Zusammenfassung
Was ist Aufdeckung und wie verläuft sie? Damit Aufdeckungsprozesse für männliche Betroffene von sexualisierter Gewalt hilfreich sein können, ist es wichtig zu klären, was solche Prozesse charakterisiert. Auf Basis einer Auswertung der einschlägigen Literatur sowie der im Rahmen der AuP-Studie geführten Interviews mit Betroffenen und professionell Beteiligten findet in diesem Beitrag eine Annäherung an den vielschichtigen Prozess der Aufdeckung statt. Dabei wird auf wesentliche Dimensionen der Aufdeckung (‚Erinnerung‘, ‚Einordnung‘, ‚Offenlegung‘), auf verschiedene Akteursgruppen und auf Verlaufsdynamiken geblickt. Anschließend werden die Verläufe der Aufdeckungsprozesse diskutiert, soweit sie aus den Interviews mit Betroffenen rekonstruiert werden konnten. Es konnten drei Verlaufsmuster modelliert werden, deren spezifische Merkmale im Mittelpunkt der Verlaufsdarstellung stehen.
Mitarbeit von Lisa Mittischek und Nadine Lampel
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Unter einer Verlaufsperspektive lassen sich Offenlegungen darüber hinaus auch danach unterscheiden, ob sie erstmalig im Aufdeckungsprozess auftreten oder eine Folgeoffenlegung – etwa im Rahmen einer polizeilichen Befragung – sind. Siehe dazu Abschn. 1.3.
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Dies ist nicht als unabsichtlich im strengen Sinne zu deuten – hätte der Betroffene eine Offenlegung verhindern wollen, wäre dies auch in dieser Situation möglich gewesen. Aber er hatte zumindest nicht vorher geplant, sich dem Gesprächspartner gegenüber zu öffnen.
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Ebenfalls denkbar sind Geständnisse von Täter_innen zu Gewalthandlungen, die von den Betroffenen noch nicht offengelegt worden sind. Dazu liegen keine Erkenntnisse vor.
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Einen Grenzfall bilden körperliche Male wie z. B. Verletzungen im Genital- und Analbereich oder das Auftreten sexuell übertragbarer Krankheiten. Dies sind keine Handlungen, jedoch können sie als – ggf. zunächst unspezifische und von den Betroffenen ungewollte – Hinweise einen Aufdeckungsprozess anstoßen.
- 5.
Dabei wurden sowohl Jungen als auch Mädchen untersucht und es waren Fälle sowohl mit Verdacht auf körperliche Misshandlung als auch mit Verdacht auf sexualisierte Gewalt. Die Analysen geschahen ohne Unterscheidung nach diesen Kriterien, sodass die hier präsentierten Ergebnisse sich nicht spezifisch auf Befragungen zu Fallen von sexualisierter Gewalt oder auf Befragungen mit Jungen beziehen.
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Die Elternteile waren bis auf eine Person die Eltern von interviewten Jungen. Von zwei der Jungen wurden keine Elternteile interviewt.
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Mosser nennt in dieser Aufzählung auch die Gruppe der Heterosexuellen – dies könnte jedoch an der spezifischen Fallauswahl gelegen haben, denn für schwule Jugendliche könnte auch die Zugehörigkeit zu einem homosexuellen Umfeld helfen.
- 8.
LI hat Kontakt mit dem Interviewer aufgenommen, nachdem er von der AuP-Studie erfahren hat.
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Scambor, E., Rieske, T.V., Wittenzellner, U. (2018). Verläufe von Aufdeckungsprozessen bei männlichen Betroffenen von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend. In: Rieske, T., Scambor, E., Wittenzellner, U., Könnecke, B., Puchert, R. (eds) Aufdeckungsprozesse männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend. Sexuelle Gewalt und Pädagogik, vol 4. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15803-3_3
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