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Kunst auf der Straße – Männliche Stickerei in Serbien

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Part of the book series: Politische Psychologie ((POLPSY))

Zusammenfassung

Die Aktionskunst Männliche Stickerei (Muški vez) (2007 bis 2008) der Künstlergruppe Škart aus Belgrad bestand darin, dass eine Gruppe Männer an öffentlichen Plätzen stickte. Die beteiligten Männer betrachteten dies als Provokation, da es in Serbien äußerst unüblich sei, dass Männer freiwillig eine Frauenarbeit ausführten. Sie bestanden darauf, ihre Aktion nur unangekündigt und unkommentiert umzusetzen, jegliche Öffentlichkeit darüber hinaus lehnten sie ab. Aus männlichkeitstheoretischer Sicht nahmen die Aktivisten im Rahmen ihrer Kunst symbolisch eine untergeordnete, weibliche Position ein. Sie signalisierten mit Gelassenheit den möglichen Verzicht auf die in Krisenzeiten häufig gewaltsam eingeforderte männliche Vormachtstellung gegenüber Frauen. Zugleich bezogen sie sich auf ein traditionelles Handwerk, so dass sie nicht als ausländische Fremdkörper diskreditiert werden konnten. Die weitgehend wohlwollenden Reaktionen der Passant_innen stehen im Gegensatz zu den gewaltsamen Reaktionen auf schwul-lesbisch-queere Demonstrationen in Belgrad, bei denen ebenfalls Geschlechtergrenzen öffentlich überschritten wurden.

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Notes

  1. 1.

    Als Serbien wird im Folgenden der Staat bezeichnet, der nach den Zerfallskriegen die Rechtsnachfolge Jugoslawiens antrat, ab 1992 als Bundesrepublik Jugoslawien, ab 2003 als Serbien und Montenegro, ab 2006 nach der Abspaltung Montenegros als Republik Serbien. Das Kosovo stand seit den NATO-Luftschlägen von 1999 unter UN-Verwaltung, wurde von serbischen Regierungen weiterhin als Teil des Landes betrachtet. 2008 erklärte es seine Unabhängigkeit, die bis Ende 2012 von mehr als 110 Staaten völkerrechtlich anerkannt wurde, nicht jedoch von Serbien, Bosnien-Herzegowina, Russland und anderen Staaten. Die Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo verbesserten sich im Rahmen des seit 2012 geführten Dialogs, der von der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik gestützt wurde. Darin wurden die in Gebieten mit mehrheitlich serbischer Bevölkerung von der serbischen Regierung unterstützte Parallelstrukturen in Verwaltung, Justiz und Polizei in das kosovarische Rechtssystem integriert (Auswärtiges Amt 2015, S. 1).

  2. 2.

    Zu den größten Minderheiten zählen Ungar_innen, Bosniak_innen, Roma, Jugoslaw_innen, Montenegriner_innen, Kroat_innen, Slowak_innen und Albaner_innen (Auswärtiges Amt 2012b). Einer Umfrage zufolge bewertet die Mehrheit der Befragten die Rechte für ethnische Minderheiten positiv (Heinrich-Böll-Stiftung 2007, S. 20). Zugleich kommt es jedoch zu Übergriffen gegenüber Angehörigen ethnischer Minderheiten sowie kulturellen und religiösen Einrichtungen, die oft unzureichend verfolgt werden (Nikolić-Ristanović 2002, Cartner 2005).

  3. 3.

    Nach dem Mord kam es zu massenhaften Beileidsbekundungen der Bevölkerung (Greenberg 2006b, S. 128). In öffentlichen Debatten wurden die Täter teils als Feinde der Nation verurteilt (Greenberg ebenda). Das Gerichtsverfahren wurde jedoch aus Sicht einiger Beobachter dazu benutzt, die Regierung Đinđićs als mafiös zu diskreditieren (Dzajić 2004). Trotz der Strafverfolgung glaubten 2007 59 % der Befragten einer Erhebung zur öffentlichen Meinung in Serbien, dass die wahren Schuldigen nie gefasst wurden (Heinrich-Böll-Stiftung 2007, S. 26).

  4. 4.

    Der Angeklagte wurde am 31.03.3016 aufgrund mangelnder Beweise freigesprochen. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt.

  5. 5.

    Die Untersuchung beruht auf einem repräsentativen Sample von 1539 befragten Erwachsenen im Jahr 2007 in Serbien (ohne Kosovo) in sechs Regionen.

  6. 6.

    Diese Kombination bedrohter Männlichkeit und bedrohter Nation beschrieb Bracewell (2000, S. 569) für serbisch-nationalistische Diskurse vor Beginn des Krieges (siehe Abschn. 4.2).

  7. 7.

    Mladić war zur Zeit der Aktivitäten der Männlichen Stickerei auf freiem Fuß, 2011 wurde er nach Den Haag ausgeliefert.

  8. 8.

    Dies ist als starke Abwertung zu verstehen, wenn man einbezieht, dass in einer Umfrage von 2007 33 % der Befragten die Meinung vertraten, AIDS-Kranke sollten isoliert werden (Heinrich-Böll-Stiftung 2007, S. 90).

  9. 9.

    Der Vorsitzende der Liberaldemokratischen Partei, der sich als einer der wenigen Personen des öffentlichen Lebens für die Demonstration aussprach, kündigte 2010 an, mit Frau und Kindern daran teilzunehmen. In seiner umfassenden Unterstützung des Gay Pride war demnach auch eine indirekte Bestätigung der eigenen Heterosexualität enthalten.

  10. 10.

    „Frauen in Schwarz“ ist eine zentrale feministische Friedensorganisation in Serbien (Webseite: www.zeneucrnom.org, Zugriff am 01.07.2014).

  11. 11.

    Queeria Belgrad ist eine bekannte serbische Plattform, die sich für die Rechte der LGBTIQ-Gemeinde (lesbian, gay, transsexual, intersexual, queer) einsetzt und stark friedenspolitisch ausgerichtet ist. Die Organisation Labris hat hingegen ein dezidiert lesbisches Selbstverständnis (siehe www.queeriacentar.org, www.labris.org.rs, Zugriff am 01.07.2014).

  12. 12.

    Diese Arbeit wurde von dem Belgrader Oktoberklub ausgezeichnet.

  13. 13.

    Hierzu zählten neben „Frauen in Schwarz“ und Queeria auch die Youth Initiative for Human Rights, eine NGO in der Region des ehemaligen Jugoslawiens, die nicht mit der Scientology-nahen Organisation Youth for Human Rights zu verwechseln ist, sowie Grupa 484, eine Initiative serbischer Binnenvertriebener mit interkulturellen Jugendprojekten. Diese Gruppen kritisieren u. a. die Menschenrechtsverletzungen serbischer Truppen in den 1990er Jahren in Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Kosovo sowie innerhalb Serbiens. Die Selbstdarstellungen finden sich unter: www.zeneucrnom.org, www.queeriacentar.org, www.yihr.org, www.grupa484.org.rs, Zugriff am 01.07.2014.

  14. 14.

    Einer der Künstler beschrieb dies so: „Somehow it is important to stay ALIVE. I will explain, a phrase I always like to tell. There was a show of dancers of a contemporary dancing group from Croatia, Zagreb (…). One of the aspects of their show is, they have surveillance cameras recording the audience and the dancers (…) and project it on a big screen. It's generated by a computer. Only people on the screen who are moving become visible. As soon as they stop moving, they are going to fade away. You see the dancers, you see them, as they are moving. If you wave your hands or just move, you can see yourself on the screen. If you stop moving, you are invisible. And this is the greatest metaphor. As long as your heart is working and your body and you are producing a little of, have some kind of energy, you are alive. At the moment you become passive or something, you just fade away“ (Interview, Aktivist AT, Belgrad, 2007, Absatz 106).

  15. 15.

    Der von den Vereinten Nationen initiierte Jahrestag erinnert an die Annahme der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Generalversammlung am 10.12.1948.

  16. 16.

    Text (eigene Übersetzung): Zurück. Zurück in die Finsternis. Sie geben uns ein Zeichen. Zurück in den Halt, für eine uralte Sache. Zurück in den Schlamm, die Schwielen eintauchen, zurück in die Schlacht für dein Volk. Zurück ins Elend, Dorf und Stadt, Alt und Jung. Zurück jetzt! Text: Škart, Musik: Radivoje Rasković, Arrangement: Vladimir Zivković. (Nazad. Nazad u mrak, daju nam znak, nazad u kvar, za davnu stvar. Nazad u mulj, potopi žulj, nazad u boj, za narod svoj. Nazad u jad, selo i grad, i star i mlad. Unazad sad!).

  17. 17.

    Den Hinweis auf das Gefühl der Verpflichtung verdanke ich dem Psychotherapeuten des Zentrums für Kriegstraumata in Novi Sad, Vladan Beara.

  18. 18.

    Dem modernen Geschlechterverständnis zufolge sind Frauen grundsätzlich anders als Männer durch eine zu erlernende und zugleich natürlich angelegte Weiblichkeit gekennzeichnet (siehe Kap. 2).

  19. 19.

    Stickerei und die durch Stickerei geprägten regional spezifischen Trachten wurden zu einem wichtigen Teil der ethnologischen Forschung des 19. Jahrhunderts. Eine umfassende Ausstellung über die Stickerei und eine große Sammlung regionaler Trachten zeigt das Ethnologische Museum Belgrad.

  20. 20.

    Hierzu zählen die feministischen Protestcamps in Greenham Common in den 1970er Jahren oder der Dadaismus (Parker 2010). Die soziale Bewegung des „Craftism“ bzw. „guerilla knitting“, die etwa zeitgleich mit der hier untersuchten Männlichen Stickerei u. a. in den USA und England, später auch in Deutschland beobachtet wird, nimmt mit Handarbeitstechniken öffentliche Räume ein (Pohl 2011). Oft ist damit eine vage Thematisierung von Verbraucherrechten oder Urheberschutz verbunden, gelegentlich auch feministische oder pazifistische Positionen, z. B. beim Umstricken eines Panzers durch Aktivist_innen in Dresden 2013. Im Zuge der Craftist-Bewegung gibt es ebenfalls stickende Männer, z. B. die Menbroiderers oder Embroiderers (Parker 2010).

  21. 21.

    Dies geschah unter dem Titel Baština – Stari Zanati/Kulturerbe – altes Handwerk.

  22. 22.

    So gab es vor der Krise der 1980er Jahre in Belgrad durchaus schwule Cafés und Treffpunkte, in den 2000er Jahren dagegen nicht (Interview, CT, Belgrad, 2008, Absatz 8).

  23. 23.

    In einer Umfrage wurden 2007 in Serbien als drängendste Probleme Arbeitslosigkeit, niedriger Lebensstandard, die Kosovofrage, Korruption und Kriminalität benannt, wobei 55 % der Befragten Arbeitslosigkeit als das drängendste Problem angaben (Heinrich-Böll-Stiftung 2007, S. 14).

  24. 24.

    Die psychologische Arbeitsforschung zeigt, dass Arbeitslosigkeit bei Männern und Frauen zu gravierenden psychischen Belastungen führen kann. Dies werde durch viele Faktoren beeinflusst. Hierzu zählt auch Geschlecht, so dass in vielen Kontexten männliche Geschlechtszugehörigkeit mit höherer Belastung korreliert, in einigen jedoch nicht (Leana und Feldman 1991).

  25. 25.

    Auch das Sticken als Teil der Konstruktion von Weiblichkeit war mit nationalen Zielen verbunden. So war in den österreichischen Diskursen im 19. Jahrhundert in der Sorge um die Kultiviertheit und Schönheit, die die Frauen vermitteln sollten, die Erhaltung des Habsburger Reiches und die Vormachtstellung Wiens mitgedacht (Houze 2008, S. 20).

  26. 26.

    Einer Umfrage in Serbien zufolge sind 79 % der Befragten der Meinung, keinen Einfluss auf ihre Gemeinden nehmen zu können (Heinrich-Böll-Stiftung 2007, S. 56).

  27. 27.

    Demokratie stand in der Bevölkerung durchaus für einen wünschenswerten Wandel, aber die sozialen Voraussetzungen fehlten, so Dvornik. Die oberflächliche Demokratisierung und das Defizit einer fehlenden aktiven Gesellschaft kam den politischen Eliten jedoch entgegen, da ihnen dies große Handlungsspielräume gewährte, während sie von Investoren gleichzeitig als Vertretungen „freier“ Länder angesehen wurden, so Dvornik (2009, S. 65).

  28. 28.

    In einer Umfrage von 2007 gaben 61 % der Befragten in Serbien an, das Beste für Serbien wäre ein starker Führer, dem alle gehorchen. Nur 44 % sahen Demokratie als das beste System für Serbien (Heinrich-Böll-Stiftung 2007, S. 17).

  29. 29.

    Dieselbe Studie kam zu dem Ergebnis, dass vier Fünftel der Befragten sagten, eine Stelle in staatlichen Betrieben sei durch persönliche Beziehungen zu bekommen, mehr als 90 % gaben an, dem Staat nicht zu vertrauen. 73 % glaubten, es sei in Serbien nicht möglich, auf ehrliche Weise reich zu werden (Heinrich-Böll-Stiftung 2007, S. 19).

  30. 30.

    Aus einem Gedächtnisprotokoll mit einer Aktivistin AZ: „Die NGO-Szene in Serbien ist stark von nicht-religiösen Leuten geprägt. Ich habe kein Problem damit, das ist ok. Es sind Leute, die sich stark mit Jugoslawien identifizieren. (…) Mir gefällt es [aber] nicht, wie sie auftreten. (…) Weil es Leute übergeht, die religiös sind. (…) Sie sind so überzeugt, dass sie Recht haben. (…) Ich hab es so satt, entweder dies oder das. Davon hatten wir in den letzten 15 Jahren wahrlich genug“ (Gedächtnisprotokoll, Aktivistin AZ, Belgrad, 2007, Absatz 16–20).

  31. 31.

    Im Gegensatz dazu brachte die Kampagne Prigovor savjesti weiblich konnotierte Aufgaben bewusst mit dem Militär in Verbindung, indem sie Toiletten Putzen und Knöpfe Annähen als typische Aufgaben von Soldaten darstellte.

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Schroer-Hippel, M. (2017). Kunst auf der Straße – Männliche Stickerei in Serbien. In: Gewaltfreie Männlichkeitsideale. Politische Psychologie. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12998-9_7

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-12998-9_7

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