Skip to main content

Technik, Aufmerksamkeit und Emotion

Zur pädagogischen Diskussion um den Film in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert

  • Chapter
  • First Online:
Pädagogische Anthropologie der Technik
  • 2117 Accesses

Zusammenfassung

François Truffauts Film „Der Wolfsjunge“ (1969) setzt Itards Bericht (1801/07) über seinen Versuch mit dem „wilden Kind von Aveyron“ detailliert in Bilder. Das Kind wurde im Jahr 1800 in Südfrankreich entdeckt und vom berühmten Psychiater Pinel als „Idiot“, d. h. als nicht bildsam diagnostiziert. Itard versuchte dieses Kind, das er später „Victor“ nannte, zu erziehen. Sein Bericht stellt einen folgenreichen Quellentext der Heilpädagogik und zugleich eine Urszene der Entdeckung der Bildsamkeit des Menschen dar.

Der vorliegende Text ist eine modifizierte Fassung, die ursprünglich auf Japanisch erschien ist: Imai, Y. (2013). Chûi. Kyôikuteki Kainyû o kôshin saseru Kyoshôten (Aufmerksamkeit. Der virtuelle Fokus, der die pädagogische Einwirkung potenziert). In: H. Morita, & N. Morita (Hrsg.) (2013), Kyôikushisôshi de yomu Gendaikyôiku (Aktuelle Lage der Bildung von Perspektiven ihrer Ideengeschichte) (S. 330–357). Tokyo.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 54.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 69.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Auch im Umfeld der Pädagogik wird das Thema „Aufmerksamkeit“ zunehmend mit Interesse bedacht. Im Bereich der Kognitions- und Entwicklungspsychologie wird seit der Mitte der 1970er Jahre die „gemeinsame Aufmerksamkeit (joint attention)“ als ein entscheidender Faktor für die frühkindliche Entwicklung untersucht. (vgl. Tomasello 1999). Im Bereich der Wahrnehmungspsychologie wird neuerdings die „selektive Aufmerksamkeit (selective attention)“ als Berührungsfläche zwischen dem Geist und der Welt thematisiert (vgl. Pylyshyn 2011). Eine traditionsreiche Fachzeitschrift Perception and Psychophysics wurde 2009, in ihrem 50. Jahrgang, zu Attention, Perception, and Psychophysics umbenannt (vgl. Hagendorf et al. 2011). Hieraus wird ersichtlich, wie sich Aufmerksamkeit in diesem Bereich zu einem gewichtigen Themenkreis entwickelt.

  2. 2.

    Ein Versuchsapparat, der einer Versuchsperson für eine sehr kurze Zeit (bis 1/1000 s) visuelle Reize darbieten kann.

  3. 3.

    Diese Konsequenz war kein Zufall. Nach Crary handelt es sich „bei der modernen Zerstreuung […] um einen Effekt und in vielen Fällen auch einen konstituierenden Bestandteil der zahlreichen Versuche, bei menschlichen Subjekten Aufmerksamkeit zu produzieren“ (Crary 2002, S. 47).

  4. 4.

    Im Kapitel „The Development of Attention“ stellt Dewey fest: „the child has a question of his own, and is actively engaged in seeking and selecting relevant material with which to answer it, considering the bearings and relations of this material – the kind of solution it calls for. The problem is one’s own; hence also the impetus, the stimulus to attention, is one’s own – it is discipline, or gain in power of control; that is, a habit of considering problems“ (Dewey 1976, S. 103).

  5. 5.

    Der Bericht formuliert wie folgt: „Da zur Zeit viele kinematographische Bilder (lebende Photographien) in ihrer Ausführung mangelhaft sind, das Hässliche, Verbildende und sittlich Gefährdende in ihnen überwiegt und viele Theaterräume billigen Anforderungen der Hygiene nicht genügen, halten wir den Besuch der Theater lebender Photographien für Kinder für gefährlich. Dem Besuch von Vorführungen dieser Art hat die Schule erziehlich entgegenzuwirken. Technisch und inhaltlich einwandfreie kinematographische Darstellungen können dagegen ein ausgezeichnetes Mittel der Belehrung und Unterhaltung sein“ (Dannmeyer 1907, S. 38 f.).

  6. 6.

    Nach Hermann Häfker, einem der bedeutendsten „Kinoreformer“, ist die „Wesensaufgabe“ des Films folgende: „der durch Menschenhand und -nerv möglichst wenig gefälschten, möglichst wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe von natürlichen Bewegungen, auf Grund ihrer chemisch-automatischen Selbstaufzeichnung“ zur Geltung zu verhelfen (Häfker 1913, S. 12).

  7. 7.

    Herwig konstatiert die negativen Wirkungen des Films wie folgt: „Das Vielerei, das das Kino bietet, die schnell vorbeiziehenden, schroff einander abwechselnden verschiedenartigsten Eindrücke […] kann [...] bewirken, dass häufigen Besucher kinematographischer Vorführungen, ganz besonders natürlich, wenn sie noch in jugendlichen Alter stehen, bis zu einem gewissen Grade unfähig werden, auch außerhalb des Kinos ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Gegenstände zu konzentrieren, dass sie beim Unterricht oder bei der Arbeit unaufmerksam werden, dass ihr Urteilsvermögen geschwächt wird und dass einer Neigung zur Oberflächlichkeit in recht beträchtlichem Maße Vorschub geleistet wird“ (Hellwig 1914, S. 66).

  8. 8.

    In den 1920er Jahren waren die praktischen Bedingungen des Filmeinsatzes nicht wesentlich besser als in den 1910er Jahren. Wegen den technischen und finanziellen Einschränkungen war es für die einzelne Schule noch schwierig, über Vorführungsmöglichkeiten zu verfügen. Lehrer*innen waren manchmal auf die Kinotheater angewiesen. Praktische Bedingungen des Schul- und Unterrichtsfilms kamen erst in den 1930er Jahren zustande, als der Schmal- und der schwer brennbare Film entwickelt wurden und dann das NS-Regime für den pädagogischen Filmeinsatz großzügige finanzielle Unterstützung leistete. Die filmpädagogische Diskussion der 1920er Jahre ist wegen ihrer theoretisch experimentierenden Reflexion bemerkenswert.

  9. 9.

    Denn: „Das wahre Augenmaß der Berechtigung solcher (filmkritischer) Einwände aber, desgleichen der angemessene Umkreis einer Verwendung des Films in der Schule können erst im Rahmen einer ausgebauten Didaktik des Schulfilms ersichtlich werden“ (Meister 1925, S. 722).

Literatur

  • Altenloh, E. (1914). Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher. Jena: Diederichs.

    Google Scholar 

  • Belstler, H. (1923). Filmunterricht. In: Der Bildwart, 1 (2), 70–75.

    Google Scholar 

  • Belstler, H. (1924). Eisen. Unterrichtlicher Versuch einer Sinngebung durch den Film. In: Der Bildwart, 2 (1/2), 14–18.

    Google Scholar 

  • Brunner, F. (1923). Inwieweit läßt sich der Unterrichtsfilm in den Volksschul-Unterricht einbauen? In: Der Bildwart, 1 (1), 25–28.

    Google Scholar 

  • Crary, J. (2002). Aufmerksamkeit: Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

  • Dannmeyer, C.H. (1907). Bericht der Kommission für „Lebende Photographie“. Hamburg: Hermann Kampen.

    Google Scholar 

  • Degenhart, A. (2001). „Bedenken, die zu überwinden sind…“ Das neue Medium Film im Spannungsfeld reformpädagogischer Erziehungsziele. Von der Kinoreformbewegung bis zur handlungsorientierten Filmarbeit Adolf Reichweins. München: kopaed.

    Google Scholar 

  • Derbolav, J. (1987). Richard Meisters kulturphilosophische Pädagogik und ihre wissenschaftliche Bedeutung. In: D. Benner (Hrsg.), Impulse europäischer Geistesgeschichte (S. 281–291). Sankt Augustin: Richarz.

    Google Scholar 

  • Dewey, J. (1976). The School and Society (1899). In: The Middle Works. Vol. 1. (S. 1–109). Carbondale/Edwardsville: Southern Illinois University Press.

    Google Scholar 

  • Götze, O. (1911). Jugendpsychologie und Kinematograph. In: Zeitschrift für Kinderforschung, 16, 416–417.

    Google Scholar 

  • Häfker, H. (1913). Kino und Kunst. Mönchengladbach: Volksvereins-Verlag.

    Google Scholar 

  • Hagendorf, H., Krummenacher, J., Müller, H.-J., & Schubert, T. (Hrsg.) (2011). Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Heidelberg: Springer.

    Google Scholar 

  • Hagener, M. (1998). Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand. In: N. Haas, R. Nägele, & H.-J. Rheinberger (Hrsg.), Aufmerksamkeit (S. 273–294). Eggingen: Edition Klaus Isele.

    Google Scholar 

  • Hellwig, A. (1914). Kind und Kino. Langensalza: Hermann Beyer.

    Google Scholar 

  • Herbart, J. F. (1873). Pestalozzi‘s Idee eines ABC der Anschauung (1802). In: Willmann, Otto (Hrsg.), Johann Friedrich Herbart‘s Pädagogische Schriften. Bd. 1 (S. 109–224). Leipzig: Leopold Voss.

    Google Scholar 

  • Imai, Y. (1994). Film und Pädagogik in Deutschland 1912-1915. Eine Analyse der Zeitschrift „Bild und Film“. In: Bildung und Erziehung, 47 (1), 87–106.

    Google Scholar 

  • Itard, J. (1994). Victor de l‘Aveyron. Paris: Éditions Allia.

    Google Scholar 

  • Krüger, J. (1923). Die Filmschule. In: Der Bildwart, 1 (2), 81–82.

    Google Scholar 

  • Lampe, F. (1924). Der Film in Schule und Leben. Berlin: G.S. Mittler.

    Google Scholar 

  • Meister, R. (1925). Zur gegenwärtigen Lage des Schulfilmproblems. In: Der Bildwart, 3 (10), 720–724.

    Google Scholar 

  • Meister, R. (1926). Der Unterrichtsfilm, seine Didaktik und Methodik. In: J. L. Bergstein, H. Fuchsig, & A. Hübl (Hrsg.), Die Wiener Bildwoche (S. 59–79). Wien: Österreichischer Bildspielbund.

    Google Scholar 

  • Montessori, M. (1909). Il Metodo della pedagogia scientifica applicato all’educazione infantile nelle Case dei Bambini. Roma: Max Bretschneider.

    Google Scholar 

  • Neumann, O. (1971). Aufmerksamkeit. In: J. Ritter et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1 (S. 635–646). Basel/Stuttgart: Schwabe.

    Google Scholar 

  • Pander, H. (1927). 45 mathematische Filme. In: Der Bildwart, 5 (12), 833–839.

    Google Scholar 

  • Paschen, J. (1983). AV-Medien für die Bildung. Eine illustrierte Geschichte der Bildstellen und des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht. Grünwald: Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht.

    Google Scholar 

  • Prondczynsky, A. von (2007). „Zerstreutheit vs. Aufmerksamkeit“: historische Rekonstruktion eines spannungsvollen Verhältnisses. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung, 13, 115–137.

    Google Scholar 

  • Pylyshyn, Z.W. (2011). Things and Places. How the Mind Connects with the World. Cambridge: MIT Press.

    Google Scholar 

  • Reiche, E. (1923). Filmschule oder Arbeitsschule? In: Der Bildwart, 1 (6/7), 185–188.

    Google Scholar 

  • Ruprecht, H. (1959). Die Phasenentwicklung der Schulfilmbewegung in Deutschland. München: Diss.

    Google Scholar 

  • Sellmann, A. (1912). Der Kinematograph als Volkserzieher? Langensalza: Hermann Beyer.

    Google Scholar 

  • Thums, B. (2008). Aufmerksamkeit: Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München: Wilhelm Fink.

    Google Scholar 

  • Tomasello, M. (1999). The Cultural Origin of Human Cognition. Cambridge/M.A.: Cambridge University Press.

    Google Scholar 

  • Waldenfels, B. (2004). Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Editor information

Editors and Affiliations

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2020 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature

About this chapter

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this chapter

Imai, Y. (2020). Technik, Aufmerksamkeit und Emotion. In: Bilstein, J., Winzen, M., Zirfas, J. (eds) Pädagogische Anthropologie der Technik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11683-5_8

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-11683-5_8

  • Published:

  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-11682-8

  • Online ISBN: 978-3-658-11683-5

  • eBook Packages: Education and Social Work (German Language)

Publish with us

Policies and ethics