Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage, ob algorithmische Gouvernementalität als völlig neues Phänomen bewertet werden sollte und inwiefern historisch vergleichende Analysen dazu dienen können, gegenwärtige Ausprägungen dieser Gouvernementalität zu begreifen. Im Rahmen dieses Artikels werden aus einer historisch-soziologischen Perspektive beispielhaft vor allem die altbabylonische Nutzung von proto-algorithmischen Verfahren sowie die Nutzung der Buchführung im Zeitalter der europäischen Expansion betrachtet. Die in den Kultur- und Sozialwissenschaften häufig gestellte Diagnose, bei algorithmischen Kontrollprojekten handle es sich um völlig neuartige Phänomene, wird infrage gestellt. Demgegenüber wird die „Algorithmik“ als eine spezifische Rationalitätsform begriffen, die eine produktive Dialektik zwischen Stabilisierung und Destabilisierung komplexer werdender Gesellschaften entfaltet.
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Notes
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Tatsächlich wurde das Internet schon immer auch als Kontrollraum konzipiert. Ursprünglich wurde das Management des Vorläufers des Internet, ARPANET, vom US-Verteidigungsministerium übernommen. Erst seit den 1990er Jahren werden Namen und Adressen von Internetusern nicht mehr vom US-Verteidigungsministerium vergeben (siehe dazu: Ceruzzi 2008, S. 13 f.). Ohne die noch aus dieser Zeit stammende Kontrollinfrastruktur des Internet wäre die Kommerzialisierung ab den späten 1990er Jahren technisch nicht möglich gewesen (vgl. Ceruzzi 2008, S. 33).
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Siehe zu dieser Debatte etwa Miller und Slater (2001, S. 8 f.).
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Es handelt sich um einen Begriff, der in dieser oder ähnlicher Form momentan noch mehr oder weniger unterbestimmt in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu zirkulieren scheint (vgl. auch die Website zur Tagung „Governing Algorithms“: http://governingalgorithms.org).
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Eine Vorliebe, die wir mit den Babyloniern teilen. So ist das Internet auch ein Sammelsurium von Listen: Besten- und Schlechtestenlisten von Büchern, Filmen, Genres, Frisuren, Präferenz- und Lieblingslisten, Hasslisten, etc. Die Toplisten auf Onlineplattformen werden selbstverständlich algorithmisch ausgewertet und produziert. Überhaupt steht die Liste in einem engen Verhältnis zum Algorithmischen: Bevor man überhaupt eine Auswahl treffen kann, muss man die Liste der Dinge, aus denen man auswählen will, bereits konstruiert haben (vgl. Shackle 1983, S. 6). Die Liste eignet sich einerseits zur Komplexitätsreduktion, andererseits lässt sie immer auch auf einen Horizont jenseits des Verlistetens schließen (vgl. Belknap 2004, S. 28 f.). Sie ist daher ein prozessual angelegtes, zugleich aber auch ein finites Objekt: die Liste ist unersättlich (Eco 2011, S. 137), aber nicht aktual unendlich. Diese Eigenschaften kommen der algorithmischen Auswertung entgegen.
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Die Europäer haben Amerika in gewisser Weise zweimal verfehlt: Zuerst, indem sie seine außergewöhnliche Neuheit nicht erkannten; beginnend mit Columbus, einem Entdecker mit Scheuklappen, der noch am Ende seines Lebens glaubte, im fernen Osten gelandet zu sein (Israel 2012, S. 331) und der die Küste Südamerikas weniger entdeckte als vielmehr einfach dort vorfand, wo sie seinem geschlossenen Weltbild nach aus Symmetriegründen sein musste (Todorov 1985, S. 33). Dann ein weiteres Mal, indem sie Amerika mit seiner bereits bestehenden Wirklichkeit – mitsamt der indigenen Kulturen – negierten und das Land als leeren Raum imaginierten und virtualisierten.
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Diese Methoden führten zu einer Zeugenschaft und einer Kommunikation mit und über Zahlen. Es handelte sich um eine Kommunikationsform, die jenseits der bis dahin üblichen Vergesellschaftung unter Anwesenden stattfand, welche, wie Rudolf Schlögl (2008, S. 157 ff.) schreibt, bis zur frühen Neuzeit die vorherrschende Kommunikationsform war. Den Bruch mit dieser Vergesellschaftungsform sieht Schlögl vor allem mit der Einführung des Buchdrucks eingeleitet (siehe dazu auch Luhmann 1993b, S. 247). Dem Buchdruck würde ich noch die zahlenbasierte und algorithmisch prozessierte Kommunikation hinzufügen. Wie Schlögl hervorhebt, bedurfte die anwesenheitsbasierte Gesellschaft der Ritualisierungen und Konventionalisierungen. Huizinga hat das wunderbar in seinem Buch über das Spätmittelalter dargelegt: Das Leben des Spätmittelalters war von Zeremonien und Formgebung, von bunten Kontrasten bestimmt: „Der Verliebte trug das Zeichen seiner Dame, der Genosse das Abzeichen seiner Bruderschaft, die Partei die Farben und Wappen ihres Herrn“ (Huizinga 1969, S. 2). Die algorithmischen Methoden stellen in gewisser Weise auch funktionale Äquivalente zu der anwesenheitsbasierten Notwendigkeit von Ritualisierungen und Konventionalisierungen dar. Mit diesen neuen Methoden wächst natürlich auch die Distanz zu den alten Sozialunterscheidungen (Luhmann 1998, S. 1020).
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Eine Frage, die auch immer wieder die Diskussionen auf der Tagung Staat, Internet und Digitale Gouvernementalität heimsuchte.
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Immer sind solche Stabilisierungen natürlich auch mit dem Risiko behaftet, dass gerade ihre Beständigkeit zu einem radikalen Vergessen führt: „Alles Beständige büßt seine Eindruckskraft ein. […] Ein lästiges dauerndes Geräusch hören wir nach einigen Stunden nicht mehr. Bilder, die wir an die Wand hängen, werden binnen wenigen Tagen von der Wand aufgesogen; es kommt äußerst selten vor, daß man sich vor sie hinstellt und sie betrachtet“ (Musil 1962, S. 61).
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Ein zu wenig stark ausgeprägtes Zerfallspotenzial oder Dekompositionsvermögen führt zur Unfähigkeit, sich an verändernde Umweltbedingungen anzupassen. Daher auch die Notwendigkeit von sinnauflösenden Temporalisierungen in modernen sozialen Systemen (Vgl. dazu: Luhmann 1991, S. 78.).
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Lehner, N. (2018). Etappen algorithmischer Gouvernementalität: Zur rechnerischen Einhegung sozialer Flüchtigkeit. In: Buhr, L., Hammer, S., Schölzel, H. (eds) Staat, Internet und digitale Gouvernementalität. Staat – Souveränität – Nation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18271-7_2
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