Zusammenfassung
Nachzeichnend überarbeitete Momentaufnahmen kommen heute in soziologischen Publikationen, die auf Forschungsergebnissen der Analyse von Video- und Filmdaten beruhen, in zunehmender Zahl zur Anwendung. Eine umfangreiche methodologische Reflektion dieser Praxis ist umso relevanter, da den LeserInnen solcher Publikationen die vorangegangen und anschließenden Momente des Ablaufs der betreffenden Videosequenz als Verstehenshilfen i.d.R. fehlen. Der vorliegende Beitrag versteht sich als ein erster Schritt in Richtung einer solchen Reflektion der Praxis nachzeichnender Überarbeitung und der Herstellung von Interpretations-Bildern. Dabei wird vor allem auf den repräsentativen sowie den analytischen Mehrwert dieser Praxis rekurriert. Mit dem Begriff des „präsentationalen Wissens“ (Wilke et al. 2017) wird darüber hinaus auf die wachsende Bedeutung von Visualisierungen für die Publikation von Forschungsergebnissen in der visuellen Soziologie hingewiesen. Ziel des Beitrags ist es, die nachzeichnende Überarbeitung als ein methodisches Teilverfahren der qualitativen Videoanalyse wie z. B. der Videographie (Tuma et al. 2013) näher zu bestimmen und zu einer methodologischen Reflektion dieser Praxis, sowohl im Forschungs- als auch im Publikationsprozess, anzuregen.
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Notes
- 1.
Die Soziologie knüpft damit an die – von William Mitchell (1992) und Gottfried Boehm (1994) für Kultur- bzw. Geisteswissenschaften ausgerufenen – Paradigmenwechsel „visual‟ (Mitchell) bzw. „pictorial turn‟ (Boehm) an, die sich wiederum an die sog. „linguistische Wende‟ durch Richard Rorty (1967) anlehnen.
- 2.
Die Rede ist hier von Entwicklungen innerhalb der Methoden und Theorien sog. interpretativer bzw. verstehender Soziologie (vgl. Kap. 2 in diesem Beitrag). Etwas anders verhält es sich z. B. mit der sog. quantitativen Sozialforschung, die, nach naturwissenschaftlichem Vorbild, auf statistischen Erhebungen basiert und die daher, in völlig anderem Kontext, schon jeher eine große Zahl Visualisierungen, in Form statistischer Repräsentationen nämlich, produziert.
- 3.
Strukturfunktionalismus und verstehende Soziologie können als prototypisch für den Antagonismus zwischen dem interpretativen und dem normativen Paradigma in der Soziologie betrachtet werden. Während der normative Ansatz, verkürzt gesagt, davon ausgeht, dass das Handeln der Individuen mittels Wertebindung und Integration in ein gemeinsames Kultursystem vorhersehbar auf normativen „Schienen‟ verläuft (Akteure als „cultural dopes‟, „judgemental dopes‟; vgl. Garfinkel 1967), betrachten VertreterInnen des interpretativen Paradigmas das Handeln der Individuen maßgeblich durch deren eigene Interpretation ihrer sozialen Situation geleitet (vgl. Esser 2001, S. 81).
- 4.
Bereits einige Jahre früher hatte Christian Heath seine Konversationsanalysen von der Tonband- auf die Videoaufzeichnung umgestellt (Heath 1986). Daher kann er als Pionier der videographischen Forschungspraxis in der Soziologie bezeichnet werden. Gemeinsam mit Knoblauch entwickelte er später die videographischen Workplace Studies (Knoblauch und Heath 1999).
- 5.
- 6.
Eine ausführliche Projektbeschreibung findet sich hier: http://sowiport.gesis.org/search/id/gesis-sofis-25235
- 7.
Die Bezeichnung stammt aus dem Feld selbst und ist insoweit zutreffend, als dass es sich, trotzdem das Format eine HauptreferentIn kennt, im Rahmen des Group-Talks ausgesprochen viel interagiert und kommuniziert wird. So können Zwischenfragen jederzeit, auch ohne explizite Meldung, gestellt werden.
- 8.
Die Namen der Akteure wurden für Publikationszwecke anonymisiert.
- 9.
Das Geschehen unter den Zuschauenden ist aus den verkleinerten Darstellungen der SprecherInnenperspektive in den gewählten Abbildungsformaten nicht ersichtlich (und ergibt sich für die InterpretInnen aus der Analyse des entsprechenden Rohdatenmaterials). Für die LeserInnen des vorliegenden Beitrags sei daher auf die Wiedergabemöglichkeit der entsprechenden Videosequenz im Enhanced E-Book dieses Bands verwiesen.
- 10.
Doppelte runde Klammern markieren Analysekommentare, Unterstreichungen weisen auf starke Betonungen hin.
- 11.
In diesem Kontext, der nicht die Reflektion der Videographie als solche beinhaltet, sei nur am Rande darauf hingewiesen, dass die Kameraplatzierung im Raum so zu wählen ist, dass die Reaktivität möglichst gering ausfällt. Trotzdem hat sich im Forschungsprozess, in seltenen Fällen, auch gezeigt, dass sich, in manchen Konstellationen, eine starke Reaktivität, vor allem der SprecherInnen, auf die im Raum platzierten Kameras, einstellen kann. Dies ist in der Analyse zu reflektieren und das entsprechende Datum, je nach vorliegender Fragestellung, für die Analyse evtl. sogar gänzlich zu verwerfen.
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Wilke, R. (2018). Das Interpretations-Bild. In: Moritz, C., Corsten, M. (eds) Handbuch Qualitative Videoanalyse. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15894-1_26
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