Zusammenfassung
Die Verfassung der Türkei von 1982, die nach einem Coup d’Etat unter besonderen Umständen verabschiedet wurde, stand in ihrer ersten Fassung ganz unter dem Zeichen der Staatssicherheit und den entsprechenden Maßnahmen im Rahmen des Ausnahmezustandes. Die Rahmenbedingungen für das Ausrufen und die Ausführung des Ausnahmezustandes sind in Art. 119–122 TV festgelegt, die in den 1990er Jahren den rechtlichen Rahmen des Ausnahmezustandes im Südosten des Landes bildete. Das Verfassungsgericht griff diesem Zustand im Wege des „judicial activism“ ein und zwang die von der Exekutive ergriffenen Maßnahmen, die gemäß Art. 148 TV verfassungsgerichtlicher Kontrolle entzogen sind, in die Grenzen des Rechtsstaates. Der Beitrag befasst sich theoretisch wie normativ mit den politischen Voraussetzungen und Zielsetzungen des Ausnahmezustandes in der Türkei und konkret mit dem seit Oktober 2014 im Südosten der Türkei herrschenden rechtsfreien Raum, der von der bisherigen Rechtspraxis deutlich abweicht.
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Notes
- 1.
Soweit nicht anders vermerkt, wird die Übersetzung der Türkischen Verfassung von Christian Rumpf übernommen. Siehe http://www.tuerkei-recht.de/downloads/verfassung.pdf (Stand: 01.01.2012).
- 2.
Z. B. Art. 15 und 125 TV.
- 3.
Resmi Gazete (mükerrer) vom 12.09.1980, Nr. 17103.
- 4.
E. (Aktenzeichen) 1990/25, K. (Entscheidungszeichen) 1991/1 vom 10.01.1991; E. 1991/6, K. 1991/20 vom 03.07.1991 (beide in Band 27/1, jeweils S. 65–129 und S. 375–421); E. 1992/30, K. 1992/36 vom 26.05.1992 (Band 29/1, S. 155–160); E. 2003/28, K. 2003/42 vom 22.05.2003 (Band 40/1, S. 92–103).
Zu diesen vier Entscheidungen über die rechtlichen Grundsätze von Ausnahmerechtsverordnungen (OHAL KHK) könnten weitere drei Entscheidungen des Verfassungsgerichts gezählt werden, die Gesetze betrafen, deren Verfassungswidrigkeit durch die konkrete Normenkontrollklage in Bezug auf die Ausweitung des Ausnahmezustandes auf ordentliche Gesetze behauptet wurde. Vgl. E. 1985/5, K. 1985/23 vom 10.12.1985 (Band 21, S. 252–262); E. 1996/68, K. 1999/1 vom 06.01.1999 (Band 37/1, S. 180–255) (Wobei erwähnt werden muss, dass diese Entscheidung, die das Gesetz teilweise für verfassungswidrig erklärte, erst zwei Jahre nach der Entscheidungsfindung im Gesetzblatt veröffentlicht und somit rechtskräftig geworden ist); E. 2000/82, K. 2002/193 vom 26.11.2002 (Band 39/1, S. 249–254).
An der Entscheidung vom 06.01.1999 (E. 1996/68, K. 1999/1) ist besonders bemerkenswert, dass die Antragsteller (115 Abgeordnete der Oppositionsparteien) die Änderungen in mehreren Gesetzen (unter anderem Regierungsbezirksgesetz, Terrorismusbekämpfungsgesetz, Schusswaffengesetz, Personalanmeldegesetz) unter dem Gesichtspunkt der „Normalisierung und Ausweitung des Ausnahmezustandes durch ordentliche Gesetze“ beanstandeten, wobei das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung auf die Prinzipien des Ausnahmezustandes gar nicht einging und seine Entscheidung streng schematisch aufbaute. Die lange Entscheidungs- und Veröffentlichungsphase dieses Urteils (der Antrag wurde am 01.11.1996 gestellt; das Verfassungsgericht entschied über den Antrag am 06.01.1999. Das rechtskräftige Urteil wurde jedoch erst am 19.01.2001 im Gesetzblatt veröffentlicht) könnte als ‚Staatsräson‘ à la Verfassungsgericht gedeutet werden.
- 5.
Die Türkei kündigte zwischen 1990 und 1993 die Derogation mancher Grundrechte und -freiheiten auf der Grundlage von Art. 15 EMRK an. Siehe ECHR Factsheet. December 2015. Derogation in time of emergency.
- 6.
E. 1990/25, K. 1991/1, S. 92–93; E. 1991/6, K. 1991/20, S. 390.
- 7.
Ibid, S. 98; E. 1991/6, K. 1991/20, S. 398.
- 8.
Ibid, S. 101–105; 1991/6, K. 1991/20, S. 399, 402.
- 9.
Ibid, S. 100.
- 10.
So die Bezeichnung von Ferejohn und Pasquino (Ferejohn und Pasquino 2004, S. 212, 217).
- 11.
E. 1992/30, K. 1992/36, S. 158. In dem konkreten Fall ging es um eine Regelung der Ausnahmerechtsverordnung Nr. 430 § 3/a, in der der Gouverneur der Ausnahmezustandsbezirke ermächtigt wurde, Angehörige des öffentlichen Dienstes, deren Beschäftigung für die Sicherheit und die öffentliche Ordnung als gefährlich erachtet wurde, vorübergehend oder dauerhaft einer anderen Arbeitsstelle zuzuweisen (E. 1992/30, K. 1992/36).
Das Verfassungsgericht interpretierte das Wort „dauerhaft“ implizit maximal für die Dauer des Ausnahmezustandes.
- 12.
E. 1990/25, K. 1991/1, S. 100.
- 13.
Im konkreten Fall ging es um § 7 der Rechtsverordnung Nr. 285 (geändert durch die RV Nr. 425), der den Rechtsweg gegen jegliche Verwaltungsakte des Gouverneurs der Ausnahmezustandsbezirke ausschloss. E. 2003/28, K. 2003/42, S. 98–100.
Noch in seiner Entscheidung E. 1990/25 hatte das Gericht bezüglich dieser Regelung entschieden, dass diese Maßnahme tatsächlich den Ausnahmezustand betrifft und daher gemäß Art. 148 Abs. 1 TV außerhalb der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts liege. Vgl. jedoch das Sondervotum von Richter Şahin, dessen abweichender Meinung im Jahr 2003 gefolgt wurde.
- 14.
- 15.
Vgl. Bülent Tanör und Necmi Yüzbaşıoğlu 2016. Anayasasına Göre Türk Anayasa Hukuku, S. 430–431.
- 16.
Siehe für die Gesetzesvorlagen den Bericht der Kommission des Inneren (İçişleri Komisyonu Raporu) vom 26.03.1998, Esas No: 1/605, Karar No: 14.
- 17.
Gesetz Nr. 4778 vom 11.01.2003 sowie Nr. 5090 vom 17.02.2004.
- 18.
Die Rechtsverordnungen Nr. 413 und 421 wurden durch die Nr. 424 aufgehoben. Die Rechtsverordnung Nr. 424 wurde durch die Nr. 430 aufgehoben. Zur Kritik dieser Praxis und deren rechtlich-politische Folgen siehe die Antragsschrift von E. 1991/6, K. 1991/20 vom 03.07.1991.
- 19.
Vgl. für die Rechtsverordnung Nr. 424: E. 1990/25, S. 103. In seinem Sondervotum wies Richter Yekta Güngör Özden nachdrücklich auf diesen Missstand hin.
- 20.
Von den 20 Rechtsverordnungen zwischen August 1984 und Juni 1993 wurden lediglich vier von der Nationalversammlung auf die Tagesordnung gesetzt und als Gesetze normiert.
- 21.
Dieser Begriff wird auch in dem Regierungsbezirksgesetz angewandt (§ 11).
- 22.
Auch die Venedig-Kommission, als ein politisch beratendes Organ des Europarates, kommt zu der Schlussfolgerung, dass das als Rechtsgrundlage angegebene Gesetz aufgrund von Gründen der Rechtssicherheit nicht akzeptiert werden könne (Venice Commission 2016, S. 17 ff.). Die ungewöhnliche, sprachliche Schärfe sowie die Schlussfolgerungen des Berichts können als Indiz für den Ernst der Lage gedeutet werden.
- 23.
Tageszeitung Cumhuriyet vom 12.02.2016.
- 24.
Stand: Februar 2016.
- 25.
Bericht von Human Rights Watch vom 11.07.2016 „Turkey: State Blocks Probes of Southeast Killings. Allow UN to Investigate Cizre Abuses; Repeal New Law to Block Prosecutions“ (https://www.hrw.org/news/2016/07/11/turkey-state-blocks-probes-southeast-killings) (12.07.2016).
- 26.
Für den Umfang der Verfassungsbeschwerde und die Regelung der einstweiligen Anordnung im türkischen Recht (siehe Göztepe 2015, S. 497 ff.).
- 27.
Bis zum 09.07.2016 sind beim Verfassungsgericht insgesamt 15 Anträge zur einstweiligen Anordnung in dieser Sache eingegangen.
- 28.
Az. 2015/15266 (Mehmet Girasun und Ömer Elçi) vom 11.09.2015. Einer der Rechtsanwälte der Antragsteller, Tahir Elçi, wurde am 28.11.2015 in Sur/Diyarbakır während einer Presseerklärung selbst Opfer eines bewaffneten Attentates und verstarb noch am Tatort.
- 29.
E. 2000/82, K. 2002/193 vom 26.11.2002.
- 30.
Az. 2015/15266, par. 14.
- 31.
Az. 2015/15266, par. 15.
- 32.
Presseerklärung des EGMR: „Curfew measures in south-eastern Turkey: Court decides to give priority treatment to a number of complaints“ vom 05.02.2016.
- 33.
Vgl. die Verfassungsbeschwerden Nr. 2016–1652; 2016–1905; 2016–2602; 2016–3349; 2016–3350; 2016–3745; 2016–3646.
- 34.
Entscheidung des Ministerrates vom 21.03.2016, Nr. 2016/8659 (RG: 25.03.2016).
- 35.
Siehe die Entscheidungen des Ministerrates Nr. 2015/8322, 2016/8432, 2016/8767, 2016/8825, 2016/8975.
- 36.
Gesetzblatt vom 14.07.2016 (Nr. 29770).
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Göztepe, E. (2017). Ein Paradigmenwechsel für den Sicherheitsstaat. In: Lemke, M. (eds) Ausnahmezustand. Staat – Souveränität – Nation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16588-8_8
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