Zusammenfassung
„Soziologie ist ein Kampfsport“ – so charakterisiert Pierre Bourdieu in einem Interview die Rolle seiner wissenschaftlichen Disziplin und reflektiert zugleich sein Selbstverständnis als Wissenschaftler (Carles 2008). In der gleichnamigen Filmdokumentation über den Soziologen wird Bourdieu als unermüdlicher Intellektueller gezeichnet, der in die Banlieues fährt und auf Demonstrationen zu sehen ist – ein öffentlich sichtbarer und engagierter Gesellschaftskritiker, der zwar immer Intellektueller geblieben ist, der aber als Soziologe realpolitisch in die Welt eingreift und an ihrer Veränderung mitwirkt. Er ermutigt Menschen, keine Scheu vor dem soziologischen Verstehen der Welt zu haben, die systematisch so eingerichtet ist, dass sie Inklusion und Exklusion, Wohlstand und Armut, Anerkennungen und Missachtungen produziert. An einer Stelle des Films verteidigt sich Bourdieu vor einem aufgebrachten Publikum in einem Pariser Banlieue und erklärt, dass sein Besuch den Zweck haben soll, ihnen die soziologischen „Waffen der Wissenschaft“ (Bourdieu 2004, S. 17) an die Hand zu geben, um ihre Wut und Enttäuschung zielgerichteter zu politisieren. Indem Bourdieus Soziologie praxistheoretisch darüber aufklärt, wie Herrschaft und Ungleichheit zustande kommen, wird für ihn Kritik an bestehenden Machtverhältnissen zu einer Frage gesellschaftlicher Praxis. Sie stellt nicht nur einen sozialwissenschaftlichen Theoriebeitrag dar, sondern ist zugleich ein theoretisches Instrumentarium, mit dem auch eine „kollektive Selbstanalyse“ für WissenschaftlerInnen möglich wird, „von der schließlich ein gemeinsames Handeln seinen Ausgang nehmen kann“ (Bourdieu 1998, S. 15 f.). Damit ist die Forderung nach der realpolitischen Intervention der Intellektuellen in umkämpfte gesellschaftliche Felder bei Bourdieu schon vorweggenommen.
Der Beitrag basiert auf detaillierteren Ausführungen in Lenger/Rhein (2018).
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Rhein, P., Lenger, A., Gengnagel, V. (2023). Pierre Bourdieu als öffentlicher Intellektueller. In: Selke, S., Neun, O., Jende, R., Lessenich, S., Bude, H. (eds) Handbuch Öffentliche Soziologie. Öffentliche Wissenschaft und gesellschaftlicher Wandel. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16995-4_14
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