Zusammenfassung
Die erneute Auseinandersetzung um die Leitwissenschaft hat die Philosophie zu Beginn des Jahrhunderts verloren, sie kann und will kein geschlossenes Dach mehr anbieten. Die Naturwissenschaften haben ihr den Rang abgelaufen, und selbst die Geisteswissenschaften differenzieren sich zunehmend in Einzeldisziplinen aus, die keine Philosophie mehr zusammen halten kann. Sogar der Materialismus verliert als letzte philosophische Großtheorie, die noch einmal das Ganze beschreiben will, an Nachweiskraft und Bedeutung. Mathematiker sowie Logiker drängen in das philosophische Feld und beabsichtigen, die an Wahrheit orientierte Sprache von metaphysischen Voraussetzungen zu reinigen. Als analytische Philosophie bearbeitet sie anschließend philosophische Fragen mit der rationalen Schärfung von Begriffen, die zu größerer Klarheit führen sollen. Aber auch dieser Optimismus hat seine Grenzen, wer Sprache wirklich verstehen will, muss sie in ihrer praktischen Verwendung untersuchen, statt auf bereinigte wahrheitsfähige Idealsprachen zu setzen. Die analytische Philosophie wird deshalb zunehmend sprachpragmatisch und untersucht, was alltäglich beim Sprechen passiert, und was das für philosophische Begriffe bedeutet. Ein philosophisches Gegenmodell bilden demgegenüber kulturtheoretisch orientierte Entwürfe, die naturwissenschaftliche Exaktheit in allen Lebens- und Wissensbereichen nicht als Fortschritt, sondern als Ausdruck einer blinden Eindimensionalität begreifen. Der Existenzialismus, die Kritische Theorie und der Poststrukturalismus sind wissensskeptisch und stellen das ausschließlich an Naturwissenschaften orientierte Wissensmodell als geschichtlich bedingten Weg einer zunehmenden Rationalisierung dar, der alles Andere aufsaugt. In der Moderne können sie lediglich den Ausdruck einer technologiefixierten Zerstörungsgeschichte am Werk sehen. Die Erfahrungen aus den beiden Welt kriegen haben dabei ihre Spuren hinterlassen. Was die gesamte Philosophie im 20. Jh. theoretisch verbindet, ist eine konzeptionelle Orientierung an der Intersubjektivität. Nicht mehr der Einzelne steht isoliert im Zentrum der Untersuchung, sondern intersubjektive Prozesse wie lebensweltliche Bezüge, Rechtfertigungen, Verständigungen, Zustimmungsfähigkeit und Anerkennung. Das macht auch die analytische Sprachphilosophie mit, denn Sprechen setzt unter der pragmatischen Perspektive immer Adressaten als ein Gegenüber und nicht nur Sprache als ein Symbolsystem voraus. Philosophie hat damit den theoretischen Solipsismus isolierter Individuen, wie ihn die Neuzeit mit Descartes und seiner Subjekt-Objektspaltung geprägt hat, als nicht tragfähig hinter sich gelassen. Es geht zunehmend um das menschliche Eingebundensein in die Welt, die Sprachverankerung im weitesten Sinn und das auf Zwischenmenschlichkeit angelegte Verhalten, das den Anderen, ob bewusst oder unbewusst, immer einbeziehen muss. Naturwissenschaften setzen Philosophie und ihre Themen zwar unter Druck, können ihrerseits aber trotz neurowissenschaftlicher Fortschritte komplexe Phänomene wie Bewusstsein, Erfahrung oder auch nur die konkrete Erlebnisqualität einer Wahrnehmung in ihren Modellen nicht plausibel fassen oder auflösen. In der Beschäftigung mit geistigen Fähigkeiten findet die Philosophie deshalb zum Ende des Jahrhunderts zu Themen zurück, die sprachanalytisches Denken und Naturwissenschaften gleichermaßen hinter sich lassen wollten. Die philosophische Brücke ins 21. Jh. hinein bilden schließlich Fragen zum Selbstbewusstsein, zum freien Willen und zur Begründung von moralischen Normen. Es geht wieder mehr um unsere besonderen Fähigkeiten und um Werte wie Gerechtigkeit, Toleranz und Menschenwürde. Die Globalisierung und aktuelle Krisen sorgen schließlich für eine Rückkehr der politischen Philosophie und philosophischen Ethik.
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Reisch, H. (2018). Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert: Intersubjektivität als Maßstab. In: Kleine Geschichte der Philosophie. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16237-5_6
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