1 Sicherheit als Gegenstand der Kriminologie

Kriminologie ist das geordnete oder systematische (Erfahrungs-)Wissen über Verbrechen, Verbrecher, die strafrechtliche Sozialkontrolle sowie das Verbrechensopfer. Kriminologie ist damit zunächst die Sammelbezeichnung für vielfältige wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Kriminalität als einer Form abweichenden Verhaltens sowie der Kontrolle von Kriminalität. Ferner bestehen Bezüge zum Opfer und zur Kriminalitätsprävention (Kaiser 1988, S. 4). Die Kriminologie zählt zu den empirischen Wissenschaften mit einer breiten interdisziplinären und internationalen Ausrichtung. Kriminologische Erkenntnisse, die aus der systematischen Befassung mit kriminologischen Fragestellungen folgen, sind deshalb immer auch den Grundwissenschaften (Soziologie, Psychologie, Rechtswissenschaften, Psychiatrie, Pädagogik, Neurowissenschaften, Ökonomie und Politikwissenschaften, um die wichtigsten zu nennen) zuzurechnen. Begriffe, Definitionen und Theorien, schließlich auch Forschungstechniken und -methoden werden den genannten Grundwissenschaften entnommen. Aussagen zur Erklärung oder zu Ursachen von Kriminalität, zur Erklärung von sozialer Kontrolle und Strafrecht sind damit immer Aussagen der Bezugswissenschaften. Es liegt auf der Hand, dass für die Kriminologie der Begriff „Sicherheit“ von besonderer Bedeutung ist: Die Bezugnahme auf „Sicherheit“ ist zu einem zentralen Merkmal der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über Kriminalität geworden. Grundsätzlich kann – sowohl in historischer Perspektive als auch mit Blick auf die aktuellen Auseinandersetzungen und Krisen in der Welt – gesagt werden: Sicherheit ist – wie etwa Gesundheit – ein basales Bedürfnis des Menschen und ein klassisches Kollektivgut.

Die Bewahrung oder Wiederherstellung von Sicherheit hat im Wertekanon der Bevölkerung einen hohen Stellenwert. Sicherheitsaspekte beeinflussen Einschätzungen, Erwartungen und Handlungsroutinen von Bürgern auch im alltäglichen Leben, etwa bei der Wahl des Wohnortes, des Schulstandortes der Kinder, der Einschätzung der Lebensqualität, der Wahrnehmung von allgemeinen Unsicherheitslagen und Gefährdungsrisiken.

2 Peripherisierung ländlicher Räume als Sicherheitsrisiko

2.1 Zum Begriff der Peripherisierung

Peripherisierung bezeichnet nach Karl-Dieter Keim einen sozial-räumlichen Prozessbegriff, der zusammenfassend die Dynamik einer „graduelle[n] Schwächung und/oder Abkopplung sozial-räumlicher Entwicklungen gegenüber den dominanten Zentralisierungsvorgängen“ beschreibt (Keim 2006, S. 3).Footnote 1 Der von Keim in die regionalwissenschaftliche Diskussion eingebrachte Begriff der Peripherisierung beschreibt damit nicht nur die sozioökonomischen Entwicklungen in einer Region, sondern auch die Handlungsfähigkeit gesellschaftlicher Akteure und Institutionen. „Peripherien verlieren in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen Handlungsspielräume, nämlich die Lebensqualität und -chancen ihrer Bevölkerung ausreichend zu sichern. Peripherisierung beschreibt eine sozialstrukturelle Entwicklung und gleichzeitig deren Wahrnehmung und Etikettierung. Das Problem besteht in der dauerhaften Verfestigung von Strukturdefiziten mit entsprechenden Folgen für die in der Region lebenden Menschen. Es handelt sich also um eine wechselseitige Verstärkung sozialer und räumlicher Ungleichheiten“ (Beetz 2008, S. 11). Zu den wesentlichen Voraussetzungen, die eine Peripherisierung in Gang setzen, gehören eine ökonomische Strukturschwäche und eine geringe Bevölkerungsdichte (verbunden mit einer zunehmend ungünstigen Alters- und Geschlechtsgruppenrelation). Regionen, in denen beide Bedingungen zusammentreffen, geraten immer häufiger in eine Abwärtsspirale kumulierender negativer Entwicklungen.

Bei den betroffenen Räumen handelt es sich typischerweise um Regionen in relativ entfernter räumlicher Lage zu den Zentren der wirtschaftlichen Entwicklung, grenz- oder küstennahe Regionen oder Berggebiete bzw. Mittelgebirgslagen ohne funktionale Kompensationsmöglichkeiten (z. B. Tourismus mit entsprechender Infrastruktur), ländliche Regionen, die sich einem radikalen ökonomischen Strukturwandel ausgesetzt sehen, bzw. „deindustrialisierte“ ländliche Regionen wie die monostrukturierten Agrargebiete in Ostdeutschland, altindustrielle bzw. altgewerblich geprägte Regionen, Bergbaugebiete sowie alttouristische Gebiete in Westdeutschland.

Natürlich sind auch städtische (Teil-)Regionen von Peripherisierung betroffen, aber in Quantität und Ausmaß sind ländliche Räume weitaus stärker betroffen. Nach der jüngsten Kategorisierung der Raumtypen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) von 2010 wird insgesamt rd. ein Fünftel (18,9%) der „Fläche“ in Deutschland als „sehr peripher“ klassifiziert, in diesen Räumen leben 4,4% der Gesamtbevölkerung und 3,1% der Erwerbspersonen. Von diesen 18,9% „sehr peripheren“ Räumen weisen 17,5% eine „ländliche“, 1,2% eine „teilweise städtische“ und 0,2% eine „überwiegend städtische“ siedlungsstrukturelle Prägung auf. Ein Viertel der Bevölkerung lebt in peripheren oder sehr peripheren Regionen und rund ein Fünftel der Beschäftigten arbeitet dort.

Charakteristisch für diese ländlichen Räume sind: Eine geringe ökonomische Wettbewerbsfähigkeit, ein defizitärer Arbeitsmarkt mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit, ein weit unterdurchschnittlicher Wohlstand aufgrund eines deutlich niedrigeren Haushaltseinkommens und geringer Kaufkraft, eine niedrige Steuereinnahmekraft der Gemeinden und eine starke administrative und ökonomische Abhängigkeit von Entscheidungen in städtischen Zentren fernab der Region, ein anhaltender Rückgang der Bevölkerungszahlen, verstärkt durch die Abwanderung der gut ausgebildeten jungen Menschen bei gleichzeitig geringen Zuwanderungsraten und einer Zunahme des Anteils älterer Menschen. Durch die Abwanderung vor allem der jungen, meist gut ausgebildeten Frauen potenzieren sich demografische und ökonomische Probleme und das Verhältnis der Geschlechter gerät weiter aus dem Gleichgewicht. So spricht Weiß (2006) bereits von einer „Residualbevölkerung“ in einigen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns.

In diesem mehrdimensionalen „Peripherisierungsprozess“ verstärken sich ökonomischer Strukturwandel und demografischer Wandel wechselseitig, was u. a. auch dazu führt, dass die infrastrukturelle Tragfähigkeit der öffentlichen und privatwirtschaftlichen Daseinsvorsorge in der bisherigen Form nicht mehr gewährleistet werden kann und sich die allgemeinen Lebensbedingungen zunehmend erkennbar verschlechtern.

2.2 Sozialräumliche Folgen der Peripherisierung

Auch wenn bislang, bis auf ganz wenige Ausnahmen, kaum empirische Studien zu den sozialräumlichen Folgen von Peripherisierung vorliegen (Naumann/Reichert-Schick 2012; 2013), verweisen die Befunde doch auf benachteiligende Effekte ausgedünnter Infrastrukturen und damit auf sozial-räumliche Ungleichheit hinsichtlich der Teilhabechancen an gesellschaftlich relevanten und/oder subjektiv für wichtig erachteten Lebensbereichen (wie Erwerbstätigkeit, Bildung, Wohnen, Sicherheit, Gesundheit, soziales und kulturelles Leben etc.).

So ist beispielsweise die Gewährleistung von medizinischen Dienstleistungen (ärztliche und psychotherapeutische Versorgung, Krankenhaus der Grundversorgung, Altenpflege), die ausreichende Versorgung mit Schulen, Krippen und Kindergärten, Jugendarbeit, Jugendhilfe, Sicherheit und Rechtspflege, Telekommunikationsdiensten, Strom, Wasser, Verkehrswegen und öffentlichem Nahverkehr bis hin zur kirchlichen Versorgung abhängig von der Bevölkerungszahl im Einzugsbereich des jeweiligen Leistungsanbieters. Da bestimmte Maximaldistanzen nicht überschritten werden können und die meisten öffentlichen und privaten Dienstleister der Daseinsvorsorge fixkostenintensiv sind, impliziert eine geringe Bevölkerungsdichte, dass diese Gebiete tendenziell schlechter versorgt sind als Zentren. Hinzu kommen der Rückzug öffentlicher Strukturen aus der Fläche sowie eine Betrachtung ländlicher Räume mit städtischen Standards. Die Mitversorgung der peripheren ländlichen Räume von den urbanen Zentren aus scheitert häufig an der eingeschränkten Erreichbarkeit zentralisierter Dienstleistungen. Damit gerät die staatliche Verantwortung für „die Fläche“ als ein Kernelement des Sozialstaates (Art. 20 GG) in Verbindung mit der Forderung der Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“, wie diese im Übrigen auch durch den Gesetzgeber vorgegeben ist, unter Druck.Footnote 2

In der Anschauung sind marode Verkehrswege, leerstehende Gebäude, baulicher Verfall und brachliegende Standorte sichtbare Zeugnisse des Verfalls der Immobilienwerte und drohender örtlicher bzw. regionaler Entleerung. Von außen werden diese Regionen als „Abstiegs-Regionen“, als „Verlierer-Regionen“ und damit als „nicht lebenswert“ wahrgenommen. Das damit verbundene schlechte Image, ein beeinträchtigtes Lebensgefühl in Teilen der Bevölkerung und eine sinkende Bereitschaft, in diese Regionen zu ziehen, sind weitere Folgen. Darüber hinaus sind im Bereich der mentalen Folgen eine allgemein zunehmende Politikverdrossenheit und Demokratieskepsis sowie eine verstärkte Anfälligkeit insbesondere für rechtsextreme Gruppierungen und fremdenfeindliche Positionen in der „Residualbevölkerung“ zu beobachten. Dies trifft überwiegend für ostdeutsche periphere ländliche Räume (und generell für ökonomische Krisenregionen in Ostdeutschland) zu (vgl. u. a. Heitmeyer 2014; Zick/Klein 2014; Decker/Kiess/Brähler 2014).

2.3 Peripherisierung als Sicherheitsrisiko

Inwiefern stellen Peripherisierungsprozesse mit Bezug auf Sicherheit ein Problem dar?

Zu den gesicherten kriminologischen Erkenntnissen gehört, dass seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland – ähnlich wie in anderen Ländern – das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, in der Großstadt in etwa dreimal so hoch ist wie auf dem Land oder in kleineren Städten mit unter 20.000 Einwohnern. Daher wird Kriminalität, als eine der besonders bedeutsamen Sicherheitsgefährdungen, von der Bevölkerung und in der öffentlichen, politischen, aber auch wissenschaftlichen Debatte ganz überwiegend mit städtischen Problemen in Verbindung gebracht. Diesbezüglich dominiert das kulturelle Deutungsmuster der Großstadt als ein per se gefährlicher Raum („konstitutive Anonymität des Städtischen“). Demgegenüber werden ländliche und kleinstädtische Siedlungsräume eher als idyllisch, sicher, geordnet und sozialintegrativ („Integrationsmodus der Vergemeinschaftung“) eingeschätzt. Auf den ersten Blick – etwa im Hinblick auf die Polizeilichen Kriminalstatistiken – erscheint dieses Bild zunächst allgemein zutreffend. Sozialwissenschaftlich erweist sich das gezeichnete Bild allerdings nicht selten als eine Idealisierung des ländlichen und kleinstädtischen Lebens. Unter dieser idealisierten Verklärung gerät das soziale, ökonomische, politische und polizeilich-justizielle Alltagshandeln der jeweiligen Akteure in ländlichen Räumen leicht aus dem Blick.Footnote 3

In der „modernen“ Historie der empirisch orientierten kriminologischen Forschung wurde bereits früh wahrgenommen, dass die ungleiche Verteilung räumlicher Kriminalitätsraten nicht selten mit der Segregation sozialer Benachteiligungen verknüpft ist. Diese Beobachtung bildete u. a. den Ansatzpunkt für die Theorie der „sozialen Desorganisation“ der Chicago School der 1920er Jahre (Clifford R. Shaw und Henry D. McKay 1929; 1942), die eine bis heute bedeutende sozialökologisch und stadtsoziologisch orientierte Forschungstradition begründete. Neben drei strukturellen Merkmalen, ein geringer sozio-ökonomischer Status, eine große ethnische Heterogenität und eine hohe Wohnmobilität, beruht eine kriminalitätsfördernde Wirkung des Sozialraums – so die wesentliche Erkenntnis dieser Forschungsrichtung – auf zwei sozialen Mechanismen: Zum einen dem „Fehlen informeller Kontrollmechanismen“ und zum anderen der „subkulturellen Weitergabe devianter Werte und Verhaltensnormen“ (Oberwittler/Gerstner 2011, S. 6; Oberwittler 2013).

Hinsichtlich des Zusammenhangs von Raum und Kriminalität sind auch spezifische Gelegenheitsstrukturen für delinquentes Verhalten vor allem im Bereich der Eigentumskriminalität von großer Bedeutung. Insbesondere sind hierbei die Anziehungskraft von situativ günstigen Tatgelegenheiten sowie die Mobilität von Tätern wichtige Variablen. Diesbezüglich ist der sogenannte „Routine Activity“-Ansatz von Lawrence E. Cohen und Marcus Felson (1979) eine kriminologische Theorie, die ihren Fokus auf Gelegenheitsstrukturen und die damit verbundene Tätermobilität richtet. Sowohl die „Desorganisationstheorie“ als auch der „Routine Activity“-Ansatz und ihre jeweiligen Weiterentwicklungen werden als die beiden vorherrschenden räumlichen Kriminalitätstheorien bezeichnet (Smith u. a. 2000, S. 489).

Mit Blick auf die beschriebenen Verhältnisse peripherer ländlicher Räume sind diese theoretischen Ansätze in Teilen relevant. Allerdings ist die Desorganisationstheorie vor allem auf urbane Verhältnisse ausgerichtet und daher nur bedingt als Modell geeignet. Nach unserem Dafürhalten ist neben dem „Routine Activity“-Ansatz eine weitere theoretische Perspektive besonders relevant, die sowohl für die mentalen als auch mögliche sozial abweichende und delinquente Verhaltensweisen einen gleichermaßen erweiterten und integrierenden Erklärungsbeitrag leisten kann. Zum einen weil sie einen breiteren gesellschaftspolitischen Bezug aufweist, also nicht nur auf klassische Kriminalität abstellt, und zum andern, weil auch die Verschränkungen von gesellschaftlichen Entwicklungen und sich ändernden Anforderungen auf der Ebene unterschiedlicher Lebensverhältnisse thematisiert werden. Denn die mit Peripherisierung einhergehenden Prozesse auf der Makro-, Meso- und Mikroebene entsprechen recht genau denjenigen gesellschaftlichen und sozial-psychologischen Prozessen, wie sie in der „Desintegrationstheorie“ von Raimund Anhut und Wilhelm Heitmeyer (2002, 2005) beschriebenen werden, die als Erklärungsmodell für „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) im Rahmen der „GMF-Surveys“ des Bielefelder Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) zwischen 2002 und 2012 empirisch untersucht wurden.

Das Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ ist darauf ausgerichtet, Ausmaß, Entwicklung und Ursachen von feindseligen Mentalitäten in der Mehrheitsbevölkerung gegenüber schwachen Gruppen zu untersuchen. Dazu wird ein Syndrom herangezogen, in dem Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Abwertung von Homosexuellen, Behinderten, Obdachlosen, die Reklamierung von Etabliertenvorrechten und Sexismus enthalten sind. Es geht um Abwertung, Diskriminierung und Gewaltbereitschaft gegenüber schwachen Gruppen. Das gemeinsame Grundmuster hierfür stellt eine Ideologie der Ungleichwertigkeit dar. Die Grundthese ist, „dass mit dem Grad der Desintegrationserfahrungen und -ängste auch Ausmaß und Intensität der genannten Konflikte zu- und ihre Regelungsfähigkeit abnimmt. Der Desintegrationsansatz erklärt also Gewalt, Rechtsextremismus und die Abwertung und Abwehr ethnisch Anderer oder schwacher sozialer Gruppen mit ungenügenden Integrationsleistungen einer modernen Gesellschaft. Dabei wird kein direkter, deterministischer Zusammenhang auf der individuellen Ebene angenommen, sondern es sind milieuspezifische Brechungsfaktoren und Mobilisierungen dazwischen geschaltet“ (Anhut/Heitmeyer 2007, S. 55). Da die Desintegrationstheorie auch eine erhöhte Anomia auf der Individualebene postuliert, sind anomietheoretische Überlegungen dieser klassischen kriminologischen Theorietradition gut anschlussfähig, zumal die beschriebenen gesellschaftlichen Bedingungen und Prozesse in der Anomietheorie gleichfalls eine wichtige Rolle spielen. In der Anomietheorie von Robert K. Merton (1938; 1949; 1957) gibt die „Kultur“ allen Mitgliedern einer Gesellschaft die gleichen Erfolgsziele vor und zugleich differenziert die Gesellschaft die Zugangschancen zu den legitimen Möglichkeiten, Ziele zu erreichen, gruppenspezifisch (schichtabhängig). Hierdurch entsteht ein gruppenspezifischer „Druck“, der zu gruppenspezifischen Raten abweichenden Verhaltens führt.

Der Peripherisierungsdruck in ländlichen Räumen aufgrund der beschriebenen ökonomischen Strukturschwäche sowie der mangelnden technischen und sozialen Infrastrukturfähigkeiten – so unsere zentrale Hypothese – wird zusätzlich durch eine zunehmende Angleichung der Lebensstile und den damit verbundenen Erwartungen bei gleichzeitiger Differenzierung verschiedener Lebensentwürfe und wachsenden Mobilitätsanforderungen der Menschen in diesen Regionen verstärkt.

Neben den beschrieben Folgen einer erhöhten Abwanderung der jüngeren, gut gebildeten Menschen und einer damit einhergehenden ungünstigen demografischen Altersrelationsentwicklung ist daher auch – so unsere Implikationshypothese – von einer zunehmenden sozialen Desintegration und einem wachsenden anomischen Druck in der Residualbevölkerung auszugehen. Inwieweit sich dies – etwa dem Spektrum der Reaktionsmöglichkeiten Mertons folgend – in einer höheren Kriminalitätsneigung („Innovation“) oder in anderen Formen abweichenden Verhaltens bzw. in extremen politischen und sozialen Orientierungen und Handlungen („Rebellion“) oder in apathischer Gleichgültigkeit („Rückzug“) niederschlägt, ist die zentrale Forschungsfrage.

3 Beispiel: Der Landkreis Vorpommern-Greifswald

3.1 Ausgangslage

Der Landkreis Vorpommern-Greifswald (Lk VG) liegt im äußersten Nordosten der Bundesrepublik an der Grenze zu Polen. Im Rahmen der Kreisgebietsreform des Landes M-V im September 2011 wurde er aus den Altkreisen Ostvorpommern, Uecker-Randow, der zuvor kreisfreien Hansestadt Greifswald sowie den Amtsbereichen Peenetal-Loitz und Jarmen-Tutow des Altkreises Demmin gebildet. Die Gesamtfläche beträgt gut 3.927 km². Damit ist der Lk VG einer der ausgedehntesten Flächenkreise in ganz Deutschland (größer als das Saarland, Berlin und Bremen zusammen). Mit einer Bevölkerungsdichte von knapp 63 Einwohnern je km² gehört er zugleich zu den extrem dünn besiedelten Regionen Deutschlands. Er umfasst aktuell 154 politisch selbstständige Gemeinden mit einer mittleren Einwohnerzahl von 1.585 Einwohnern. Doch die meisten ländlichen Gemeinden haben deutlich weniger Einwohner. Kleine ländliche Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern sind die am häufigsten vertretene Gemeindegrößenklasse. Da die Kommunalverfassung des Landes eine amtsfreie Selbstverwaltung nur für Gemeinden ab 5.000 Einwohnern (bzw. 1.000 Einwohner in Tourismusräumen) vorsieht, können sich lediglich die Städte Greifswald, Anklam, Pasewalk, Ueckermünde und Strasburg (Uckermark) sowie die Gemeinde Heringsdorf auf der Insel Usedom selbstständig verwalten.Footnote 4 Alle anderen (amtsangehörigen) Gemeinden haben große Teile ihrer Verwaltungsaufgaben an die Ämter übertragen, was insgesamt zu einer fortschreitenden Externalisierung von Entscheidungsprozessen im ländlichen Raum beigetragen hat. An die Amtsfreiheit ist zudem die Hauptamtlichkeit der Gemeindeverwaltung geknüpft, wodurch eine wichtige Ressource für viele kommunale Aufgaben den meisten Gemeinden nicht zur Verfügung steht.

Diese strukturelle Benachteiligung ländlicher Gemeinden hat in Verbindung mit landesplanerischen Zentralisierungsvorgaben deutliche regionale Konzentrationsprozesse öffentlicher Infrastrukturen und Dienstleistungen verursacht. Rechtsverbindlich werden in den Raumentwicklungsprogrammen zentrale Orte ausgewiesen, die als Schwerpunkte der wirtschaftlichen Entwicklung, der Versorgung, der Siedlungsentwicklung, der sozialen und kulturellen Infrastruktur sowie als Verwaltungszentren vorrangig gesichert und ausgebaut werden sollen.Footnote 5 Da der zentralörtliche Status an Bevölkerungs- und Pendlerzahlen geknüpft ist, hat sich die Anzahl von zentralen Orten im Laufe der demographischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte verringert. Zusätzlich wird der Rückbau von Strukturen nach wie vor ausdrücklich auf die nicht zentralen Orte eingegrenzt, wodurch die Entwicklungsmöglichkeiten ländlicher Städte und Dörfer grundsätzlich eingeschränkt werden. Kreisweit gibt es insgesamt 17 zentrale Orte. Die übrigen Gemeinden, die immerhin knapp 37% der Bevölkerung umfassen, müssen im Hinblick auf die Ausstattung und Qualität von Infrastrukturen und Leistungen der Daseinsvorsorge meist hinter dem Angebot der Stadtregionen zurückbleiben.Footnote 6 Zusätzlich erschwert wird die Entwicklung der Gemeinden durch die vielerorts enorm angespannte finanzielle Haushaltslage. So erreichten im Jahr 2010 insgesamt nur 19 von 154 Gemeinden des Lk VG eine Steuereinnahmekraft, die mindestens dem Landesdurchschnitt von 490 EUR je Einwohner entsprach. Die übrigen Gemeinden lagen zum Großteil deutlich darunter. 45 Gemeinden erreichten sogar nur eine Steuereinnahmekraft von weniger als der Hälfte des Landesdurchschnitts. Auch hierbei zeigt sich, dass besonders ländliche Gemeinden außerhalb städtischer Einflussbereiche sowie suburbaner und touristischer Regionen betroffen sind. Vor diesem Hintergrund verbleiben den kleinen ländlichen Gemeinden nahezu keine Handlungsspielräume mehr, insbesondere im Rahmen freiwilliger Aufgaben wie etwa bei kulturellen und sozialen Angeboten.Footnote 7

Diese Situation wird durch den demografischen Wandel kleinräumlich differenziert zusätzlich verschärft. Seit der Wende hat der Lk VG einen starken Bevölkerungsrückgang von insgesamt 18,4% mit starken teilräumlichen Unterschieden erfahren. Während beispielsweise die Region Greifswald aufgrund von Stadt-Umland-Wanderungen und der städtischen Universitätszuzügler vergleichsweise stabile Entwicklungen hatte, haben die Landstädte des Altkreises Ostvorpommern (Wolgast, Anklam, Lassan) und entlang des Städtebandes Ueckermünde, Eggesin, Torgelow und Pasewalk sowie viele Gemeinden des dünn besiedelten ländlichen Raumes ohne starke Wirtschaftsbasis erhebliche Bevölkerungsverluste von bis zu 61,6% zu verkraften.Footnote 8

Im Hinblick auf die vorhanden Problemlagen wurden rd. 70% der Fläche des Lk VG im aktuellen Entwurf (Stand Juli 2014) zur Fortschreibung des geltenden Landesraumentwicklungsplan M-V (LEP M-V) von 2005 als ländliche Räume mit „besonderen demografischen Herausforderungen“ festgelegt.Footnote 9 „Ländliche Räume mit besonderen demografischen Herausforderungen“ definiert die Raumordnung dabei als Teilräume der ländlichen Räume, die hinsichtlich ihrer demografischen, ihrer Wohlstands- und Wirtschaftsentwicklung deutlich unterhalb der Entwicklung im Landesdurchschnitt liegen. Danach können größere Teilregionen im neuen Großkreis Vorpommern-Greifswald in vielerlei Hinsicht geradezu als prototypische Beispiele peripherisierter Räume gelten.Footnote 10

3.2 Indikator „klassische“ Kriminalität (Hellfeld)

Wie bereits ausgeführt, hat sich die kriminologische Forschung zum Zusammenhang von Raum und Kriminalität überwiegend auf urbane Räume konzentriert. Es liegen bislang keine empirischen Studien vor, die im Besonderen mögliche Einflüsse von Peripherisierungsprozessen in ländlichen Räumen auf Delinquenz und andere sicherheitsrelevante Verhaltensweisen, wie beispielsweise Sicherheitswahrnehmungen und Kriminalitätsfurcht der Bewohner und die von ihnen praktizierte informelle soziale Kontrolle, untersuchen.Footnote 11 Da eine Klärung dieser Fragestellung in einem zukünftigen Forschungsvorhaben unser zentrales Forschungsanliegen darstellt, können wir, in Ermangelung entsprechender Studien, an dieser Stelle allenfalls Hinweisen in den offiziellen Hellfelddaten der Polizeilichen Kriminalstatistiken (PKS) und einigen vorhandenen regionalen Dunkelfeldstudien nachgehen, die unsere Annahmen zu plausibilisieren vermögen.

Die Kriminalitätslage in Mecklenburg-Vorpommern wird durch die Grenzlage zur Republik Polen beeinflusst, dies trifft vor allem für den Lk VG in unmittelbarer Nachbarschaft zur polnischen Woiwodschaft Westpommern (województwo zachodniopomorskie) mit dem Zentrum Stettin (Szczecin) zu. Diesbezüglich muss grundsätzlich unterschieden werden zwischen Transit- oder Verbringungskriminalität, bei welcher Mecklenburg-Vorpommern in der Regel nicht Tatort ist,Footnote 12 sowie regionalen Kriminalitätsphänomenen mit M-V als Tatort, die – soweit registriert – in der Polizeilichen Kriminalstatistik M-V (PKS M-V) dokumentiert werden.Footnote 13

Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 2013 wurden im Lk VG insgesamt 18.003 Straftaten registriert. Die Aufklärungsquote (AQ) betrug 52,1%. Die Gesamtaufklärungsquote besagt allerdings wenig, da sie wesentlich durch die sehr unterschiedliche Aufklärungsquote bei einzelnen Delikten beeinflusst wird. Nehmen beispielsweise Delikte mit einer niedrigen Aufklärungsquote wie Fahrraddiebstal (AQ ca. 11%) oder Wohnungseinbruch (AQ ca. 26%, s. u.) stark zu, sinkt zwangsläufig die Gesamtaufklärungsquote.

Die Kriminalitätshäufigkeitszahl (HZ) war mit 7.523 Straftaten pro 100.000 Einwohner nahezu identisch mit dem Landesdurchschnitt (7.529) und entsprach nahezu dem Bundesdurchschnitt (7.404) (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Häufigkeitszahl (HZ) und Aufklärungsquote (AQ) im Landkreis Vorpommern-Greifswald nach amtsfreien Gemeinden (afG) und Ämtern (PKS M-V 2013)(Wir möchten uns an dieser Stelle beim Leiter der Polizeiinspektion Anklam, Herrn Polizeidirektor Gunnar Mächler und der Leiterin des Kriminalkommissariats Anklam, Polizeirätin Undine Segebarth, für die Überlassung der kleinräumlichen PKS-Daten für die Gemeinden des Lk VG bedanken, ebenso für ihre Teilnahme an der vorliegend dokumentiertenTagung und die zugesagte Unterstützung des hier vorgestellten Forschungsvorhabens.)

Aufgrund der vorliegenden polizeilichen Hellfelddaten kann – auch nach Einschätzung der regional zuständigen Polizeiführung – von einer vergleichsweise hohen Kriminalitätsbelastung im Lk VG gesprochen werden. Dies trifft insbesondere und in Verbindung mit Grenzkriminalität auf Straftaten zu, die in der Bevölkerung zu einer großen Verunsicherung führen und damit zu einer Beeinträchtigung des allgemeinen Sicherheitsgefühls beitragen. Betroffen sind vor allem die Insel Usedom und insbesondere die touristischen Hauptregionen und Orte. Hier kommt es in verschiedenen Ausprägungen zu Häufungen von Diebstahlshandlungen. Speziell Wohnungseinbruchsdiebstähle, Einbruchsdiebstähle in Hotels, Pensionen, aber vornehmlich Ferienwohnungen und Ferienhäusern, Ladendiebstahlsdelikte, Diebstähle aus Kraftfahrzeugen (Navi, Handtaschen, Wertgegenstände) sowie andere Diebstahlsdelikte (Fahrräder, Motorräder, Werkzeuge aus Firmen und von Baustellen, Dachrinnen, Wasseruhren, Bootsmotoren, Buntmetalle von Friedhöfen u. ä.) werden als problematisch angesehen. Die Kriminalitätsbelastung liegt hier nahezu doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt und deutlich über derjenigen in den beiden Großstädten Rostock und Schwerin. Bedeutsam für diese Kriminalitätslage sind neben der Grenzlage vor allem die attraktiven Kriminalitätsziele und Gelegenheitsstrukturen in den touristischen Regionen sowie die enormen Zuströme von Urlaubern. So wurden 2013 allein in den drei Kaiserbädern Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin bei einer Bevölkerungszahl von insg. rd. 8.900 ca. 480.000 Gästeankünfte und rd. 2,74 Millionen Übernachtungen gezählt.Footnote 14 Die Urlaubs-/Erholungs- und Erlebnisfunktion von Tourismusregionen sorgt – ähnlich wie größere Städte – für einen „Importüberschuss“ von Tätern und für eine erheblich höhere Fallbelastung, was sich in entsprechend hohen Werten bei der TVBZ und HZ niederschlägt.Footnote 15 Aber auch in den peripher gelegenen ländlichen Räumen des Lk VG sind vergleichsweise hohe Kriminalitätsbelastungen feststellbar. Insbesondere trifft dies für das Gebiet der amtsfreien Gemeinden Pasewalk, Strasburg (Uckermark) und Ueckermünde zu. Ähnlich den genannten Deliktsmerkmalen und -häufungen auf der Insel Usedom, sind zusätzlich auch landwirtschaftliche Gerätschaften und Werkzeuge sowie Landmaschinen (z. B. Traktoren) und Dieselkraftstoff von Diebstahlshandlungen betroffen. Die Gewaltkriminalität ist insgesamt seit mehreren Jahren auch im Lk VG rückläufig und spielt im Vergleich mit den Eigentums- und Vermögensdelikten quantitativ eine geringere Rolle. Allerdings sind in bestimmten Deliktsbereichen Fallzahlen vorhanden, die auf eine relativ größere Belastung im Vergleich mit den Landesgesamtwerten hindeuten.

Hinsichtlich der Kriminalitätsaufklärung wurden 2013 im Lk VG 6.599 Tatverdächtige ermittelt, davon 5.245 Erwachsene ab 21 Jahren (79,5%), 520 Heranwachsende (18 bis unter 21 Jahre = 7,9%), 576 Jugendliche (14 bis unter 18 Jahre = 8,7%) sowie 299 Kinder (4,5%). Der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen betrug 2013 im Lk VG 12,3%. Polnische Staatsangehörige begingen dabei 7% aller aufgeklärten Straftaten. Allerdings ist die Validität der statistischen Angaben zur nationalen Herkunft der Täter durch die zum Teil geringen Aufklärungsquoten eingeschränkt. Hinzu kommt, dass grenzüberschreitende Kriminalität nichtdeutscher Tatverdächtiger nach polizeilicher Einschätzung erfahrungsgemäß schwieriger und damit seltener aufzuklären ist. Darüber hinaus fehlen für Mecklenburg-Vorpommern kleinräumliche Analysen zur Täter-Tatort-Wohnort-Beziehung und Tätermobilität. Vor allem die Definition der Tatverdächtigenbelastungsziffer (TVBZ) als Rate der Tatverdächtigen, gemessen am Tatort, jedoch bezogen auf die Wohnbevölkerung, führt zu schwerwiegenden Interpretationsproblemen (vgl. Oberwittler/Gerstner 2011; Gerstner/Oberwittler 2011). Aufgrund dieser Probleme und aus Raumgründen wird hier auf eine Darstellung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für den Lk VG verzichtet. Eine entsprechende kleinräumliche Analyse der Tatort-Wohnort-Beziehung und der Tätermobilität wäre allerdings im Rahmen des hier vorgestellten Forschungsvorhabens eine notwendige Teilfragestellung.

3.3 Indikator „klassische“ Kriminalität (Dunkelfeld)

Nur ein Teil der Gesamtmenge von Begebenheiten, die Personen (Opfer oder Tatzeugen) wahrnehmen und als „kriminell“ bewerten, wird den zuständigen Instanzen gemeldet bzw. bekannt (Hellfeld). Auch aus Sicht der Polizei verbleibt der größte Teil im Dunkelfeld. Die Anzeigewahrscheinlichkeit spielt hier eine besondere Rolle. Sie variiert höchst unterschiedlich nach der Kriminalitätsart und Deliktsschwere, nach Täter- und Opfermerkmalen, nach Täter-Opfer-Beziehungen, nach der Einschätzung polizeilicher Aufklärungswahrscheinlichkeit usw. Mit sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen und Bewertungen unterliegt sie überdies dem Wandel. Registrierte Kriminalität im Hellfeld ist deshalb kein repräsentativer Ausschnitt aus der Gesamtmenge aller gegen Strafrechtsnormen verstoßenden Handlungen. Die amtlichen Statistiken geben daher weder den Umfang noch die Struktur noch die differenzielle Betroffenheit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen adäquat wieder. Entsprechendes gilt hinsichtlich der Kriminalitätsentwicklung. Ohne weitere Informationen, insbesondere aus Dunkelfeldforschungen, bleibt unbestimmt, ob die Angaben der amtlichen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken die Entwicklung der Kriminalitätswirklichkeit adäquat widerspiegeln oder ob sie lediglich die Folge einer Verschiebung der Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld sind.Footnote 16 Mit Blick auf unser Beispiel Lk VG und auch hinsichtlich anderer peripherer ländlicher Regionen liegen bislang keine Dunkelfeldstudien vor, die das Bild der „klassischen“ Kriminalität im Hellfeld ergänzen könnten.

Allerdings hat der Lehrstuhl für Kriminologie in Kooperation mit dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in Greifswald und auf der Insel Usedom Schülerbefragungen in den Jahren 1997/98, 2001/2 und 2005/6 durchgeführt, in denen u. a. auch die Opfer- und Tätererfahrungen erfragt wurden.Footnote 17 Auch wenn die Fragestellung dieser Erhebungen sich nicht auf Peripherisierungsprozesse in ländlichen Räumen als mögliche Einflussgröße für abweichende und delinquente Verhaltensweisen beziehen und die beiden Erhebungsgebiete, Greifswald und Insel Usedom, nur eine Teilmenge des neuen Lk VG ausmachen, ergeben sich doch für den Bereich der Jugendkriminalität einige Hinweise auf die Delinquenzbelastung und die Hell-Dunkelfeld-Relation im Bereich der Jugendgewalt. Grundgesamtheit dieser Trendstudie waren alle Schüler der 9. Jahrgangsstufe an öffentlichen Schulen in staatlicher Trägerschaft. Insgesamt konnten 3.721 Jugendliche befragt werden. In allen Erhebungen wurde eine Netto-Ausschöpfungsrate von jeweils über 80% realisiert (vgl. ausführlich Dünkel/Gebauer/Geng 2008). Aus Raumgründen beschränken wir uns hier überwiegend auf die Täterperspektive, also die selbstberichtete Delinquenz. Die Opferbelastungen im Bereich der aktiven Jugendkriminalität ergaben ein recht ähnliches Bild. Bzgl. der Entstehungsbedingungen, insbesondere bei Aggressionsdelikten, sind Viktimisierungserfahrungen – z. B. erlebte innerfamiliäre Gewalt in der Kindheit – aufschlussreicher. Für das Anzeigeverhalten und die sich daraus ergebenden Hell-Dunkelfeld-Relationen, sind beides, Opfererfahrungen und Delinquenz, in zeitlich vergleichbaren Bezugsintervallen bedeutsam.

Wie Abb. 2 zeigt, ist der überwiegende Teil der aktiven Jugendkriminalität und Devianz von ubiquitärem Bagatellcharakter: Beförderungserschleichung, Raubkopieren, Ladendiebstahl, Fahren ohne Führerschein, Schulschwänzen und ähnliche Formen der Delinquenz bzw. abweichenden Verhaltens dominieren ganz eindeutig. Interessant ist allerdings, dass die Usedomer Jugendlichen im Vergleich mit ihrer städtischen Altersgruppe in Greifswald insgesamt etwas stärker belastet waren und sich hierbei bzgl. der Gelegenheitsstrukturen und Mobilitätserfordernisse ein signifikanter räumlicher Stadt-Land-Unterschied darstellte.

Abb. 2
figure 2

Jahresprävalenzraten bei selbstberichteter Delinquenz und deviantem Verhalten von Jugendlichen auf der Insel Usedom und in Greifswald 2006

So beruhte die größere Delinquenzneigung der Usedomer Jugendlichen fast ausschließlich auf einer höheren Prävalenz bei der Beförderungserschleichung und dem Fahren ohne Führerschein. Also Delikten, denen ein (jugendspezifisches) Mobilitätsbedürfnis zugrunde liegt, das sich für Jugendliche im ländlichen Raum aufgrund der größeren Distanzen nicht selten als eine besondere (strukturelle und auch finanzielle) Problemlage (Besuch von Freunden, Discos oder anderen Veranstaltungen am Spätnachmittag oder Abend) darstellt. „Schwarzfahren“ im übergreifenden Sinne (Beförderungserschleichung mit Bus/Bahn, aber auch das Fahren von Moped, Motorrad oder gar KFZ ohne Fahrerlaubnis) stellt daher für diese Jugendlichen nicht selten ein „probates Mittel“ bzw. eine „alternative Möglichkeit“ dar. Aufgrund der geringeren räumlichen Distanzen in den größeren Städten (wie z. B. Greifswald, Wolgast oder Anklam) und den dort vorhandenen attraktiven Gelegenheitsstrukturen (in Form von größeren Kaufhäusern, Supermärkten etc.) in Verbindung mit einem höheren Anonymitätsgrad und teilweise geringerer Kontrolldichte, sind diesbezüglich Laden- und Fahrraddiebstähle von Jugendlichen vergleichsweise häufiger.

Bei den schwerwiegenderen Gewaltdelikten zeigten sich im Vergleich mit den Schülerbefragungen des KFN in anderen west- und ostdeutschen Regionen teilweise erstaunliche Befunde (vgl. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Jahresprävalenzraten bei selbstberichteter Gewaltdelinquenz von Jugendlichen auf der Insel Usedom und in Greifswald 2006 im Vergleich mit Ergebnissen der KFN-Schülerbefragungen 2005

So ergaben sich für Usedom und Greifswald zunächst im Vergleich mit den westdeutschen Regionen nahezu übereinstimmende Verhältnisse. Sowohl die Jahresprävalenzrate als auch die Mehrfachtäterrate entsprechen – mit einer jeweils sehr geringen Abweichung nach oben bzw. für Usedom bzgl. der Mehrfachtäterrate nach unten – den Gewalttäterraten aller in den Vergleich einbezogenen Städte und Landkreise. Damit lagen die Gewalttäterraten der Greifswalder und Usedomer Jugendlichen auf vergleichbarem Niveau mit Jugendlichen aus westdeutschen Großstädten wie München, Dortmund und Stuttgart. Im Vergleich zur ostdeutschen Erhebung ist die insgesamt geringere Gewalttäterbelastung der Thüringer Jugendlichen besonders augenfällig. Auch aus dieser Perspektive erscheint die aktive Jugendgewalt unter den Usedomer und Greifswalder Jugendlichen erhöht. Das in der Kriminologie seit deren Anfängen überlieferte Stadt-Land-Gefälle wird für den Bereich der Gewaltdelikte insoweit nicht bestätigt. Kleinstädtische (Greifswald) und ländliche Räume (Usedom) sind nicht weniger belastet als großstädtische Zentren wie Rostock, Dortmund, München oder Stuttgart (vgl. Abb. 3).

Hinsichtlich der Hellfeld-Dunkelfeld-Beziehung ergaben unsere Analysen des Anzeigeverhaltens in Verbindung mit den physischen und materiellen Opferfolgen, dass sich vor allem im Bereich der minderschweren Gewaltviktimisierungen eine veränderte Sensibilisierung in der Bewertung der erlebten Viktimisierungen und deren Folgen ergeben hat, die sich in entsprechend höheren Anzeigeraten bei bagatellhaften Gewaltviktimisierungen niederschlägt. Dieser Befund deckt sich mit Ergebnissen anderer Dunkelfeldstudien. D. h., einerseits ist Jugendgewalt heute sehr viel stärker durch bagatellhafte Gewaltformen gekennzeichnet und andererseits gelangt mehr dieser minderschweren Gewalt in das Hellfeld. Mit einem Anteil von etwa drei Vierteln stellen diese typischen Formen der Jugendgewalt innerhalb des Dunkelfeldes einen Großteil der Gewaltdelinquenz dar. Eine dementsprechend größere Aufhellung dieser leichten jugendtypischen Gewaltdelikte im Dunkelfeld ist damit für einen nicht unerheblichen Teil des Anstieges der Jugendgewalt in der polizeilichen Hellfeldstatistik mitursächlich.Footnote 18

Inwieweit allerdings ein eigenständiger Peripherisierungseffekt für die Delinquenzneigung verschiedener Bevölkerungsgruppen in davon betroffenen ländlichen Räumen im Vergleich mit ländlichen Räumen, die davon wenig oder kaum betroffen sind, auch im Dunkelfeld vorhanden ist, bleibt die spannende Forschungsfrage.

3.4 Indikator Fremdenfeindlichkeit/Rechtsextremismus, „politisch motivierte Kriminalität“

Diesbezüglich sehr viel stärkere Hinweise, die mit dem Desintegrationstheorem im Einklang stehen, finden sich im Bereich rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen und entsprechend motivierter Straftaten.

Seit der Wende gehört Mecklenburg-Vorpommern zu den rechtsextremen Hochburgen in Deutschland. Insbesondere steht hierbei die NPD im Zentrum der rechtsextremistischen Bestrebungen und ihrer Agitation im „Kampf um die Straße, die Köpfe, die Parlamente und den organisierten Willen“. Unabhängig von der politischen Orientierung ist bekannt, dass extreme Positionen einen Resonanzboden benötigen, um überhaupt Gehör, Anhänger und schließlich Aktivisten zu finden.

Es überrascht daher kaum, wenn die beschriebenen Verhältnisse in den von Peripherisierung betroffenen ländlichen Räumen einen solchen Resonanzboden bilden, dessen prekäre Grundstimmung gezielt von rechtsextremen Gruppierungen und Parteien (insbesondere der NPD) aufgegriffen und für ihre Agitation genutzt wird.

So ist die NPD bei den jüngsten Landtagswahlen erneut in zwei Bundesländern in ein Landesparlament eingezogen. In Sachsen schaffte es die NPD 2004 (9,2%) und 2009 (5,6%) über die Fünfprozenthürde, in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2006 (7,3%) und 2011 (6,0%) ebenfalls wieder in Folge. Grundlage der NPD-Wahlerfolge waren dabei die besonders hohen Stimmenanteile in ländlichen Regionen. Ein besonders ausgeprägtes Bild ergibt sich hierbei auf der regionalen Ebene beispielsweise bei den letzten Kreistagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, die zeitgleich mit den Landtagswahlen am 4.9.2011 aufgrund der Kreisgebietsreform stattfanden. In den nunmehr insgesamt sechs Landkreisen konnte die NPD 23 Mandate erringen, hinzukommen drei Mandate aus Schwerin (1 Mandat) und Rostock (2 Mandate), ferner 34 NPD-Mandatsträger in den Gemeindevertretungen aus den Kommunalwahlen von 2009 (z. B. Anklam, Uecker-Randow oder Stralsund), die nicht neu gewählt wurden. Vor allem in den ländlichen Räumen in den östlichen Landesteilen hat die NPD dabei besonders hohe zweistellige Stimmenanteile erzielt.

Vergleicht man am Beispiel Mecklenburg-Vorpommern die Indikatoren Bevölkerungszahl und Steuereinnahmekraft als Grobindikatoren für bevölkerungsarme und strukturschwache ländliche Regionen mit den NPD-Stimmenanteilen in den Gemeinden bei den letzten Kreistagswahlen 2011, so zeigt sich eine beachtliche Korrespondenz auf kommunaler Ebene vor allem in den Gemeinden des an der Grenze zu Polen gelegenen neuen Großkreises Vorpommern-Greifswald (vgl. Abb. 4).Footnote 19

Abb. 4
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NPD-Stimmenanteile auf Gemeindeebene bei den Kreistagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern am 4.9.2011 (Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich für die letzte Bundestagswahl am 22. September 2013, auch wenn traditionell bei Bundestagswahlen im Unterschied zu Landtags- und Kommunalwahlen, die Präferenzen für extreme Parteien geringer ausfallen. Gleichwohl erzielte die NPD bei dieser Bundestagswahl, im Wahlkreis 16 (Vorpommern-Greifswald II) mit 4,6% der Zweitstimmen und – interessanter – mit 5,8% der Erststimmen ihr bestes Wahlergebnis in ganz M-V. Und dies unter dem Umstand der erstmals konkurrierend angetreten AfD, die gleichfalls aus dem Stand nur über ihre Liste die höchsten Zweitstimmenanteile von 6,0 bzw. 6,6% in den beiden östlichsten Wahlkreisen 16 und 15 errang. Wiederum erzielte die NPD in den kleinen peripheren ländlichen Gemeinden zweistellige Wahlergebnisse. Mit einer Ausnahme (Groß Krams/Ludwigslust-Parchim, dem Wohnort des JN Bundesvorstandsmitglieds Sebastian Richter) liegen diese Gemeinden allesamt im Lk VG.

Für die vielfältige Szene der nicht parteigebunden rechtsextremen Subkulturen, Kameradschaften und Neonazi-Gruppen, die überwiegend in kleineren lokalen Strukturen organisiert sind, ist die Bedeutung und der Einfluss der NPD beträchtlich. Insbesondere für den Lk VG kann als gesichert gelten, dass die NPD nicht nur das öffentliche Erscheinungsbild, sondern auch die Agenda der rechtsextremen Szene weitgehend bestimmt und diese für ihre Zwecke instrumentalisiert. Bedeutsam für unser Thema ist hierbei, dass das Spektrum der rechtsextremen Subkultur und Neonazis für den Großteil der rechtsextremistisch motivierten Straftaten, insbesondere auch Gewalttaten, verantwortlich ist.

Nach dem Verfassungsschutzbericht M-V für 2013 werden rd. die Hälfte des mit 1.400 Personen (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften) angegeben rechtsextremen Personenpotentials in Mecklenburg-Vorpommern als gewaltbereite Rechtsextremisten eingestuft. Regionaler Schwerpunkt bei rechtsextremen Straftaten sind wiederum die östlichen Landesteile.

Allerdings sollten die amtlichen Statistiken mit kritischem Vorbehalt interpretiert werden. Insbesondere bei rechtsextremistisch motivierten Straftaten (PMK-„Rechts“) scheinen die offiziellen Angaben weit niedriger zu liegen als die Zahlen aus anderen Recherchequellen.Footnote 20 Darüber hinaus sind sich alle Experten einig, dass von einem großen Dunkelfeld im Bereich rechtsextremer Straftaten auszugehen ist.

In unseren Greifswalder und Usedomer Schülerbefragungen 1997 bis 2006, hatten wir erhebliche Akzeptanzraten hinsichtlich der Verbreitung von fremdenfeindlichen und rechtsextremen Einstellungen unter den befragten Jugendlichen festgestellt. Noch in der letzten Erhebung 2006 äußerte sich jeder dritte Usedomer und Greifswalder Jugendliche tendenziell zustimmend gegenüber fremdenfeindlichen und rechtsextremen Aussagen (Usedom: 39,4%, Greifswald 37,1%), etwa jeder siebte bis achte Jugendliche verfügte diesbezüglich über ein extrem ausgeprägtes Einstellungsmuster (Usedom: 12,3%, Greifswald: 13,8%). Ferner stimmten rund 12% der Jugendlichen auf der Insel Usedom und rd. 10% in Greifswald gewaltaffinen Einstellungen in der Verknüpfung mit fremdenfeindlichen/rechtsextremen Orientierungen zu. Diese Akzeptanzwerte liegen im Vergleich mit anderen herangezogenen repräsentativen regionalen Untersuchungen in westdeutschen Städten und Landkreisen – je nach Operationalisierung der verwendeten Skalen – um das 2,3- bis 3-fache höher (vgl. ausführlich Dünkel/Geng 2014; Dünkel/Gebauer/Geng 2008).

In der Zusammenschau lassen sich im Bereich der fremdenfeindlichen und rechtsextremistischen Einstellungen sehr starke Indizien dafür finden, dass ein erhöhtes Vorkommen von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus unter der Bevölkerung in ländlichen Räumen eng mit Peripherisierungsprozessen verknüpft ist. In der Folge sind fremdenfeindlich oder rechtsextremistisch motivierte Übergriffe und Straftaten wahrscheinlicher. Allerdings fehlen auch hier Studien, die diese Zusammenhänge und Annahmen empirisch hinreichend aufklären.

4 Fazit und Ausblick

Zum Zusammenhang von Peripherisierungsprozessen in ländlichen Räumen und ihren möglichen kriminologisch relevanten Folgeerscheinungen besteht nach unserer Einschätzung ein erhebliches Forschungsdesiderat.

Ausgehend von der Beschreibung peripherer ländlicher Räume mit ihren infrastrukturellen, ökonomischen, sozialen und demografischen Problemlagen, haben wir Peripherisierung als einen sich wechselseitig verstärkenden Prozess charakterisiert. In der Folge führt dies bei der davon betroffenen Bevölkerung zu einer Limitierung von Lebenschancen und zu einer stärkeren Verunsicherung hinsichtlich der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensumstände. Ergänzend hierzu haben wir die These formuliert, dass sich der Peripherisierungsdruck durch eine zunehmende Angleichung der Lebensstile und den damit verbundenen Erwartungen einerseits, bei gleichzeitiger Differenzierung verschiedener Lebensentwürfe und wachsenden Mobilitätsanforderungen andererseits verstärkt.

In diesem Prozess sind soziale Integrations- und Desintegrationserfahrungen miteinander verschränkt, wie sie von Heitmeyer und Anhut in ihrer Desintegrationstheorie beschrieben wurden. Diesbezüglich lassen sich Faktoren auf der Makro-Ebene (kontextuelle Strukturen und Bedingungen von regionalen Disparitäten und Peripherisierung), der Meso-Ebene (z. B. Beziehungen zwischen Gruppen) und der Mikro-Ebene (u. a. individuelle Bedürfnislagen und Präferenzen, generalisierte Ideologien und Werthaltungen) identifizieren, die beispielsweise mit „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ verknüpft sind. Auf der individuellen Ebene gehen wir von einem ansteigenden „anomischen Druck“ aus, der sich in unterschiedlichen Reaktionsformen manifestiert, wie diese neben Heitmeyer bereits prominent von Merton beschrieben wurden. D. h. wir erwarten neben dem Anstieg von problematischen, die zivilgesellschaftlichen Grundlagen gefährdenden Einstellungen und Haltungen auch eine erhöhte Belastung im Bereich strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen. Damit einhergehend postulieren wir eine Erosion „traditioneller“ Sicherheitsmentalitäten und der damit verbundenen informellen Kontrolle in der Bevölkerung peripherer ländlicher Räume.

Am Beispiel des Lk VG, in dem größere Teilgebiete anhand verschiedener Indikatoren geradezu in prototypischer Weise periphere ländliche Räume repräsentieren, haben wir nach Indizien und Belegen für die beschriebenen Zusammenhänge und Annahmen gesucht. Die stärksten Indizien für einen desintegrationstheoretischen Zusammenhang von Peripherisierung, ländlicher Raum und mentalen Folgen, haben wir im Bereich fremdenfeindlicher und rechtsextremer Einstellungen und Orientierungen vorgefunden, die dem Syndrom gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zuzurechnen sind. In diesem Bereich finden sich auch Hinweise dafür, dass sich diese Haltungen nicht nur in einem entsprechenden Wahlverhalten äußern. Insbesondere für sozial benachteiligte jüngere Personen mit geringen Ressourcen vermuten wir in peripheren ländlichen Räumen eine stärkere Attraktion rechtsextremer Subkulturen und Gruppen, die in aller Regel nicht folgenlos bleibt. Auch im Bereich der klassischen Kriminalität haben wir Hinweise dafür gefunden, dass sich mit Blick auf die Delinquenzneigung verschiedener Bevölkerungsgruppen das vorhandene Stadt-Land-Gefälle zuungunsten der ländlichen Bevölkerung nicht unerheblich relativiert. Inwieweit hierfür das Ausmaß von Peripherisierung einen eigenständigen Erklärungsbeitrag liefert, wäre unserer These entsprechend empirisch zu untersuchen.

Mit Blick auf die vorhandenen Forschungsdesiderata plant der Lehrstuhl Kriminologie in Kooperation mit anderen Wissenschaftler/innen des Greifswalder Forschungskonsortiums „Ländliche Räume“ ein Forschungsvorhaben zu den hier skizzierten Fragestellungen und Hypothesen. Um die Effekte von Peripherisierungsprozessen zu identifizieren ist methodisch ein Mehrebenmodell erforderlich, indem die relevanten Faktoren auf der Makro-, Meso- und Mikroebene erfasst werden. Im Zentrum der Studie sollte ein repräsentativer Haushaltssurvey stehen, der nach Möglichkeit ein Paneldesign mit mindestens drei Erhebungszeitpunkten im Zweijahresrhythmus aufweisen sollte, um der Veränderung von Kontext-, Individual- und Interaktionseffekten Rechnung tragen zu können.

Der Survey sollte aus inhaltlichen und ökonomischen Gründen auf das Territorium des Lk Vorpommern-Greifswald als Grundgesamtheit eingegrenzt werden. Die Varianz des Faktors Peripherisierung erscheint ausreichend groß. Kleinster räumlicher Kontext sollte die Gemeindeebene sein. Die Anzahl von mindestens 70, besser 100 Gemeinden ist ausreichend um Multi-Level-Modelle mit Längsschnitt-(Panel-)Daten empirisch spezifizieren zu können. Auf der Ebene der befragten Personen sollten mit Blick auf die Panelmortalität mindestens 50 Personen/Haushalte befragt werden. Die Analyseeinheiten, Gemeinden und Personen/Haushalte, sollten mittels einer zweistufigen Zufallsauswahl generiert werden.

Mit dem Haushaltssurvey sollen die sozio-demografischen Ressourcen, die „realen“ Lebensumstände und die erforderlichen Aktivitäten und Abhängigkeiten zur Sicherung der Lebensführung auch hinsichtlich der technischen und sozialen Infrastrukturgegebenheiten der räumlichen Wohnortlage erfasst werden.

Soziale Desintegration wird primär über die subjektiven Präferenzen, die Einschätzung von Teilhabechancen und Aspirationen (relative Deprivationslagen) entlang der zentralen Lebensbereiche (wie z. B. Bildung/Ausbildung, Beruf/Arbeit, Gesundheit, Freizeit, Kultur, Sicherheit) erfasst. Kriminologisch einschlägig sind beispielsweise Viktimisierungs- und Delinquenzerfahrungen, die Einbindung in soziale Netzwerke, Bewertungen der persönlichen und öffentlichen Sicherheitslage und der dafür zuständigen Instanzen, ferner Wertorientierungen und Einstellungen hinsichtlich der GMF-Dimensionen sowie die subjektive Wahrnehmung politisch Einfluss nehmen zu können, um nicht nur Entfremdung, sondern auch mögliche zivilgesellschaftliche Potenziale in peripheren ländlichen Räumen zu identifizieren.

Neben der Erfassung sozialräumlicher Kontextmerkmale (Arbeitsmarkt- und Sozialhilfeindizes, Finanzausstattung der Gemeinden, Indikatoren der sozialen und technischen Infrastruktur, Kriminalitätsbelastungsindizes etc.) sollte der „Basissurvey“ konzeptionell mit Erhebungen bei öffentlichen und freien Trägern sowie privaten Dienstleistern ergänzt werden, die für die technische und soziale Infrastrukturversorgung der ländlichen Bevölkerung von zentraler Bedeutung sind. Die Studienbefunde würden damit nicht nur auf eine breitere Analyse- und Interpretationsbasis gestellt, sondern es wäre damit auch eine Möglichkeit vorhanden mit den relevanten Dienstleistern etwa hinsichtlich der praktischen Implikationen in einen die Studie begleitenden Dialog zu treten.

Des Weiteren wäre eine kleinräumliche Analyse der PKS-Daten auf der Gemeindeebene hinsichtlich der Tatort-Wohnort-Beziehung in Verbindung mit den erfassten Kontextmerkmalen angebracht, um einerseits die Belastung der Wohnortbevölkerung mit den Daten aus der Bevölkerungsstudie abgleichen und anderseits die Kontexteffekte für die registrierte Kriminalität nach unterschiedlichen Delikts- und Bevölkerungsgruppen bestimmen zu können.