Zusammenfassung
Ausgehend von zentralen Diskursen über die Reform der Psychiatrie in Ostdeutschland nach 1989 – zum einen die Enthospitalisierung von chronisch psychisch Kranken und Behinderten und zum anderen die Aufarbeitung der Rolle der Staatssicherheit bei der Einweisung von Patient(inn)en – geht der Artikel der Frage nach, wie das (ehemalige) Klinikpersonal vor dem Hintergrund der Reformen und öffentlich geäußerter Kritik die Psychiatrie in der DDR rückblickend erzählt und ihren institutionellen Wandel nach 1989 bewertet.
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Notes
- 1.
Eine Kritik am Siegerjustizdiskurs formulieren zum Beispiel Müller und Hartmann (2009), indem sie konstatieren, dass die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur gescheitert und der friedlichen Revolution eine „stille Restauration“ alter DDR-Eliten gefolgt sei.
- 2.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die 1993 gesendete Fernsehreportage Die Hölle von Ueckermünde von Ernst Klee. Sie zeigte drastische Bilder von einer Station mit geistig Behinderten in der psychiatrischen Klinik in Ueckermünde.
- 3.
Zum Zusammenhang zwischen Klassifizierung und der Hervorbringung von Krankheitssubjekten siehe Hacking (2007).
- 4.
Hier ist zum Beispiel die sogenannte „Eingliederungshilfe für behinderte Menschen“ im Sozialgesetzbuch (§ 53 SGB XII) zu nennen.
- 5.
Zur Rolle von Gemeinden bei der Kontrolle und Regierung von Abweichungen siehe Rose (2000).
- 6.
Vgl. dazu die Strukturen, die Niklas Rose (1998, S. 490) dem sogenannten „medium risk“ Bereich zuordnet: „public psychiatric wards, social workers, quasi public provision from ‚voluntary agencies‘ etc.“.
- 7.
Vgl. hierzu die Webseite des Ärzteblatts: http://data.aerzteblatt.org/pdf/106/39/a1882.pdf, S. A1885 (letzter Zugriff: 20.06.2016).
- 8.
Vgl. dazu auch die Ergebnisse in Süß (1998).
- 9.
Siehe Sozialpsychiatrische Informationen, Jahrgang 28, Heft 4, 1998.
- 10.
Beispielhaft aufgeführt seien die Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (1995) sowie auch Schröter (1990) und aus Länderperspektive der Abschlussbericht der Kommission zur Untersuchung von Missbrauch der Psychiatrie im Sächsischen Gebiet der ehemaligen DDR des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales, Gesundheit und Familie (1996).
- 11.
Verwiesen wird dabei vor allem auf das System der Polikliniken und die Arbeitstherapie.
- 12.
Vgl. den Dokumentarfilm Die Hölle von Ueckermünde. Psychiatrie in der DDR.
- 13.
Vgl. dazu Pohl (1995, S. 5):
Die Psychiatrie insgesamt war auch in der DDR ein Stiefkind. Sie wurde – gerade in der materiellen Ausstattung der Kliniken – als fünftes Rad am Wagen behandelt. Hinzu kam ihre Relevanz zu gesellschaftspolitischen Themen durch die grundsätzliche Affinität zu Werten und Wertstrukturen einer Gesellschaft mit der politischen Definition von ‚normal‘ und ‚verrückt‘. Noch in den 80er Jahren wurden psychiatrische Krankheiten in Nicht-Fachkreisen als Überbleibsel des Kapitalismus gehandhabt, ebenso wie Alkoholismus und Sucht, welche über Jahrzehnte ganz verleugnet wurden.
- 14.
Die Autorinnen nehmen Bezug auf eine Publikation von Linde (1993).
- 15.
Hiller untersucht die Routinen und Einstellungen von ostdeutschen Verwaltungsmitarbeiter(inn)n und unterscheidet dabei im Hinblick auf die Übernahme von bundesdeutschen Regelsystemen zwischen „affirmativen“ und „distanzierenden“ Verwaltungsstilen.
- 16.
Zur Funktion von „Geständnispraktiken“ (Foucault ) nach 1989 siehe Lee (2000).
- 17.
Hier sind in erster Linie die nach der Wiedervereinigung für den öffentlichen Dienst eingesetzten Personalkommissionen zu nennen, welchen die Überprüfung des Personals im Hinblick auf fachliche Qualifikation sowie persönliche Eignung oblag. Letztere wurde vor allem danach entschieden, ob der/die Betreffende Kontakte mit der Staatssicherheit hatte. Im Bereich der psychiatrischen Kliniken wurden alle leitenden Ärzte dieser Prüfung unterzogen und ein Großteil der Chefärzte entlassen. Einige Psychiater(innen) umgingen die Überprüfungen, indem sie im Vorfeld die Kliniken verließen und eine niedergelassene Praxis eröffneten.
- 18.
Gesellschaftliche Kontinuitätsbrüche wirken als starke Generatoren von biografischen Erzählungen und Deutungsmustern , da als selbstverständlich Erlebtes plötzlich fragwürdig wird. Der Bedarf an neuen Sinnkonstruktionen und der Wunsch nach Herstellung von Anschlussfähigkeit sind dementsprechend groß. Siehe dazu Wohlrab-Sahr et al. (2009).
- 19.
Es handelt sich um das Forschungsprojekt „The socialist past today. The German Democratic Republic in private, public and institutional discourses“, das 2007 und 2008 an der Universität Newcastle upon Tyne (GB) durchgeführt wurde. Das Projekt beforschte anhand von teilnehmender Beobachtung unter anderem den Umgang mit der DDR-Vergangenheit innerhalb zweier Institutionen in einer ostdeutschen Stadt, die zum Thema DDR-Vergangenheit publizieren und öffentliche Veranstaltungen organisieren.
- 20.
Die Forumsdebatte wurde durch die Autorin initiiert, organisiert und dokumentiert (vgl. das zweite Heft der Zeitschrift Soziale Psychiatrie aus dem Jahr 2009, S. 28–29).
- 21.
Appiah beschreibt den Kampf um Anerkennung anhand von diskriminierten Gruppen, die für ihre Rechte eintreten.
- 22.
Die Autoren verweisen auf den „Hysteresis-Effekt“, einen von Pierre Bourdieu eingeführten Begriff zur Beschreibung der Trägheit von habituellen Dispositionen.
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Franke, K. (2017). Die DDR-Psychiatrie und deren Transformation nach 1989 im Gedächtnis ihrer Akteure. In: Haag, H., Heß, P., Leonhard, N. (eds) Volkseigenes Erinnern. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17548-1_6
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