Zusammenfassung
In Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen stellt Ernst Troeltsch ein riesiges Forschungsprogramm auf, das an der Schnittstelle von Soziologie und Theologie liegt. In Auseinandersetzung mit materialistischen und idealistischen Ansätzen erforscht er das Christentum als „Praxis“, in der theologische Ideale auf soziologische Realitäten und soziologische Realitäten auf theologische Ideale wirken. In diesen Wechselwirkungen akzentuieren sich in der Geschichte des Christentums laut Troeltsch drei Typen von Gemeinschaft, die er mit seiner berühmt-berüchtigten Typologie auf den Begriff bringt: (1) Ekklesiastizismus, (2) Sektarianismus und (3) Mystizismus. Obwohl sich die Soziallehren nicht auf diese Typen reduziere lässt, ist die Typologie ausschlaggebend für die Rezeption Troeltschs in der Religionssoziologie.
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Notes
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Genau genommen ist es anachronistisch, diese Kombination als „interdisziplinär“ aufzufassen, weil Troeltsch vor der Differenzierung von Soziologie und Theologie in selbstständige Disziplinen schrieb. Als Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie trug er zur institutionellen wie intellektuellen Verselbstständigung der Soziologie bei.
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Troeltsch nennt die Typen „Kirche“, „Sekte“ und „Mystik“, betont aber, dass die Namen „Nebensache“ seien (Troeltsch 1912, S. 375). Wiederholt weist er darauf hin, dass es ihm nicht um die Bewertung, sondern um die Beschreibung der Gemeinschaften geht, weshalb insbesondere der Begriff der Sekte problematisch ist (ebd., S. 367–368). Um zu vermeiden, dass allen Gemeinschaften, die nicht dem Typ „Kirche“ entsprechen, damit auch der Charakter der Kirche abgesprochen wird, bietet es sich deshalb an, auf Alternativen auszuweichen (Schmiedel 2017, S. 105–128).
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Max Weber, der sich mit Troeltsch über Jahre ein Haus in Heidelberg teilte, entwickelte ebenfalls eine Unterscheidung von Ekklesiastizismus und Sektarianismus (Weber 1906). Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass beide viel voneinander gelernt haben (Graf 2014), findet sich der Typ des Mystizismus nur bei Troeltsch.
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Die Troeltsch-Rezeption beginnt in den 1960er Jahren insbesondere in der englischsprachigen Theologie. In Deutschland wird in den 1980ern die Ernst-Troeltsch-Gesellschaft gegründet, die auch für die auf 20 Bände angelegte Neuauflage aller seiner Schriften verantwortlich ist.
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In dieser Debatte geht es darum, welches Modell – Säkularisierungs-, Individualisierungs- oder Pluralisierungstheorie – die empirischen Daten zur Entwicklung von Religion erklären kann. Im Gegensatz zur Säkularisierungstheorie betonen Individualisierungs- und Pluralisierungstheoretiker, dass Religion in der Moderne nicht an Bedeutung verliert (Pickel 2011, S. 135–225).
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Schmiedel, U. (2019). Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912). In: Gärtner, C., Pickel, G. (eds) Schlüsselwerke der Religionssoziologie. Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15250-5_16
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