mittelständischen Unternehmungen möglich ist.
- 6.
Vertrauen – um ein Beispiel zu nennen – ist gemäß den Autoren durch folgende Handlungsstrategien gewährleistet: Selbstöffnung, Toleranz, Wechselseitigkeit, Gerechtigkeit (siehe hierzu auch die Erläuterungen in Stahl 2013, S. 228).
- 7.
- 8.
Hierzu das Kapitel „Organisationskultur“ in Stahl (2013, S. 178–181). Präsentiert wird bezeichnenderweise eine Schematik, in der „Merkmalspaare einer offenen und geschlossenen Organisationskultur“ präsentiert werden: Vielfalt vs. Homogenität, Spontaneität vs. Ordnung, Außenorientierung vs. Binnenorientierung. Sie lassen sich m. E. als Rahmenbedingungen für das Entstehen, Zulassen und Gestaltungen von Ambivalenzen verstehen, bieten sich somit als Ausgangspunkt für vertiefende Analysen an.
- 9.
- 10.
Mit einer gewissen Pauschalierung kann man sagen, ein derartiger negativer Unterton sei kennzeichnend für die neuere amerikanische Rezeption des Konzepts der Ambivalenz in den Sozialwissenschaften. Das zeigt u. a. die Generationen- und Altersforschung (hierzu Lüscher 2011).
- 11.
Eine weitere Form nennen sie „vacillation“, ohne dies allerdings näher zu umschreiben. Ich lasse sie hier ausser Acht, um die Verwirrung zu vermeiden, die sich durch meine Verwendung von „vaszillieren“ zur Kennzeichnung der Dynamik des Ambivalenten ergeben könnte.
- 12.
Siehe hierzu sowie zu weiteren verwandten Begriffen das Mini-Glossar in Lüscher und Fischer (2014, S. 94).
- 13.
Zu Zaudern siehe ausführlich und nahe zum Begriff der Ambivalenz die kulturwissenschaftliche Analyse des Germanisten Joseph Vogl (2007).
- 14.
Ich muss hier auf eine ausführliche identitätstheoretische Begründung verzichten. Doch es dürfte offensichtlich sein: Fragmente verweisen auf eine – zumindest vorgestellte – Einheit, die jedoch in steter, oft widersprüchlicher (eben vaszillierender) Bewegung und somit als stets vorläufig gedacht ist. Siehe hierzu für eine knappe Darstellung von Identitätskonzepten Hügli (2010), für eine subjekttheoretische Sicht Zima (2010) für eine Darstellung im Zusammenhang mit neuen Zugängen zum Thema des Führens z. B. Lippmann (2016).
- 15.
- 16.
Für eine Anwendung eines dem hier ähnlichen Modul im Feld der Familientherapie siehe die Fallvignette in Fischer und Lüscher (2014, S. 89–92.).
- 17.
Siehe die Verweise in Anm.16.
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Lüscher, K. (2018). Ambivalenzen des Organisierens und Führens – Vorschlag einer Heuristik. In: Geramanis, O., Hutmacher, S. (eds) Identität in der modernen Arbeitswelt . uniscope. Publikationen der SGO Stiftung. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18786-6_3
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