Zusammenfassung
Die Handlungsfähigkeit von Patienten mit bestimmten Erkrankungen ist von Medizintechnik abhängig, woraus sich ihre soziologische Relevanz ergibt. Medizintechnik muss anzueignen, anwendbar und funktionsfähig sein – nur so kann Handlungsfähigkeit gewährleistet werden. Brain-Computer Interfaces (BCI) und ähnliche neurotechnische Verfahren sollen bspw. die Wiederherstellung der Kommunikations- und Bewegungsfähigkeit verschiedener Patientengruppen sicherstellen. Derzeit werden solche Verfahren in Heilversuchen erprobt. In diesem Beitrag stelle ich, basierend auf teilnehmenden Beobachtungen verschiedener neurowissenschaftlicher Studien sowie Interviews mit Neurowissenschaftlern und Patienten, die Aneignungsprozesse der Steuerung von Hirnaktivität über das BCI vor. Anhand von empirischem Material wird verdeutlicht, wie Patienten Aneignungsprozesse der BCI-Nutzung beschreiben. Damit zusammenhängend ergibt sich die Frage, wie sich die Kommunikation im Labor gestaltet, wenn Neurowissenschaftler mit Nicht-Wissen über Abläufe, die – im wahrsten Sinne des Wortes – in den individuellen Köpfen der Patienten vorgehen, konfrontiert werden.
Die Ergebnisse dieses Beitrags beruhen auf meiner Dissertation, die 2016 unter dem Titel „Das techno-zerebrale Subjekt: Zur Symbiose von Mensch und Maschine in den Neurowissenschaften“ im transcript Verlag erschienen ist. Der vorliegende Aufsatz setzt einen erweiternden Fokus auf Forschungsergebnisse hinsichtlich der Aneignungsprozesse, die sich als Bedingung der Mensch-Maschine-Symbiose ergeben.
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Notes
- 1.
Es gibt je nach Einsatzbereich unterschiedliche BCI-Systeme, die in der Regel aus den Komponenten a) zentrale Recheneinheit, b) internes Interface und c) externes Interface bestehen (Birbaumer et al. 2010, S. 112, 116, Clausen 2009, S. 21). Derzeit gibt es allerdings keine verbindliche Definition der Begriffe „Brain Machine Interfaces“ bzw. „Brain Computer Interfaces“. Nach Craelius (2002) sind BMI für gelähmte Personen bestimmt, die von mechanischen Assistenzsystemen profitieren, wie z. B. Roboterarmen, die durch die Versuchssubjekte kontrolliert werden. BCI dagegen sind dafür konzipiert, die Kommunikation von gelähmten Patienten zu ermöglichen bzw. zu erweitern. So kann der Patient über einen Monitor einen Cursor bewegen, um sich auf diesem Weg der Außenwelt mitzuteilen. Im Rahmen dieser Arbeit verwende ich den Begriff BCI, wenn Hirnvorgänge und computertechnische Vorgänge im Fokus stehen. Den Begriff BMI hingegen verwende ich dann, wenn die Ansteuerung externer Geräte mittels BCI im Fokus steht. Zudem verwende ich den Begriff BCI/ BMI-System analog zu dem Begriff Mensch-Maschine-System, bei der die Arbeitsteilung zwischen Mensch/Gehirn und Maschine/Computer bei der Durchführung einer bestimmten Aufgabe im Vordergrund steht.
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Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, die zur vollständigen Lähmung führt.
- 3.
Das EEG (Elektroenzephalografie) ist eine Methode zur Messung elektrischer Hirnaktivität durch Aufzeichnung der Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche. Die grafische Darstellung dieser Schwankungen wird ebenfalls EEG genannt (Elektroenzephalogramm).
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Die Anonymisierung der befragten Akteure erfolgte durch Kürzel. In jedem Kürzel ist die Position enthalten, gefolgt von einer dreistelligen Zahl, gefolgt von der Profession (z. B. für einen Professor, der Arzt und zugleich auch Neurochirurg ist: Prof000-DrMed; für eine Wissenschaftliche Mitarbeiterin und zugleich Ärztin: WiMi000-DrMed, für einen ausgebildeten Bioinformatiker: WiMi000-BioIuT; für Wissenschaftliche Hilfskräfte: HiWi; für Physiotherapeuten: Physio; für Mitarbeiter aus der medizinischen Psychologie: MedPsy; für Philosophieprofessoren: GW). Die Anonymisierung der Patienten erfolgte nach einer beliebig gewählten Farbe, bspw. Schwarz049. Die digitalisierten Protokolle meiner Feldbeobachtungen während meiner Labor- und Krankenhausaufenthalte wurden mit einem internen Schlüsselungsverfahren kodiert. In dieser Fassung wird die Primärdokumentennummer, die im von mir benutzten ATLAS.ti-Programm ausgegeben wurde, als Zitationsangabe verwendet (z. B. P17: Abs. 032 ff.).
- 5.
Nach Rammert bestehen sozio-technische Konstellationen aus Interaktionen menschlicher Akteure, der Intra-Aktion technischer Objekte sowie der Interaktivität zwischen Menschen und technischen Objekten und demzufolge aus „körperlichen Routinen, sachlichen Designs und symbolischen Steuerungsdispositiven“ (Rammert 2007, S. 35).
- 6.
Von den Neurowissenschaftlern selbst als „das BCI können“ bezeichnet, hier verwende ich analog dazu „doing BCI“.
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Bio-technisch, da die Öffnung der gelähmten Hand durch die biomechanische Öffnung der Orthese erfolgt.
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- 9.
Neurowissenschaftler sprechen von Kontrolle der Hirnfrequenzen.
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Lindemann (2008) definiert in ihrer Analyse „Expressivität (…) als eine Eigenschaft lebendiger Dinge“ (ebd., S. 86) in Anlehnung an Plessner (1975). Im Zusammenhang von neuronaler Expressivität und (ex)zentrischer Positionalität schreibt sie Folgendes: „Wenn man nun die Differenz von zentrischer und exzentrischer Positionalität zugrunde legt, stellt sich die Frage, was dies für die neuronale Expressivität bedeutet. Exzentrische Positionalität besagt, dass ein organisches Selbst einen Abstand zu sich als Vollzug der Selbststeuerung hat. Dies schließt prinzipiell die Möglichkeit ein, die spontane Expressivität des Vollzugs der Selbststeuerung der zentrischen Positionalität aktiv zu gestalten. Wenn dies zutrifft, müsste auch spontane neuronale Expressivität steuerbar sein. Dann würde sich folgendes ergeben: Wenn neuronale Prozesse als Hinweis auf das Vorhandensein einer Selbststeuerung verstanden werden können, wären neuronale Prozesse auf der Ebene der zentrischen Positionalität durch den Organismus nicht steuerbar. Denn neuronale Prozesse wären selbst die expressive Realisierung der Steuerungsfunktion, in deren Vollzug der Organismus aufgeht. Der Organismus hat zum Vollzug der Selbststeuerung keine Distanz, die es ihm erlauben würde, sich zu ihr zu verhalten. Anders verhält es sich bei der exzentrischen Positionalität, hier wäre im Sinne Plessners davon auszugehen, dass der Organismus zum Vollzug der Selbststeuerung in Distanz ist und sich deshalb zu dieser verhalten kann“ (Lindemann 2008, S. 87).
- 11.
Ein Therapeutenverzeichnis findet sich bspw. auf http://www.eeginfo-neurofeedback.de (zugegriffen: 02. März 2017).
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Mir ist klar, dass mit manchen Gedanken auch Mimiken einhergehen, die sichtbar werden und die man dann deuten kann. Allerdings ist mit unsichtbar hier eher eine solche Imagination gemeint, die Hirnstrommuster produziert, die man über das EEG sieht, und die man nicht über einen Ausdruck/die Motorik des Körperlichen direkt erkennen kann.
- 13.
Im Gegensatz zur körperhaften Verhaltensaktivität („imaginierte“ Bewegungsaktivität, kann zu unbeabsichtigten Muskelbewegungen führen) stellt die körperhafte Bewegungsaktivität eine „beabsichtigte“ motorische Bewegung dar, wie sie im Alltag vorkommt (z. B. beim Greifen eines Bechers).
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Unter diskreten Vorstellungsleistungen (der Motorik) verstehe ich Vorstellungen, die losgelöst von der tatsächlichen Motorik sind. Gemeint ist also eine „intellektuelle“ und keine tatsächliche motorische Leistung (Merleau-Ponty 1974). Unter einer körperhaften Bewegungsvorstellung verstehe ich dabei jene Vorstellung, die die tatsächliche Bewegung aktiviert. Mir ist klar, dass wir täglich Millionen von Bewegungen eher unbewusst und routiniert ausführen. Hier geht es jedoch ausschließlich um Schlaganfallpatienten, die sich die Bewegungen bewusst vorstellen müssen, damit sie, falls sie über restliche motorische Funktionen verfügen, diese auch aktivieren können.
- 15.
Wie schwer das sein kann, können Sie selbst testen, indem Sie auf ihren Finger schauen und sich vorstellen, wie er sich z. B. nach oben und unten bewegt. Wenn Sie dies 45 min lange machen, dann können Sie möglicherweise verstehen, wie schwierig es ist, den Finger dabei still zu halten, sodass es keinerlei Muskelkontraktionen gibt.
- 16.
Mit bloßer Körpererfahrung meine ich diejenige, die nicht mithilfe der Biomechanik getätigt wird.
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In den von mir beobachteten Heilversuchen an Schlaganfallpatienten ist diese Phase augenscheinlich auf den Zeitraum der Versuche begrenzt. Bei einer dauerhaften Nutzung von Neurotechniken, z. B. bei der Nutzung neuronaler Implantate durch Parkinsonpatienten, müsste sich der Habitualisierungseffekt noch deutlicher zeigen. Wie genau, müsste jedoch überprüft werden.
Literatur
Birbaumer, Niels, Ander Ramos Murguialday, Anglea Straub, und Leonardo Cohen. 2010. „Gehirn-Computer-Schnittstellen bei Lähmungen.“ In Mensch und Maschine, hrsg. Karl-Heinz Pantke. Frankfurt/M.: Mabuse.
Clausen, Jens 2009. Ethische Aspekte konvergierender Technologien: das Beispiel Gehirn-Computer-Schnittstellen. Technikfolgenabschätzung: Theorie und Praxis 18 (2), 20–29.
Craelius, William 2002. The bionic man: restoring mobility. Science 295 (5557), 1018–1021.
Foerster, Heinz von, und Bernhard Pörksen. 2008. Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche für Skeptiker. 8. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verl.
Krohn, Wolfgang. 1989. Die Verschiedenheit der Technik und die Einheit der Techniksoziologie. In Technik als sozialer Prozeß, hrsg. Peter Weingart, 15–43. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Latour, Bruno. 2006. Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie. In ANThology, hrsg. Andréa Belliger and David J. Krieger, 483–528. Bielefeld: transcript Verlag.
Lindemann, Gesa. 2003. Beunruhigende Sicherheiten: Zur Genese des Hirntodkonzepts. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
Lindemann, Gesa. 2008. Neuronale Expressivität. Auf dem Weg zur neuen Natürlichkeit. In Expressivität und Stil, hrsg. Bruno Accarino und Matthias Schlossberger, 85–95. Berlin: Akademie Verlag.
Merleau-Ponty, Maurice. 1974. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter.
Plessner, Helmuth 1975. Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie. 3., unveränderte Aufl. Berlin: De Gruyter.
Rammert, Werner. 2007. Technik, Handeln und Sozialstruktur: Eine Einführung in die Soziologie der Technik. In Technik - Handeln - Wissen, Werner Rammert, 11–36. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden.
Stehr, Nico. 1994. Arbeit, Eigentum und Wissen: Zur Theorie von Wissensgesellschaften: Suhrkamp Verlag.
Şahinol, Melike. 2016. Das techno-zerebrale Subjekt: Zur Symbiose von Mensch und Maschine in den Neurowissenschaften. Bielefeld: transcript.
Weingart, Peter. 1989. Technik als sozialer Prozeß. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Şahinol, M. (2018). „Jetzt ändere Dein Gehirn in diese Richtung!“ - Aneignungsprozesse der Steuerung von Hirnaktivität über das Brain-Computer Interface. In: Lettkemann, E., Wilke, R., Knoblauch, H. (eds) Knowledge in Action. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18337-0_9
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