Zusammenfassung
Arbeiterbewegung und kritische Theorie der Gesellschaft stehen in einer ambivalenten Beziehung aus Nähe und Distanz, Kooperation und Konflikt, Verständigung und Verständnislosigkeit, wechselseitiger Anerkennung und Negation. Die Gewerkschaften verbinden mit Reflexion im Referenzrahmen der Kritischen Theorie die Erfahrung und die Erwartung erweiterter Möglichkeiten des Verstehens gesellschaftlicher Prozesse und der Orientierung gewerkschaftlichen Handelns – zugleich aber auch der Überforderung durch ihre Analysen und Postulate. Innerhalb der Kritischen Theorie scheint bis heute unentschieden, wie weit in der Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation die Gewerkschaften Teil der Lösung oder Teil des Problems oder ob sie überhaupt von Interesse sind. Arbeiterbewegung und Kritische Theorie haben in der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem jeweils anderen dabei als gemeinsamen Bezugspunkt nicht nur die Verarbeitung der politischen Niederlagen und enttäuschten Hoffnungen in historischen Schlüsselsituationen des 20. Jahrhunderts, sondern tragende übereinstimmende Motive.
Der Beitrag zeichnet Überscheidungen und Abgrenzungen, aber auch das Motiv nach, arbeitet die gemeinsamen Motive heraus und argumentiert, dass beide in der Verfolgung ihrer Intentionen aufeinander verwiesen sind. Dabei geht es auch um die Frage, welche neueren Ansätze und Perspektiven, die aus dem Strömungszusammenhang der Kritischen Theorie hervorgegangen sind oder sich mit ihren Motiven verbinden lassen, heute für den Organisationszusammenhang der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, soweit sie an Kritik und Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse festhält, im Sinne theoretischer Konkretion und praktischer Nutzbarkeit von besonderer Bedeutung sind. Den Abschluss bilden Überlegungen zu einer normativ-kritischen Theorie der Gewerkschaften.
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Notes
- 1.
Neben kapitalismuskritischen Zielbeschreibungen in Gewerkschaftssatzungen und Programmdokumenten gehören dazu gegenwärtig vor allem die Auseinandersetzungen um eine emanzipatorische Arbeitspolitik, die Orientierung auf einen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, die Re-Vitalisierung der Debatte um Wirtschaftsdemokratie, und ganz wesentlich: die gesellschaftskritische und auf praktisches Wirksamwerden gerichtete politische Bildungsarbeit in den Gewerkschaften. Auch die kapitalismuskritischen Diskurse in gewerkschaftsbezogenen Publikationen, Periodika und Netzwerken sind Ausdruck und Bestandteil dieses Motivzusammenhangs.
- 2.
- 3.
Eine Beziehung, die wegen der Eigenlogik der Handlungssphären und der Unmöglichkeit, Theorie unmittelbar in Praxis umzusetzen, immer spannungsreich wäre – der frühe Horkheimer hat die notwendige Unabhängigkeit des Denkens treffend beschrieben: „Der Intellektuelle, der nur in aufblickender Verehrung die Schöpferkraft des Proletariats verkündet und sein Genüge darin findet, sich ihm anzupassen und es zu verklären, übersieht, dass jedes Ausweichen vor der theoretischen Anstrengung, die er in der Passivität seines Denkens sich erspart, sowie vor dem zeitweiligen Gegensatz zu den Massen, in den eigenes Denken ihn bringen könnte, diese Massen blinder und schwächer macht, als sie sein müssen. Sein eigenes Denken gehört als kritisches, vorwärtstreibendes Element mit zu ihrer Entwicklung“. (Horkheimer 1937, S. 188).
- 4.
„Statt eines Generalstreiks führen wir für das preußische Wahlrecht einen Krieg“ – so der sozialdemokratische Abgeordnete Ludwig Frank. (Boll 1980, S. 99).
- 5.
„Die in der Verfassungsstruktur verankerten Elemente politischer Demokratie markieren die Achillesferse der Privatrechtsordnung. Öffentliche Gewalt und soziale Macht klaffen potentiell auseinander. Marx hat dies für den analogen Fall der aus der Märzrevolution von 1848 hervorgegangenen französischen Verfassung konzis analysiert: ‚Der umfassende Widerspruch dieser Konstitution (…) besteht darin: Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll (…), setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte soziale Macht sie sanktioniert (…), entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, dass sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den anderen, dass sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.“ (Perels 1973, S. 38).
- 6.
Selbst die „Dialektik der Aufklärung“, überwiegend angesehen als dunkle, pessimistische, hoffnungslose Analyse und Geschichtsphilosophie, lässt sich lesen als „praktisches Buch“, das durch seine Zeitdiagnose der verwalteten Welt störend, aufklärend, aufhaltend interveniert (Demirović 1999, S. 44 ff.; vgl. auch den entsprechenden Beitrag im vorliegenden Handbuch).
- 7.
Wilhelm Reich fasst diesen Widerspruch in eine prägnante Formulierung: „Nicht, dass der Hungernde stiehlt oder dass der Ausgebeutete streikt, ist zu erklären, sondern warum die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt.“ (Reich 1972, S. 34).
- 8.
Wie tragfähig die Einsichten der älteren Kritischen Theorie auch für die Gegenwart sind, lässt sich an einer Überlegung Horkheimers zu dem verdeutlichen, was heute als Phänomen bedrohlich wirkender unkontrollierter Modernisierungsschübe, ihrer Anforderungen an den „flexiblen Menschen“ und ihrer regressiven Verarbeitung diskutiert wird: „Mit der Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung können nämlich die Änderung der menschlichen Reaktionsweisen, die unmittelbar durch die Wirtschaft bedingt sind, d. h. die unmittelbar aus dem wirtschaftlichen Leben sich ergebenden Gewohnheiten, Moden, moralischen und ästhetischen Vorstellungen so rasch wechseln, dass ihnen gar keine Zeit mehr bleibt, sich zu verfestigen und richtige Eigenschaften der Menschen zu werden.“ (Horkheimer 1932, S. 68).
- 9.
Vgl. Niethammer 1994.
- 10.
Ein seltener, meines Wissens nicht weiter verfolgter Ansatz dazu waren die berufsgruppenbezogenen (Kommunal-, Gesundheits- und Finanzverwaltung, Polizei- und Sicherheitsdienste, Bahn und Transport) Such- und Lernwerkstätten der Gewerkschaft ÖTV in ihrem Bildungs- und Begegnungszentrum Berlin aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Wannseekonferenz im Januar 1992 unter dem Titel „Judenmord und öffentliche Verwaltung“.
- 11.
„Nicht das Erschlaffen der Menschheit im Wohlleben ist zu fürchten, sondern die wüste Erweiterung des in Allnatur vermummten Gesellschaftlichen, Kollektivität als blinde Wut des Machens. (…) Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.“ (Adorno 1951, S. 178).
- 12.
Vgl. dazu Steinrücke 2014.
- 13.
Dies aufzunehmen ist für eine gewerkschaftliche Interessenpolitik, die sich an einer Erhöhung wirklicher Freiheitsgrade in und gegenüber der Arbeit orientiert, um so bedeutsamer, als die Gegenseite eben diese Motive zu bedienen scheint: Das moderne Management greift die „Künstlerkritik“ (Boltanski/Chiapello) an entfremdeter Arbeit auf und versucht, durch mehr Entscheidungsräume, Selbststeuerung und Kompetenzanrufung der Arbeitenden Freiheit und Verantwortung neu zu organisieren, dabei und damit jedoch den Kern und die Grenzen verwertungsgetriebener Zwecke und Organisationformen der Arbeit gegen Kritik zu immunisieren: Das Selbst wird gestärkt, allerdings das unternehmerische (Bröckling 2013) – Herrschaft durch Autonomie.
- 14.
Im Laufe der Jahrzehnte hat das Intermediaritätskonzept einen nicht unwesentlichen Funktionswandel erfahren – bei den meisten seiner Rezipienten und bei seinem Urheber: Wurde es – auf der Folie enttäuschter Erwartungen – zunächst analytisch-kritisch auf eine sozialpartnerschaftlich-integrative Gewerkschaftspolitik bezogen, so gilt es heute – angesichts der geschwächten Stellung der Gewerkschaften im nachfordistischen Shareholder-Kapitalismus – als normativ: Gewerkschaften sollen eine mitgestaltende intermediäre Stellung im System der industriellen Beziehungen zurück gewinnen und sich durch keine antikapitalistischen, etwa wirtschaftsdemokratischen Reminiszenzen in der Perspektive der Aufhebung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse, von ihrer Systemimmanenz ablenken lassen. (Müller-Jentsch 2005, S. 194, 2012). Richtiger wird es dadurch nicht.
- 15.
Ein viel versprechender Versuch, dies in einer systematischen Weise anzugehen, war die gemeinsame Tagung der gewerkschaftlichen Otto-Brenner-Stiftung und des Frankfurter Instituts für Sozialforschung am 14. und 15. Februar 2001 unter dem Titel „Aufgaben und Perspektiven der kritischen Gesellschaftstheorie heute“, deren Beiträge dokumentiert sind in Beerhorst/Demirović/Guggemos, 2004. Dieser Versuch harrt seiner Fortsetzung.
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