Zusammenfassung
Das internationale System ist durch informelle Hierarchien geprägt, die die Handlungsmöglichkeiten aller Akteure prägt. Während aber die Mächtigen auf die Spielregeln der Hierarchien Einfluss ausüben können, müssen die Machtlosen die Regeln so akzeptieren, wie sie sind. Das heißt aber nicht, dass sie ihnen klaglos Folge leisten. Auch die Machtlosen haben Spielräume, die sie ebenso zu nutzen wissen wie mächtigere Akteure. Dieser Beitrag entwickelt eine Heuristik für das Verhalten von Akteuren im Kontext persistenter und komplexer Hierarchien im internationalen System. Im besonderen Fokus steht dabei der Aspekt der Agency, also die Fähigkeit, in (politischen) Prozessen autonom und zielgerichtet zu handeln, sowie die Frage, wie schwache Akteure Agency entwickeln und verwenden (können). Das zentrale Argument des Artikels lautet, dass die hierarchische Strukturierung des internationalen Systems die Annahme einer gegenseitigen Konstitution von Agent und Struktur dahin gehend einschränkt, dass dies nur auf die mächtigsten Akteure in vollem Ausmaß zutrifft. Demgegenüber hat der Großteil der Akteure im internationalen System allenfalls einen marginalen Einfluss auf die Strukturen, die ihre Agency bedingen.
Ich bedanke mich bei Caroline Kärger und Janet Kursawe für die Diskussionen, die zu diesem Aufsatz geführt haben, und bei Virginia Sroka und Christian Tischmeyer für ihre Unterstützung bei der Arbeit an diesem Papier. Eine frühere Version wurde beim Workshop „Herrschaft in den internationalen Beziehungen“, Universität Frankfurt/Main, 28.–30. November 2013 vorgestellt. Ich danke Nicole Deitelhoff, Christopher Daase und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops für die hilfreichen Kommentare.
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Ich spreche in vielen Beispielen von Staaten als Akteure. Allerdings möchte ich klarstellen, dass ich andere kollektive und korporative Akteure, z. B. Nichtregierungsorganisationen, transnationale Konzerne, Netzwerke, Bewegungen u. ä., ebenfalls als Akteure im internationalen System verstehe und davon ausgehe, dass meine Argumentation für diese ebenso zutrifft.
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Ich danke Volker Böge für diesen Hinweis.
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Für eine genauere Diskussion der folgenden Punkte vgl. Lambach 2008, S. 18–42.
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Manche Individuen, die formell keine Organisation repräsentieren, wie Kofi Annan oder Bono können aber auch dazu gezählt werden.
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Es hat bereits einige Versuche gegeben, Agency/Struktur auch für die Internationalen Beziehungen fruchtbar zu machen (vgl. Wendt 1987; Wight 2006 u. v. m.). Unweigerlich wurde das Thema zum Mittelpunkt von Auseinandersetzungen darüber, ob Agency oder Struktur das ontologische Primat haben sollten, zumal bestehende IB-Theorien bereits theoretische Annahmen darüber enthielten. Beispielsweise gingen strukturalistische Theorien wie der Neorealismus oder die Weltsystemtheorie davon aus, dass Akteure ungleich seien und dass dies auch Auswirkungen auf deren Agency hat, und privilegierten dabei die Struktur als logischen Ausgangspunkt aller politischen Prozesse. Bieler und Morton (2001) bieten einen Überblick über die weiteren Debatten, die jedoch zu keiner Überwindung der Dualität führten, weshalb sie das Problem als „Gordischen Knoten“ bezeichnen. Zwar heben sie die Möglichkeiten hervor, die sich durch eine neo-gramscianische Hegemonietheorie eröffnen würden, eine explizite Auseinandersetzung mit einer uneinheitlichen Ko-Konstitution von Agency und Struktur bleibt aber aus. Joseph weist darauf hin, dass sich Hegemonieansätze zu stark auf Praxisfragen wie Projekte und Allianzen beschränken, und fügt hinzu: „Hegemony is also necessarily related to the reproduction of social structures. […] We can say that hegemony therefore has both agential and structural aspects. It is agential in terms of the relations between groups as expressed in the conscious projects and activities of social agents; it is structural in the sense of relating to the issue of the reproduction, conservation or transformation of social conditions“ (Joseph 2008, S. 120).
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Die Betonung von stabilen Hierarchien als Strukturmerkmal der internationalen Beziehungen könnte als Anklang an Dependenz- oder Weltsystemtheorien verstanden werden (vgl. exemplarisch Senghaas 1974; Wallerstein 2004). Von diesen unterscheidet sich mein Ansatz jedoch dahin gehend, dass ich nicht davon ausgehe, dass Zentrum, Peripherie und Semi-Peripherie historisch stabile Blöcke sind; gerade innerhalb der „Peripherie“ hat es enorme Ausdifferenzierungsprozesse gegeben. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist die systemische Argumentation dieser Theorien (Wendt 1987), der ich eine stärkere Akteursbezogenheit entgegensetze.
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Der Begriff der Spielregel wird von Wendt übernommen, der sie als Produkt von Strukturen beschreibt: „Social structures, then, constitute the conditions of existence of states and state action; indeed, without social structuring principles one could not talk meaningfully about the fundamental building blocks of international relations: ‚states,‘ ‚state powers,‘ ‚foreign policy,‘ and so forth. Put in another way, international and domestic structures generate the ‚rules of the game‘ (broadly defined to include state agents themselves) within which states interact“ (Wendt 1987, S. 360). „Spielregel“ bietet sich als Konzept deshalb an, weil sie sowohl die Konstitution der Akteure als auch deren Interaktionen umfasst. Der Begriff der „Norm“ enthält zwar auch diese Vielseitigkeit (durch die Unterscheidung konstitutiver und regulativer Normen), beschreibt aber nur einen Teil der Gesamtheit an Spielregeln, indem er z. B. Normen von Institutionen differenziert und Normen damit relativ spezifische Wirkmechanismen zuschreibt.
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Lambach, D. (2017). Herrschaft und Agency in der internationalen Hierarchie. In: Daase, C., Deitelhoff, N., Kamis, B., Pfister, J., Wallmeier, P. (eds) Herrschaft in den Internationalen Beziehungen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16096-8_2
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